Trent Reznor trägt Fischnetzstrümpfe, zelebriert
elektronische Sounds und nimmt mit den NINE INCH NAILS Konzeptalben auf. Völlig
vorbei am Zeitgeist, oder ist es jetzt endgültig da, das Jahr eins nach
Grundge?
Die Frage, ob Trent Reznor ein ´Workaholic' sei, kann man
sich getrost sparen, weiß man um seine zahlreichen Aktivitäten, die vor allem in
der letzten Zeit ein für die meisten Normalsterblichen nicht zu bewältigendes
Ausmaß angenommen haben: die langwierigen Aufnahmen zu THE DOWNWARD SPIRAL, dem
Album, mit dem er in den Staaten mittlerweile über eine Million Einheiten
verkauft hat, das Betreiben seiner eigenen Plattenfirma Nothing Records, die
Produktion des NATURAL BORN KILLERS-Soundtracks und des Nothing-Acts Marilyn
Manson, Nine Inch Nails spektakulärer Auftritt auf dem Woodstock II-Festival und
eine Tour, die im Februar letzten Jahres begann und mit kurzen Unterbrechungen
bis ins Frühjahr 1995 hineingehen wird.
Insofern überrascht es nicht, dass man uns sagt, Reznor sei
ausgepumpt, zu viele Interviews in den letzten Monaten. Eigentlich hatten wir
ihn ja in New York treffen wollen, wo Nine Inch Nails zwei ausverkaufte Konzerte
im Madison Square Garden spielten. Jedoch sei dort erfahrungsgemäß immer so viel
hinter den Kulissen los, dass jeder zusätzliche Aufwand vermieden werden soll.
Von daher befinden wir uns nun im eher provinziellen Baltimore, Maryland. Die
Nine Inch Nails sind zur Zeit auf Tour mit Marilyn Manson und dem Jim Rose
Circus, und während Marilyn Manson sich gerade auf der Bühne abmühen, heißt es
dass Reznor bereit ist, Audienz zu gewähren.
Die Szenerie im Backstageraum der Balitmore Arena ist
geschmacksvoll: Trent Reznor gebadet im blauen Licht, das seine vornehme Blässe
noch vorteilhafter unterstreicht. Trotz seiner Müdigkeit sieht er überraschend
gesund und fit aus. In natura sogar noch besser als man anhand der sorgfältig
ausgeleuchteten Photographien, die von ihm existieren, bereits vermutet hatte.
Mit seinem länglichen Gesicht, den halblangen schwarzen Haaren und den dunklen
Augen, die anrührend melancholisch, aber hellwach in die Welt schauen, ist er
der ideale Posterboy für die nicht mehr ganz so jungen Neunziger: Ewig im Hader
mit der Welt, aber mit dem unbändigen Willen, sich von dieser nicht unterkriegen
zu lassen. Kürzlich wurde er von den Lesern des renommierten US-Magazins ´Spin'
zum Sexsymbol und (zusammen mit Kurt Cobain) zum Künstler des Jahres gewählt,
und Cobains lustige Witwe Courtney Love weiß die Reize des beinahe
dreißigjährigen (geboren am 17. Mai 1965) ebenfalls zu schätzen und wird nicht
müde, ihm hinterherzustellen.
Ein Grund für diese Euphorie könnte sein, dass mit Reznor ein
Künstler ans Licht der Öffentlichkeit getreten ist, der einer Generation, die
bislang als eine völlig orientierungslose dargestellt wurde, neue Konturen zu
geben vermag. In einer Zeit, in der Jugendidole wie Eddie Vedder öffentlich
zugeben, dass sie nicht mal ihre "eigenen Scheißprobleme im Griff" haben,
fasziniert jemand wie Reznor, der sich nichts aus der Hand nehmen lässt und
seine Karriere von Anfang an alleine konstruiert hat, umso mehr. Reznor ist kein
Mann für nachdenkliche ´MTV unplugged'-Sessions, die sich schon rein technisch
niemals mit den Nine Inch Nails verwirklichen lassen würden. Darauf legt er auch
keinen Wert. Er liebt Bombast und Kostümierungen ("Kiss waren damals die
Größten!"), und Nine Inch Nails Bühnenauftritte gleichen viel eher perfekt
inszenierten Theateraufführungen, die geprägt sind von der kontrolliert zur
Schau gestellten Gefühlswelt ihres Hauptdarstellers. Studioaufnahmen und
Songwritig sind in Reznors Fall mehr oder weniger ein Ein-Mann-Projekt, auf der
Bühne hat er mit seinem langjährigen Wegbegleiter Chris Vrenna (dr), Gitarrist
Robin Finck, Bassist Danny Lohner (Ex-Skrew) und Keyboarder James Wolley ein
Line-Up gefunden, das seine Lieder live zu mitunter völlig neuen Gebilden
umzusetzen vermag. Auftritte in Deutschland gab es bislang nur wenige, und diese
standen zu allem Überfluss auch meist noch unter einem schlechten Stern. An
Mannheim, wo die Nine Inch Nails damals im Vorprogramm von Guns N'Roses
auftraten, erinnert Reznor sich Jahre später noch mit Entsetzen: "Die Leute
haben uns einfach gehasst. Ich weiß gar nicht, was sie alles geschmissen haben,
auf jeden Fall waren auch Würstchen dabei…"
Reznor ist bekannt als Perfektionist. Chris Vrenna weiß ein
Lied davon zu singen:
"Wenn beispielsweise etwas mit der PA nicht stimmt, dann
heißt das für ihn, dass sie abgebaut und wieder aufgestellt werden muss, bis es
stimmt. Ganz egal, und wen es die ganze Nacht dauert."
