Nine Inch Nails
Die Verrohung der Gesellschaft ist das Thema, die zunehmende
Kriminalität, das geradezu explodierende Gewaltpotential in den kranken
Gesellschaften der westlichen Kulturen. Die Welt zerfällt zunehmend in ein
-Zweiklassen-System: auf der einen Seite die Privilegierten, diejenigen, die
Arbeit haben, Essen, Autos, Luxus und Wohlstand in seiner ganzen Palette. Auf
der Gegenseite der (sogenannte) Abschaum der (selbstgerechten) Gesellschaft:
Individuen ohne Jobs, ohne menschenwürdige Versorgung, ohne Perspektive, ohne
Hoffnung, ohne… alles!
Amerikas Metropolen sind wie kein zweiter Ort auf diesem
Planeten der Schmelztiegel aller sozialen Missstände, hier regieren
gleichermaßen unvorstellbare Prosperität und abgrundtiefes menschliches Elend.
Menschen begegnen sich auf offener Straße, deren privaten Perspektive nicht
gegensätzlicher, deren Gedanken nicht extremer auseinanderliegen könnten. Das
Sicherheitsdenken der Begüterten und die Sorge um den Schutz des eigenen
Wohlstand beißen sich geradezu auf groteske Weise mit dem Hass der
Unterprivilegierten und deren - teilweise sprichwörtlichen - Lebenshunger.
Dieser Konflikt ist die Nährlösung, aus der das Gewaltpotential entsteht, das
sich im alltäglichen Grabenkampf auf den Straßen New Yorks, Los Angeles, San
Franziskos Luft macht und dann fast schon zwangsläufig in Plünderungen ganzer
Stadtteile eskaliert. Politiker stehen machtlos vor den Scherbenhaufen, haben
weder Lösungsmodelle im Kopf, noch Lust im Bauch, Grundsätzliches zu ändern.
Karrieredenken, verhindert die Beseitigung der Missstände.
Zeitgemäße Musik ist stets ein Spiegelbild der Gesellschaft,
jede Epoche hat ihre eigenen stilistischen Eigenheiten. Wohl gerade deswegen die
Musik von Nine Inch Nails, aka Trent Reznor genauso gewalttätig wie diese
Epoche, ebenso gnadenlos und brachial wie das Großstadtflair der Neunziger. Und
in eben solchem Maße, wie in den vergangenen fünf Jahren die sozialen
Brennpunkte sich weiter verschärft haben, die Brutalität rigoroser und sinnloser
zugleich geworden ist, hat sich auch das musikalische Konzept von Nine Inch
Nails seit ihrem vielumjubelten "Pretty Hate Machine" Debüt weiter
verdüstert.
Die 94er Portion rüder Sequenzer-Klänge und maroder
Metallsounds heißt "The Downward Spiral" und zeigt noch rücksichtloser die
technophilen Neigungen von Mastermind Trent Reznor.
"Ich habe bewusst jegliches Liebäugeln mit einer Top 40
Single vermieden. Der Sound des neuen Albums ist ungleich härter als die Sachen,
die ich vorher gemacht habe. Damit werde ich kommerziell sicher weniger
erfolgreich sein, aber das ist für mich kein künstlerisches Kriterium. Mich
langweilen die traditionellen Arrangements in der populären Musik, immer nur
Intro - Strophe - Erster Chorus - Strophe - Zweiter Chorus - Brücke - usw… Nine
Inch Nails soll grundsätzlich untypisch klingen, untypisch für traditionelle
Musik allgemein, aber auch untypisch zu den eigenen vorherigen Alben. Es treffen
auf der neuen Platte mehrere unterschiedliche Richtungen zusammen und vereinen
sich zu einem großen Opus. Es ist keine Ansammlung von einzelnen Liedern, sonder
ein Gesamtwerk. 90% auf "The Downward Spiral" stammen aus dem Computer, und auch
wenn man bei meinen Sounds nicht von "organisch" im eigentlichen Sinne sprechen
kann, so sollen die Sachen dennoch organischer klingen, als "Broken"
beispielsweise."
