.

 

 

 

 

 

 

 

NIN-PAGES

Interviews

Album

Live

Gesamt-Übersicht

Jahr 1992

 

Musikexpress Special -

 

Das Jahrbuch 1993

 

 

Die Programmierer von Morgen

 

Autor: Martina Wimmer

There's no business like… 1992 war das Jahr der Nirvanas, trendgerecht trug man Flanellhemden am Leib und Joints zwischen den Zähnen. 1992 war auch das Jahr des Techno-Tanzes, Massenvergnügungen für Freizeitsüchtige in Tarnfarben mit dem von bunten Pillen getrübten Blick hinter zweckentfremdeten Schweißerbrillen. Es war einmal - das Markenzeichen "Seattle" ist für aufstrebende Gitarrenbands mittlerweile eher Karriere-Hemmschuh als Werbefaktor und Tekkno der ersten Stunde ist zum Mainstream-Mampf für gelangweilte Mittelklasse-Kids verkommen. Man muss kein Zukunftsforscher sein, um zu prophezeien: Der gierige Schlund des Musikgeschäfts, Vermarkter und Konsumenten gleichermaßen, verlangt nach "the next big thing". Einen Namen hat es schon: "Industrial".

 "Es gibt wahrscheinlich heute schon eine Menge Leute, die nur auf Nine Inch Nails stehen, weil wir der nächste coole Trend sein könnten." Trent Reznor ist der Kopf des Projekts, das tatsächlich in der nahen Zukunft Galionsfigur einer industriellen Musikrevolution sein könnte, die Hardcore-Köpfe mit Tanzbeinen vereint. Unbeachtet von "Rolling Stone" und MTV hat die Ein-Mann-Band Nine Inch Nails, die Reznor nur für Live-Auftritte mit Musikern aus Fleisch und Blut belebt, eine halbe Million Exemplare des Debuts "Pretty Hate Machine" verkauft. Bereits 1989 in den USA erschienen, wurde das Werk 1991 in Europa veröffentlicht. 

In der Heimat hatte sich Reznors Formation zu diesem Zeitpunkt schon einen Platz im Programm des von ex-Jane's Addiction-Perry Farrell ins Leben gerufenen größten alternativen Musikspektakels der Staaten, der Lollapalooza-Tour, erarbeitet. Mit Computermusik wohlgemerkt, die so gar nicht ins Umfeld der dort vertretenen Rock'n'Roll-Subkultur von Living Colour bis zur Rollings Band passen wollte. "Mit ihrem unverfälschten und völlig zügellosen Rock'n'Roll-Futurismus, spielten NIN jeden anderen Act des Festivals an die Wand, einschließlich der Headliner Jane's Addiction. Ältere Zuhörer stammelten ehrfurchtsvolle Vergleiche mit den Stooges oder frühen Who - alle unter dreißig bemerkten schlicht, dass hier die Post abging." Im März 1992 erinnerte sich das amerikanische Musikmagazin SPIN mit der Nase im richtigen Wind im Rahmen einer Titelgeschichte an das Konzertereignis, und der Schreiber bekannte offen, bis zu jenem Tag im Sommer 1991, Maschinenmusik für eine der unseligsten Erfindungen des 20. Jahrhunderts gehalten zu haben. "Wird Industrial zum Heavy Metal der Neunziger?" orakelte er weiter, und traf damit den empfindlichsten Nerv des Masterminds Trent Reznor: "Industrial ist ein völlig aufgeweichter Begriff. Er wurde geprägt von Bands wie Throbbing Gristle oder Test Department, rein experimentelle elektronische Kunstmusik, die mit Nine Inch Nails nicht das Geringste zu tun hat."

 Doch auch wenn er den neuen Trend so offensichtlich nicht beim Namen nennen will, wird Trent Reznor sich der Bürde des aufkeimenden Erfolgs nicht entziehen können. Kollegen und Gesinnungsgenossen wie Ministry durften vergangenes Jahr Chartplatzierungen und ausverkaufte Hallen feiern. Trent Reznors Nine Inch Nails, innerhalb der harten Industrial-Szene seit jeher als poppigste Version destruktiver Computerklänge gehandelt, scheinen wie geschaffen dafür, die richtigen Schaltstellen im Hirn der Masse zu aktivieren. Auch wenn der Meister massiv dagegen hält. Im Herbst 1992 veröffentlichte er nach langer Pause eine EP. "Broken" ist, wie er selber fast zufrieden feststellt, "eine ausgesprochen hässliche, unerträgliche Platte", die die Klänge des Debut-Werks vergleichsweise tatsächlich in Depeche-Mode-Nähe rückt. Und in Amerika trotzdem auf Anhieb den Sprung in die Top Ten schaffte.

 Sein eigener Anspruch ist dafür die beste Erklärung: "Ich will keine Platten über die "schöne" Welt da draußen machen. Und ich glaube, ich bin nicht der einzige Mensch, der sich hier und heute schlecht fühlt." Seine Zukunftsperspektive: "Früher war ich der Meinung, alles ist am Ende - außer ich selbst. Doch was passiert, wenn man nicht mal mehr den Glauben an sich selbst hat? Du hast dich aufgegeben, und damit überhaupt keinen sicheren Grund mehr unter den Füßen. Das ist eine völlig neue Perspektive. Und das wird das Thema meiner nächsten Platte sein. Es ist ein Experiment, und seit ich daran arbeite, bemerke ich, wie ich mich mehr und mehr selber damit identifiziere. Es macht mich fertig, und danach fühle ich mich sicher nur noch schlecht. Den Zuhörern wird es dabei kaum anders gehen."

 "The next big thing"? Die Chancen sind gut, in Zeiten wie diesen.

 Martina Wimmer

oben