Auf solche Zitate angesprochen zuckt Reznor leicht mit den
Schultern und schaut einen aus großen Augen an, als sein eine solche
Vorgehensweise die natürlichste von der Welt.
"Mein einzigstes Ziel ist es, alles so gut zu machen, wie es
nur eben möglich ist. Von den Leuten, die mit mir arbeiten, erwarte ich die
gleiche Einstellung, und wenn das nicht der Fall ist, was manchmal leider
vorkommt, werde ich zum Arschloch." Er überlegt kurz, dann: "Aber ich bin bei
weitem nicht so schrecklich, wie es vielleicht manchmal den Anschein hat."
In akribischer Kleinstarbeit entstand innerhalb eines Jahres
sein letztes Album, THE DOWNWARD SPRAL, das in eben jenem berühmten Haus
aufgenommen wurde, in dem vor mehr als 25 Jahren die Schauspielerin Sharon Tate
und ihre Gäste von Anhängern der Manson Family ermordet wurden (s.a. MH 12/94).
Ein Thema , über das Reznor gar nicht mehr gerne spricht. Jedoch, selbst wenn es
ein guter Publicitygag gewesen sein mag, hätte die Platte einen solchen sicher
nicht nötig gehabt. Reznor hat dort am Cielo Drive in Los Angeles, Kalifornien,
ein bedrückendes und vielschichtiges Werk geschaffen, das eine düstere
Vorstellung davon hinterlässt, wie ein Franz Kafka-Roman musikalisch umgesetzt
klingen könnte. Getäuscht sahen sich hingegen diejenigen, die nach dem
gitarrenorientierten BROKEN-Mini-Album eine noch eindeutigere Zuwendung in diese
Richtung erwartet hatten. Immerhin hatte Reznor damals einen Grammy in der
Sparte ´beste Metal-Band' damit gewonnen.
"Oh ja," , lacht er, "dieses Business geht manchmal seltsame
Wege. Für mich war es aber interessanter, wieder mehr mit dem Computer zu
arbeiten. Ich wollte ein für mich erreichbares Maximum an Komplexibilität
konstruieren, eine Platte mit Höhen und Tiefen schaffen. Zu Beginn der
Aufnahmen hatte ich keinen einzigen Song, und es war ein sehr langer, aber
interessanter Weg, dieses Album zu machen. Einige Monate habe ich nicht einmal
ansatzweise an Songs gedacht, sondern nur an unfertigen Ideen gearbeitet."
Zur Hilfe standen ihm, neben Vrenna und Produzent Flood, der
Ex-Jane's Addiction-Drummer Stephen Perkins und der ehemalige Bowie-Gitarrist
Adrian Belew, deren Parts unendlich viele Male gesampelt und in völlig
entfremdeter Form in bereits bestehende Songgefüge eingearbeitet wurden. David
Bowie, und vor allem dessen LOW-Album, war "einer der Haupteinflüsse auf dieser
Platte." THE DOWNWARD SPIRAL ist ein Konzeptalbum, das, wie ach die
vorangegangenen Veröffentlichungen BROKEN und PRETTY HATE MACHINE,
autobiographische Züge seines Schöpfers trägt.