Das angesprochene Mini-Album "Broken" aus dem Spätherbst 1992
zeigte bereits starke Ansätze, dass Reznor die Schnittstelle zwischen
Industrial-Pop und Hardcore-Techno eindeutig in Richtung rauerer Gangart
verschieben will. Seine persönliche Intentionen für ein derart gnadenloses
musikalisches Statement lagen seinerzeit sicherlich in dem Rechtstreit mit NIN's
Plattenfirma TVT, von denen sich Reznor gegängelt fühlte und die mit ihrer
bürokratischen Verwaltung seiner exzentrischen Kopfgeburten die Geduld des
Meisters an die Grenzen der Belastbarkeit führten. Bei Reznor setzte irgendwann
ungezügelte Wut und eine nahezu destruktive Kreativität frei.
""Broken" war meine Antwort auf die persönlichen Erfahrungen
mit dem Business, die Reaktion auf die Tourneen. Es war mir egal, ob ich dadurch
Fans verärgere oder verliere. Man weiß ja sowieso nie, ob man überhaupt welche
hat. TVT lähmten meine Kreativität bis zur Unerträglichkeit, außerdem wurden
nahezu alle meine Ideen mit einem lapidaren "No" begutachtet. "Broken" war die
Befreiung, das Album die Dokumentation meiner Wut."
Diese Verbitterung scheint verflogen, seit dem 93er
"Broken-Remix" Mini-Album "Fixed" hat Nine Inch Nails einen neuen
Vertragspartner. Renzors persönliche Schwierigkeiten mit seinem Umfeld sind
dagegen aktuell wie eh und je. Der 28jährige ist ein Einzelkämpfer, ein
notorischer Grübler, einer der den täglichen Kampf ums Überleben in erste Linie
mit sich selber austrägt. Vorschriften verabscheut er, "Konventionen" ist sein
liebstes Haßwort. Wo andernorts die Szene eher dichter zusammenrückt und
beispielsweise das Umfeld von "Pigface", jenes von Martin Atkins ins Leben
gerufene Projekt, in dem Reznor anfangs involviert war, sich in der Folgezeit
personell vergrößerte, zog Reznor eigensinnig von New Orleans nach Los Angeles.
Dort kaufte er das ehemalige Anwesen von Charles Manson, dessen Keller 1969 die
hochschwangere Schauspielerin Sharon Tate und vier ihrer Gäste auf bestialische
Art und Weise umgebracht wurden. Reznor will dieses anfangs nicht gewusst haben,
scheut sich aber ebenso wenig - jetzt im Bewusstsein dieser Greueltaten - in
gerade dieser Mördersuite Teile von "Downward Spiral" aufzunehmen. Der Ort nennt
sich "Le Pig" - das Schwein, Reznor streut gleich in zwei seiner neuen Songs
Querverweise zu diesem Raum.
Sowohl "Piggy" als auch "March Of The Pigs" dokumentieren
seine notorische Eigenwilligkeit, dickköpfig haucht er "nothing can stop me now,
I don't care anymore, nothing can stop me now, I don't care anymore". Sein
ganzes Lebensleid wird deutlich, wenn er , allerdings ohne Bedauern, die
eigenen Unzulänglichkeiten analysiert.
"Ich kann nicht sehr gut mit Menschen klarkommen, ich habe
große Schwierigkeiten im Umgang mit anderen. Und davon handeln auch meine
textlichen Botschaften auf dem neuen Album. Es geht um ganz private Gedanken, um
meine Individuelle Entwicklung. Ich entdecke mich gerade erst selber, versuch zu
verstehen, was in mir abläuft. The Clash hatten immer starke politische
Aussagen, bei mir dagegen geht's um internal politics, um Drogen, Sex." Seine
Vorbilder kommen aus der europäischen Industrial-Szene, Reznor führt als seine
wichtigsten Einflüsse die Einstürzenden Neubauten, Ministry, Front 242, Test
Department und Coil an, nahezu samt und sonders europäische Projekte.
"Die Europäer sind offener für unterschiedliche
Stilrichtungen", versucht er eine Standortanalyse. "In Amerika zählen nur
Gitarre und Schlagzeug, ansonsten gilt man hier nicht als vollwertige Band. Ich
habe anfangs gar nicht gemerkt, das meine musikalischen Einflüsse überwiegend
aus Europa stammen. Erst als ich begann, einen Produzenten für Nine Inch Nails
zu suchen, merkte ich, dass alle meine erklärten Favoriten für diesen Job bei
englischen Produktionen zu finden waren. Im Moment entdecke ich verstärkt
Alben, die ich offensichtlich in meiner Jugend verpasst habe. David Bowie, Lou
Reed, oder Soft Cell - wieder überwiegend Europäer."
