.

 

 

 

 

 

 

 

NIN-PAGES

Interviews

Album

Live

Gesamt-Übersicht

Jahr 1994

 

Zillo

 

Mai 1994

 

Nine Inch Nails

 

Autor: Martin Bergmann

 

 

 

 Nine Inch Nails

 Die Verrohung der Gesellschaft ist das Thema, die zunehmende Kriminalität, das geradezu explodierende Gewaltpotential in den kranken Gesellschaften der westlichen Kulturen. Die Welt zerfällt zunehmend in ein -Zweiklassen-System: auf der einen Seite die Privilegierten, diejenigen, die Arbeit haben, Essen, Autos, Luxus und Wohlstand in seiner ganzen Palette. Auf der Gegenseite der (sogenannte) Abschaum der (selbstgerechten) Gesellschaft: Individuen ohne Jobs, ohne menschenwürdige Versorgung, ohne Perspektive, ohne Hoffnung, ohne… alles!

Amerikas Metropolen sind wie kein zweiter Ort auf diesem Planeten der Schmelztiegel aller sozialen Missstände, hier regieren gleichermaßen unvorstellbare Prosperität und abgrundtiefes menschliches Elend. Menschen begegnen sich auf offener Straße, deren privaten Perspektive nicht gegensätzlicher, deren Gedanken nicht extremer auseinanderliegen könnten. Das Sicherheitsdenken der Begüterten und die Sorge um den Schutz des eigenen Wohlstand beißen sich geradezu auf groteske Weise mit dem Hass der Unterprivilegierten  und deren  - teilweise sprichwörtlichen - Lebenshunger. Dieser Konflikt ist die Nährlösung, aus der das Gewaltpotential entsteht, das sich im alltäglichen Grabenkampf auf den Straßen New Yorks, Los Angeles, San Franziskos Luft macht und dann fast schon zwangsläufig in Plünderungen ganzer Stadtteile eskaliert. Politiker stehen machtlos vor den Scherbenhaufen, haben weder Lösungsmodelle im Kopf, noch Lust im Bauch, Grundsätzliches zu ändern. Karrieredenken, verhindert die Beseitigung der Missstände.

 Zeitgemäße Musik ist stets ein Spiegelbild der Gesellschaft, jede Epoche hat ihre eigenen stilistischen Eigenheiten. Wohl gerade deswegen die Musik von Nine Inch Nails, aka Trent Reznor genauso gewalttätig wie diese Epoche, ebenso gnadenlos und brachial wie das Großstadtflair der Neunziger. Und in eben solchem Maße, wie in den vergangenen fünf Jahren die sozialen Brennpunkte sich weiter verschärft haben, die Brutalität rigoroser und sinnloser zugleich geworden ist, hat sich auch das musikalische Konzept von Nine Inch Nails seit ihrem vielumjubelten "Pretty Hate Machine" Debüt weiter verdüstert.

 Die 94er Portion rüder Sequenzer-Klänge und maroder Metallsounds heißt "The Downward Spiral" und zeigt noch rücksichtloser die technophilen Neigungen von Mastermind Trent Reznor.

 "Ich habe bewusst jegliches Liebäugeln mit einer Top 40 Single vermieden. Der Sound des neuen Albums ist ungleich härter als die Sachen, die ich vorher gemacht habe. Damit werde ich kommerziell sicher weniger erfolgreich sein, aber das ist für mich kein künstlerisches Kriterium. Mich langweilen die traditionellen Arrangements in der populären Musik, immer nur Intro - Strophe - Erster Chorus - Strophe - Zweiter Chorus - Brücke - usw… Nine Inch Nails  soll grundsätzlich untypisch klingen, untypisch für traditionelle Musik allgemein, aber auch untypisch zu den eigenen vorherigen Alben. Es treffen auf der neuen Platte mehrere unterschiedliche Richtungen zusammen und vereinen sich zu einem großen Opus. Es ist keine Ansammlung von einzelnen Liedern, sonder ein Gesamtwerk. 90% auf "The Downward Spiral" stammen aus dem Computer, und auch wenn man bei meinen Sounds nicht von "organisch" im eigentlichen Sinne sprechen kann, so sollen die Sachen dennoch organischer klingen, als "Broken" beispielsweise."