"Ich habe für mich selbst realisiert, dass ich viele Dinge
erreicht habt, an die ich früher im Traum nicht gedacht hätte, ich aber trotzdem
nicht glücklicher bin deswegen. Ich habe zwar viel geschafft, fühle mich auf der
anderen Seite aber isolierter von meiner Umwelt, entfernt von den Menschen um
mich herum. Ich wollte die Geschichte einer Person schreiben, die ihre Situation
analysiert, das, was sie erreicht hat, ihre Beziehung zu anderen Menschen, zu
Sex, zu Drogen, zu Religion. Es war mit von vorneherein klar, dass es keine
fröhliche Platte werden würde; und zum Schluss wusste ich nicht, wie ich sie
angemessen beenden sollte, ob es eine Lösung gibt…"
Beendet wurde sie letztendlich mit ´Hurt', jenem Lied, das
mit der markerschütternden Textzeile ´I hurt myself today, to see if I still
feel' beginnt. Ist das die Lösung? Reznor rutscht unruhig auf seinem Hinterteil
hin und her und schweigt eine ganze Weile, bevor er antwortet:
"Ich habe ´Hurt' ganz zum Schluss geschrieben, weil… Ich war
so verdammt traurig. Ich wusste erst nicht, ob ich den Song überhaupt auf die
Platte tun sollte. Ob das eine Lösung ist?" Abrupt steht er auf, fragt, ob ich
was trinken möchte und meint, dass er fast geweint habe, als das Stück
aufgenommen wurde. Umso merkwürdiger muss es für ihn gewesen sein, genau diesen
Song in einer Strip Bar zu hören. "In diesem Song stecken so viele Emotionen von
mir, und dann siehst du, wie sich eine Frau dazu auszieht…"
In solchen Momenten offenbart sich vielleicht am besten, was
Reznor bzw. die Nine Inch Nails so anders erscheinen lässt als andere
Electronic-Bands; der krasse Gegensatz zwischen lebloser Computer Soft Ware und
dem Menschen Trent Reznor, der niemals zur Maschine mutiert, sondern immer ein
Wesen aus Fleisch und Blut bleibt und dessen Verletzlichkeit, Ängste und
Aggressionen auf diese Art noch offensichtlicher heraustreten. Reznors
emotionaler Input in seine Musik ist ein ganz entscheidender, der weit über das
normale Maß hinausgeht. Salopp formuliert könnte man behaupten, dass er sich
diese Art den Weg zum Psychotherapeuten spart.
"Ich bin Zeit meines Lebens bis zu einem gewissen Grad
deprimiert", sinniert er, "aber irgendwie habe ich es geschafft, eine Karriere
drauf aufzubauen. Nicht schlecht oder?"
Insofern dürfte die Arbeit zum NATURAL BORN
KILLERS-Soundtrack, die er zusammen mit Vrenna während der Tour(!) erledigt hat,
um einiges einfach gewesen sein, da hier lediglich Reznors Qualitäten als
Produzent gefordert wurden.
"Ich habe wesentlich mehr Anerkennung dafür erhalten, als ich
eigentlich verdient habe", hält er den Ball flach. "Die Songs waren bereits
ausgesucht worden, und meine Idee war, einige Dialoge dazwischen zu schneiden,
damit ein Bezug zu der Handlung des Films hergestellt wird. Das gibt's sicher
schon, aber ich habe so etwas noch nie zuvor gehört." Äh, der Soundtrack zu
´Pulp Fiction vielleicht? "Das war später", lacht er, "die haben mich
kopiert!"
Angesichts der Fülle von Aktivitäten fragt man sich
unweigerlich, woran Reznors Herz momentan am meisten hängt.
"An der Musik, Nine Inch Nails. Mit dem Label und meiner
Arbeit als Produzent habe ich mit jedoch Möglichkeiten für ein Leben nach Nine
Inch Nails geschaffen. Irgendwann, das kann schon in einem, vielleicht aber auch
erst in ein paar Jahren sein, werde ich mit Nine Inch Nails aufhören und mehr
produzieren. Vielleicht schaffe ich es dann ja, ein einigermaßen normales Leben
zu führen, etwas anderes zu machen als ewig im Bus zu sitzen, müde zu sein, über
mich selbst zu reden…"
Hast du im Moment ein Privatleben?
"Nein, im Moment führe ich überhaupt kein Leben. Es gab mal
eine Zeit, da hatte ich so etwas, aber im Moment habe ich überhaupt nichts."
