There's no business like… 1992 war das Jahr der Nirvanas,
trendgerecht trug man Flanellhemden am Leib und Joints zwischen den Zähnen. 1992
war auch das Jahr des Techno-Tanzes, Massenvergnügungen für Freizeitsüchtige in
Tarnfarben mit dem von bunten Pillen getrübten Blick hinter zweckentfremdeten
Schweißerbrillen. Es war einmal - das Markenzeichen "Seattle" ist für
aufstrebende Gitarrenbands mittlerweile eher Karriere-Hemmschuh als Werbefaktor
und Tekkno der ersten Stunde ist zum Mainstream-Mampf für gelangweilte
Mittelklasse-Kids verkommen. Man muss kein Zukunftsforscher sein, um zu
prophezeien: Der gierige Schlund des Musikgeschäfts, Vermarkter und Konsumenten
gleichermaßen, verlangt nach "the next big thing". Einen Namen hat es schon:
"Industrial".
"Es gibt wahrscheinlich heute schon eine Menge Leute, die nur
auf Nine Inch Nails stehen, weil wir der nächste coole Trend sein könnten."
Trent Reznor ist der Kopf des Projekts, das tatsächlich in der nahen Zukunft
Galionsfigur einer industriellen Musikrevolution sein könnte, die Hardcore-Köpfe
mit Tanzbeinen vereint. Unbeachtet von "Rolling Stone" und MTV hat die
Ein-Mann-Band Nine Inch Nails, die Reznor nur für Live-Auftritte mit Musikern
aus Fleisch und Blut belebt, eine halbe Million Exemplare des Debuts "Pretty
Hate Machine" verkauft. Bereits 1989 in den USA erschienen, wurde das Werk 1991
in Europa veröffentlicht.
In der Heimat hatte sich Reznors Formation zu diesem
Zeitpunkt schon einen Platz im Programm des von ex-Jane's Addiction-Perry
Farrell ins Leben gerufenen größten alternativen Musikspektakels der Staaten,
der Lollapalooza-Tour, erarbeitet. Mit Computermusik wohlgemerkt, die so gar
nicht ins Umfeld der dort vertretenen Rock'n'Roll-Subkultur von Living Colour
bis zur Rollings Band passen wollte. "Mit ihrem unverfälschten und völlig
zügellosen Rock'n'Roll-Futurismus, spielten NIN jeden anderen Act des Festivals
an die Wand, einschließlich der Headliner Jane's Addiction. Ältere Zuhörer
stammelten ehrfurchtsvolle Vergleiche mit den Stooges oder frühen Who - alle
unter dreißig bemerkten schlicht, dass hier die Post abging." Im März 1992
erinnerte sich das amerikanische Musikmagazin SPIN mit der Nase im richtigen
Wind im Rahmen einer Titelgeschichte an das Konzertereignis, und der Schreiber
bekannte offen, bis zu jenem Tag im Sommer 1991, Maschinenmusik für eine der
unseligsten Erfindungen des 20. Jahrhunderts gehalten zu haben. "Wird Industrial
zum Heavy Metal der Neunziger?" orakelte er weiter, und traf damit den
empfindlichsten Nerv des Masterminds Trent Reznor: "Industrial ist ein völlig
aufgeweichter Begriff. Er wurde geprägt von Bands wie Throbbing Gristle oder
Test Department, rein experimentelle elektronische Kunstmusik, die mit Nine Inch
Nails nicht das Geringste zu tun hat."
Doch auch wenn er den neuen Trend so offensichtlich nicht
beim Namen nennen will, wird Trent Reznor sich der Bürde des aufkeimenden
Erfolgs nicht entziehen können. Kollegen und Gesinnungsgenossen wie Ministry
durften vergangenes Jahr Chartplatzierungen und ausverkaufte Hallen feiern.
Trent Reznors Nine Inch Nails, innerhalb der harten Industrial-Szene seit jeher
als poppigste Version destruktiver Computerklänge gehandelt, scheinen wie
geschaffen dafür, die richtigen Schaltstellen im Hirn der Masse zu aktivieren.
Auch wenn der Meister massiv dagegen hält. Im Herbst 1992 veröffentlichte er
nach langer Pause eine EP. "Broken" ist, wie er selber fast zufrieden
feststellt, "eine ausgesprochen hässliche, unerträgliche Platte", die die Klänge
des Debut-Werks vergleichsweise tatsächlich in Depeche-Mode-Nähe rückt. Und in
Amerika trotzdem auf Anhieb den Sprung in die Top Ten schaffte.
Sein eigener Anspruch ist dafür die beste Erklärung: "Ich
will keine Platten über die "schöne" Welt da draußen machen. Und ich glaube, ich
bin nicht der einzige Mensch, der sich hier und heute schlecht fühlt." Seine
Zukunftsperspektive: "Früher war ich der Meinung, alles ist am Ende - außer ich
selbst. Doch was passiert, wenn man nicht mal mehr den Glauben an sich selbst
hat? Du hast dich aufgegeben, und damit überhaupt keinen sicheren Grund mehr
unter den Füßen. Das ist eine völlig neue Perspektive. Und das wird das Thema
meiner nächsten Platte sein. Es ist ein Experiment, und seit ich daran arbeite,
bemerke ich, wie ich mich mehr und mehr selber damit identifiziere. Es macht
mich fertig, und danach fühle ich mich sicher nur noch schlecht. Den Zuhörern
wird es dabei kaum anders gehen."
"The next big thing"? Die Chancen sind gut, in Zeiten wie
diesen.
Martina Wimmer
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