Das angesprochene Mini-Album "Broken" aus dem Spätherbst 1992 zeigte bereits starke Ansätze, dass Reznor die Schnittstelle zwischen Industrial-Pop und Hardcore-Techno eindeutig in Richtung rauerer Gangart verschieben will. Seine persönliche Intentionen für ein derart gnadenloses musikalisches Statement lagen seinerzeit sicherlich in dem Rechtstreit mit NIN's Plattenfirma TVT, von denen sich Reznor gegängelt fühlte und die mit ihrer bürokratischen Verwaltung seiner exzentrischen Kopfgeburten die Geduld des Meisters an die Grenzen der Belastbarkeit führten. Bei Reznor setzte irgendwann ungezügelte Wut und eine nahezu destruktive Kreativität frei.

 ""Broken" war meine Antwort auf die persönlichen Erfahrungen mit dem Business, die Reaktion auf die Tourneen. Es war mir egal, ob ich dadurch Fans verärgere oder verliere. Man weiß ja sowieso nie, ob man überhaupt welche hat. TVT lähmten meine Kreativität bis zur Unerträglichkeit, außerdem wurden nahezu alle meine Ideen mit einem lapidaren "No" begutachtet. "Broken" war die Befreiung, das Album die Dokumentation meiner Wut."

 Diese Verbitterung scheint verflogen, seit dem 93er "Broken-Remix" Mini-Album "Fixed" hat Nine Inch Nails einen neuen Vertragspartner. Renzors persönliche Schwierigkeiten mit seinem Umfeld sind dagegen aktuell wie eh und je. Der 28jährige ist ein Einzelkämpfer, ein notorischer Grübler, einer der den täglichen Kampf ums Überleben in erste Linie mit sich selber austrägt. Vorschriften verabscheut er, "Konventionen" ist sein liebstes Haßwort. Wo andernorts die Szene eher dichter zusammenrückt und beispielsweise das Umfeld von "Pigface", jenes von Martin Atkins ins Leben gerufene Projekt, in dem Reznor anfangs involviert war, sich in der Folgezeit personell vergrößerte, zog Reznor eigensinnig von New Orleans nach Los Angeles. Dort kaufte er das ehemalige Anwesen  von Charles Manson, dessen Keller 1969 die hochschwangere Schauspielerin Sharon Tate und vier ihrer Gäste auf bestialische Art und Weise umgebracht wurden. Reznor will dieses anfangs nicht gewusst haben, scheut sich aber ebenso wenig - jetzt im Bewusstsein dieser Greueltaten - in gerade dieser Mördersuite Teile von "Downward Spiral" aufzunehmen. Der Ort nennt sich "Le Pig" - das Schwein, Reznor streut gleich in zwei seiner neuen Songs Querverweise zu diesem Raum.

 Sowohl "Piggy" als auch "March Of The Pigs" dokumentieren seine notorische Eigenwilligkeit, dickköpfig haucht er "nothing can stop me now, I don't care anymore, nothing can stop me now, I don't care anymore". Sein ganzes Lebensleid wird deutlich, wenn er , allerdings  ohne Bedauern, die eigenen Unzulänglichkeiten analysiert.

 "Ich kann nicht sehr gut mit Menschen klarkommen, ich habe große Schwierigkeiten im Umgang mit anderen. Und davon handeln auch meine textlichen Botschaften auf dem neuen Album. Es geht um ganz private Gedanken, um meine Individuelle Entwicklung. Ich entdecke mich gerade erst selber, versuch zu verstehen, was in mir abläuft. The Clash hatten immer starke politische Aussagen, bei mir dagegen geht's um internal politics, um Drogen, Sex." Seine Vorbilder kommen aus der europäischen Industrial-Szene, Reznor führt als seine wichtigsten Einflüsse die Einstürzenden Neubauten, Ministry, Front 242, Test Department und Coil an, nahezu samt und sonders europäische Projekte.

 "Die Europäer sind offener für unterschiedliche Stilrichtungen", versucht er eine Standortanalyse. "In Amerika zählen nur Gitarre und Schlagzeug, ansonsten gilt man hier nicht als vollwertige Band. Ich habe anfangs gar nicht gemerkt, das meine musikalischen Einflüsse überwiegend aus Europa stammen. Erst als ich begann, einen Produzenten für Nine Inch Nails zu suchen, merkte ich, dass alle meine erklärten Favoriten für diesen Job bei englischen Produktionen zu finden waren. Im Moment entdecke ich verstärkt  Alben, die ich offensichtlich in meiner Jugend verpasst habe. David Bowie, Lou Reed, oder Soft Cell - wieder überwiegend Europäer."