Vermisst du das? "Und wie. Gerade in diesem Moment wünsche ich mir, eine Heimat
zu haben, eine Adresse, Freunde…" Klingt schrecklich. "Aber es stimmt. Die
wenigen Freunde die ich habe, sehe ich monatelang nicht, weil einfach keine Zeit
dazu ist. Für mich ist jeden Tag in einer anderen Stadt eine Party. Ich spiele
eine Show, werde von den achttausend Leuten, die zu unserer Show kommen, als
Freak behandelt, und am nächsten Tag das gleiche Spiel in einer anderen Stadt.
Irgendwann verlierst du unweigerlich den Bezug zumal ich zugegebenermaßen nicht
sehr gut darin bin, Privatleben mit Arbeit zu verbinden. Wenn ich etwa ein Album
aufnehme, bin ich unfähig, eine Beziehung aufrechtzuerhalten, weil ich mit
meinen Gedanken ständig bei der Arbeit bin."
Umso tragischer ist es für ihn seinen Hund, eine
Retrieverhündin namens Masie, durch einen Unfall verloren zu haben. "Sie war
mit auf der Tour dabei, ich hatte sie immer bei mir. Es ist schrecklich, ich
vermisse sie so sehr."
Langsam wird es für ihn Zeit, sich für die Show umzukleiden,
aber eins möchte er vorher noch loswerden: "Hast du schon einmal den Jim Rose
Circus gesehen? Nein? Komm mit, musst du einfach." Er führt mich an den
Bühnenrand, und während ich da so neben ihm stehe und kreidebleich und mühsam um
meine Fassung ringend beobachte, wie sich ein Mensch Ziegelsteine an die durch
seine Brustwarzen gepiercten Haken hängt, tippt Reznor mir auf die Schulter.
"Weißt du, Masie, sie war meine Freundin…"
Ich kann das nur zu gut verstehen, muss aber dennoch, nachdem
er sich umkleiden gegangen ist, ersteinmal vor die Halle an die frische Luft und
eine Zigarette rauchen. Als er später selbst da oben steht und als letzte Zugabe
das herzzerreißende `Something I can never have' singt, kann ich ihn vielleicht
sogar noch besser verstehen. "Manchmal denke ich, dass ich mein ganzes Leben
damit verbringe, einen Platz zu finden, wo ich hingehöre", hat er mal gesagt und
damit ein uns allen nur allzu vertrautes Gefühl wiedergespiegelt. Während die
meisten von uns jedoch an einen Punkt ankommen, an dem sie einem Kompromiss
vorlieb nehmen, geht seine Suche unaufhörlich weiter, offenbart sich gerade
darin der eigentliche Antrieb seines kreativen Schaffens.
Andrea Nieradzik
Im Text eingestreute Zitate:
"Ich weiß gar nicht, was sie alles nach uns geschmissen
haben, auf jeden Fall waren auch Würstchen dabei…"
(Trent Reznor erinnert sich an seine ersten Auftritte in
Deutschland)
"Ich habe für mich selbst realisiert, dass ich viele Dinge
erreicht habe, an die ich früher im Traum nicht gedacht hätte, ich aber trotzdem
nicht glücklicher deswegen bin."
Ein extra Kasten:
Die Alben kommentiert von Trent Reznor:
PRETTY HATE MACHINE (1989)
"PRETTY HATE MACHINE ist eine sehr naive Platte, viel
offensichtlicher als alles, was ich danach gemacht habe. Ich mag das Album immer
noch, würde so etwas aber nie mehr aufnehmen, weil ich nicht mehr die Person
bin, die ich damals war. Manche Ideen darauf sind ein wenig dumm, aber alles in
allem bin ich noch recht stolz darauf. Für viele Leute ist es immer noch die
beste NIN-Platte, weil sie die eingängigsten Songs enthält."
BROKEN(1992)
"Damals hatten wir geraden den Ärger mit unserer ersten
Platten Firma TVT und ich war ziemlich frustriert und wütend zu diesem
Zeitpunkt. BROKEN ist auf der Gitarre komponiert, weil ich mich erstmals sicher
genug an diesem Instrument fühlte. Es ist nur ein Mini-Album geworden, weil wir
einen kurzen, aber lauten Wutschrei ausstoßen wollten. Ironie des Schicksals,
dass wir dafür mit einem Grammy als die ´beste Metal-Band` ausgezeichnet
wurden."
THE DOWNWARD SPIRAL (1994)
"Nach BROKEN wollte ich wieder etwas am Computer komponieren.
Mein Ziel war es, ein sehr komplexes Album aufzunehmen, sowohl sehr hart,
stellenweise aber eben auch sehr soft. Ich bin wirklich zufrieden mit dieser
Platte, ehrlich gesagt sogar wahnsinnig stolz drauf."