Einer seiner erklärten Favoriten ist ihm treu geblieben. Wie
schon bei "Broken" kollaborierte Reznor auch auf seinem neusten Machwerk wieder
mit Produzent Flood, der mit seiner feinfühligen Ader für geschmacksvolle
Kompromisse zwischen grabeskühlen Computer-animationen und kalorienarmen
Pop-Plattitüden bereits U2 und vor allem Depeche Mode auf die Beine half.
Offenbar hat Reznor aber mehr denn je die Zügel in eigener Hand behalten,
Anflüge von kommerzieller Zugänglichkeit finden sich auf "Downward Spoiral" nur
vereinzelt und augenscheinlich eher widerwillig. Der hammerharte Punch regiert,
brachiale Gitarrenriffs wechseln sich ab mit Reznors mal nasalem, dann wieder
klarem Sprechgesang, atemlose Rhythmusgewitter paaren sich mit lärmenden
Überschlagsarien. Nicht selten stürzt das Sound-Konglomerat in ein
alptraumartiges Horrorszenario ab, reißt einen NIN geradezu brutal in physische
und psychische Schmerzen. Der Digital-Metal-Sumpf sei in seiner Dynamik und
Dichte noch nichts so weit, wie die Madman-Mafia Ministry, attestieren noch
Anfang ´93 einschlägige Medien dem Elektroschock-Crossover NIN's. Derartige
Einschätzungen sind lange überholt, Reznor bürstet seine Techno-Visionen
planvoll und ungehobelt in einer solchen Authentizität, die den
Ministry-Großtaten in nichts nachstehen. "The Downward Spiral" ist streckenweise
der akustische Hollocaust, packend und intensiv, in gleichem Maße abstoßend und
faszinierend. Die suburbane Handschrift Reznors ist allgegenwärtig, die
Zuhilfenahme von Gastmusikern nur punktuell zu erahnen. "Ich habe wieder mit
Adrian Belew und mit Stephan Perkins (Jane's Addiction, Porno For Pyros)
gearbeitet. Mit Stephan war es allerdings keine richtige Zusammenarbeit, ich
habe die eingespielten Drum-Parts hinterher alleine zusammengeschnitten,
Reihenfolgen verändert, Arrangements umgestellt. Von Adrian halte ich sehr viel,
er ist ein großartiger Musiker und ein freundlicher Typ. Speziell durch die
Zusammenarbeit mit ihm denke ich darüber nach, in Zukunft Musiker in einem
früheren Stadium des Produzierens mit hinzuzuziehen. Das würde vielleicht auch
die Schwierigkeit erleichtern, mich für eine Tour von einem Ein-Mann-Projekt zu
einer Vier-Mann Band vergrößern zu müssen. Denn ich stehe jedes Mal vor der
Frage, welche Songs funktionieren live, welche nicht. Eigentlich ist es mir
egal, ob die Songs auf der Bühne so klingen, wie auf dem Album. Aber es gibt
halt Nummern, die laufen live überhaupt nicht, bei denen ist man gut beraten,
sie wegzulassen."
Gebranntes Kind scheut das Feuer, Nine Inch Nails wagten 1991
das geradezu Harakiri-Unterfangen, einige europäische Shows der Guns ´N' Roses
(u.a. Maimarkt-Gelände Mannheim, Wembley Stadion London) zu eröffnen. Zwei
Welten prallten seinerzeit aufeinander. Hier traditioneller Popmetal für
pubertierende Möchtergern-Hadbanger, die mehr über Slash's geiler Mähne quieken
als über dessen uninspiriertes Gitarrengeschrammel in der - vermutlich
unterentwickelten - Leistengegend, dort härtester Industrial-Crossover. NIN
wagten sich schwerpunktmäßig mit Synthesizern auf die Bühne, wurden zum Teufel
gewünscht und vom Podium gejagt. Heute grinst Reznor darüber und versteht, dass
dieses Package nicht passen konnte. Seitdem sind drei ereignisreiche Jahre ins
Land gegangen, mittlerweile ist mehr als fraglich, ob NIN mit ihrer wütenden
Hardcore-Philosophie eventuell die wahre Zukunft des Metals darstellen und Slash
´n' Roses nicht bereits schon lange dessen Anachronismus.
Martin Bergmann