 Einer seiner erklärten Favoriten ist ihm treu geblieben. Wie schon bei "Broken" kollaborierte Reznor auch auf seinem neusten Machwerk wieder mit Produzent Flood, der mit seiner feinfühligen Ader für geschmacksvolle Kompromisse zwischen grabeskühlen Computer-animationen und kalorienarmen Pop-Plattitüden bereits U2 und vor allem Depeche Mode auf die Beine half. Offenbar hat Reznor aber mehr denn je die Zügel in eigener Hand behalten, Anflüge von kommerzieller Zugänglichkeit finden sich auf "Downward Spoiral" nur vereinzelt und augenscheinlich eher widerwillig. Der hammerharte Punch regiert, brachiale Gitarrenriffs wechseln sich ab mit Reznors mal nasalem, dann wieder klarem Sprechgesang, atemlose Rhythmusgewitter paaren sich mit lärmenden Überschlagsarien. Nicht selten stürzt das Sound-Konglomerat in ein alptraumartiges Horrorszenario ab, reißt einen NIN geradezu brutal in physische und psychische Schmerzen. Der Digital-Metal-Sumpf sei in seiner Dynamik und Dichte noch nichts so weit, wie die Madman-Mafia Ministry, attestieren noch Anfang ´93 einschlägige Medien dem Elektroschock-Crossover NIN's. Derartige Einschätzungen sind lange überholt, Reznor bürstet seine Techno-Visionen planvoll und ungehobelt in einer solchen Authentizität, die den Ministry-Großtaten in nichts nachstehen. "The Downward Spiral" ist streckenweise der akustische Hollocaust, packend und intensiv, in gleichem Maße abstoßend und faszinierend. Die suburbane Handschrift Reznors ist allgegenwärtig, die Zuhilfenahme von Gastmusikern nur punktuell zu erahnen. "Ich habe wieder mit Adrian Belew und mit Stephan Perkins (Jane's Addiction, Porno For Pyros) gearbeitet. Mit Stephan war es allerdings keine richtige Zusammenarbeit, ich habe die eingespielten Drum-Parts hinterher alleine zusammengeschnitten, Reihenfolgen verändert, Arrangements umgestellt. Von Adrian halte ich sehr viel, er ist ein großartiger Musiker und ein freundlicher Typ. Speziell durch die Zusammenarbeit mit ihm denke ich darüber nach, in Zukunft Musiker in einem früheren Stadium des Produzierens mit hinzuzuziehen. Das würde vielleicht auch die Schwierigkeit erleichtern, mich für eine Tour von einem Ein-Mann-Projekt zu einer Vier-Mann Band vergrößern zu müssen. Denn ich stehe jedes Mal vor der Frage, welche Songs funktionieren live, welche nicht. Eigentlich ist es mir egal, ob die Songs auf der Bühne so klingen, wie auf dem Album. Aber es gibt halt Nummern, die laufen live überhaupt nicht, bei denen ist man gut beraten, sie wegzulassen."

 Gebranntes Kind scheut das Feuer, Nine Inch Nails wagten 1991 das geradezu Harakiri-Unterfangen, einige europäische Shows der Guns ´N' Roses (u.a. Maimarkt-Gelände Mannheim, Wembley Stadion London) zu eröffnen. Zwei Welten prallten seinerzeit  aufeinander. Hier traditioneller Popmetal für pubertierende Möchtergern-Hadbanger, die mehr über Slash's geiler Mähne quieken als über dessen uninspiriertes Gitarrengeschrammel in der  - vermutlich unterentwickelten - Leistengegend, dort härtester Industrial-Crossover. NIN  wagten sich schwerpunktmäßig mit Synthesizern auf die Bühne, wurden zum Teufel gewünscht und vom Podium gejagt. Heute grinst Reznor darüber und versteht, dass dieses Package nicht passen konnte. Seitdem sind drei ereignisreiche Jahre ins Land gegangen, mittlerweile ist mehr als fraglich, ob NIN mit ihrer wütenden Hardcore-Philosophie eventuell die wahre Zukunft des Metals darstellen und Slash ´n' Roses nicht bereits schon lange dessen Anachronismus.

 Martin Bergmann

oben