Ein ziemlich langer Artikel, der sich
in zwei Teile aufteilt: zuerst ein Interview
mit David Lynch und dann am Ende eines
mit Trent Reznor. Um direkt zum Trent Interview
zu kommen, klicke bitte hier: Trent
Reznor - Pfahl im Fleisch
Wie ich feststellen musste, scheint das
Interview mit Trent gekürzt zu sein. Das
längere englische Interview
findet ihr hier.
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Willkommen im Panoptikum, hereinspaziert in die
tabuisierten Abgründe der menschlichen Psyche.
Paranoia-Prophet David Lynch und Apokalypse-Apostel Trent
Reznor über die Lust am Perversen und die Faszination des Abnormen, über Nine
Inch Nails und ihr gemeinsames Filmprojekt "Lost Highway".
Vielleicht wird dies die Geschichte eines gestürzten Idols -
eines ehemals brillanten Filmregisseurs, der künstlerisch auf Abwege geriet und
den nun keiner mehr mag. Vielleicht wird es aber auch die Geschichte eines
wiedergeborenen Helden, der seine kreative Talsohle durchschritten hat, um das
ambitionierteste Werk seines Lebens zu schaffen. Es geht um David Lynch, und in
seinem Fall ist es vielleicht sogar passend, dass wir nicht wissen, wie die
Geschichte ausgeht.
Vor ein paar Jahren befand sich der Regisseur auf dem Zenit
seiner Karriere. Er war der erste Avantgarde-Filmer, der zweimal als bester
Regisseur für den Oscar nominiert wurde, und mit "Twin Peaks" - einer
Psychothriller-Serie, die ein Stück Popkultur wurde - fand seine irritierender
Regiestil gar Eingang im Massenmedium Fernsehen. Im selben Jahr, 1990, gewann
Lynch in Cannes für "Wild at Heart" (ein Film, der in Amerika auf wenig
Gegenliebe stieß) die begehrte Goldene Palme und landete auf dem Cover des
"Time"-Magazins. "Ich war ziemlich weit oben", sagt er heute emotionslos. "Aber
von dort kann man auch entsprechend tief fallen."
Seit Lynchs letztem Film, dem vehement kritisierten "Fire
Walk With Me", sind fünf Jahre vergangen. Es war still geworden um ihn. Er hatte
Werbe-Spots gedreht (Alka-Seltzer, Adidas) und sich an ein paar
Fernsehprojekten versucht, die niemand sehen wollte. Im April kommt aber nun
Lynchs jüngster Film "Lost Highway" in die Kinos - ein außergewöhnliches Werk,
das die Realität der Psychose auf ähnliche Weise Wirklichkeit werden lässt, wie
seine frühen Filme der verschwommenen Logik des Traums folgten. Für mich ist
"Lost Highway" - ein filmischer Essay über Verrat, Sex, Mord, Enttäuschung und
die Qualen der Erinnerung (gute Mischung, was?) - vielleicht der beste Film, den
Lynch je gedreht hat. Für die wenigen Mainstream-Zuschauer, die noch in Lynchs
Filme gehen, ist er allerdings mit der gleichen Wahrscheinlichkeit höchst
unverdauliche Kost. Jedenfalls gibt es im heutigen Kino nichts, was "Lost
Highway" vergleichbar wäre; geradezu unmöglich ist es, den unvorbereiteten
Zuschauer auf diesen Film einzustimmen.
Lynch wohnt in einem Valley gleich vor der Stadtgrenze
Hollywoods. Er besitzt drei Häuser, die alle an einer Straße liegen; eines
dieser Häuser spielt in "Lost Highway" eine tragende Rolle - vielleicht ist es
sogar der Protagonist. Lynch hatte eine sehr eigene Vorstellung von dem Haus:
Außen bekam es schmale, unheimlich wirkende Fenster, drinnen baute er einen
tunnelartigen Flur ein. Ein Aufwand, der sich gelohnt hat: Die Szene, in der
Fred Madison (gespielt von Bill Pullman) diesen Flur entlang in die pechschwarze
Dunkelheit hineinläuft, ist eine Schlüsselszene des Films: Ein Mensch geht der
Dunkelheit seines eigenen Schicksals entgegen.
Der Mensch Lynch, so heißt es, passe privat so gar nicht in
die verqueren Koordinaten seiner beunruhigenden Film-Realität. Er trage
schlabbrige Hemden, spreche mit dem gleichen tranigen Singsang wie Jimmy Stewart
und ziere obendrein seine Sätze mit uncoolen Floskeln wie "You betcha", "Golly"
und "Righto".
Was sich unterm Strich als wahr erwies. Gleichzeitig aber
gibt es da irgendwo in seinem Inneren ein tiefes schwarzes Loch - und sei es nur
in seinem Selbstverständnis -, eine existentielle Finsternis, die er gewöhnlich
von der Außenwelt abzuschirmen sucht.
Als ich Lynch treffe, trägt er ein modisches schwarzes Hemd
(bis zum Hals zugeknöpft!) und Khaki-Hosen. Wir sitzen in der
Schreinerwerkstatt, die sich in Lynchs mittlerem Haus befindet. Der Raum ist
vollgestopft mit großen, glänzenden Geräten und kleinen getischlerten
Artefakten. 51 Jahre alt ist Lynch inzwischen, seine wohlmeinenden Augen sind
umrahmt von sympathischen Falten, und wenn er spricht, zucken seine schmalen
Hände, ohne dass es ihm bewusst ist.
Verbittert ob des Misserfolgs seiner letzten beiden Filme ist
Lynch nicht - zumindest lässt er es sich nicht anmerken. "Wenn man etwas liebt",
sagt er, "und das Gefühl hat, dass man es richtig gemacht hat, dann tut negative
Kritik nicht so weh. Ich liebe diese Filme. Aber als Erfolg gilt ein Film erst
dann, wenn er Geld einspielt, und das war bei mir nicht der Fall. Hätte ich in
diesem Punkte mehr Erfolg, würde das vermutlich auch bedeuten, dass ich
systemkonforme Regie-Jobs mache."
Er hält inne und lächelt. "Ich kann verstehen, dass es nett
ist, sich einfach unterhalten zu lassen", sagt er. "Aber es gibt verschiedene
Arten von Filmen. Ich wünschte, auch Filme, die eine gute Geschichte mit starken
Figuren, aber auch ein bisschen Substanz haben, würden beim Publikum ankommen.
Immerhin hat es so etwas schon gegeben: Filme, bei denen der Regisseur keine
Kompromisse machte und die trotzdem ein großes Publikum fanden. Wenn das
passiert, geht einem natürlich das Herz auf."
Lynchs Filmen war tatsächlich nie ein großer kommerzieller
Erfolg beschieden. Meistens kamen sie bei den Kritikern besser weg als beim
Publikum - jedenfalls bis zu "Wild at Heart" und "Fire Walk With Me", die bei
beiden keinen Anklang fanden. Dennoch hat Lynch in den 25 Jahren, die er Filme
macht, einen beträchtlichen Einfluss auf das moderne Kino ausgeübt. Nicht nur
die visuelle Ästhetik hat er revolutioniert, sondern auch die Art und Weise, wie
Filmemacher ihre Geschichte erzählen, wie die Schauspieler sprechen und agieren.
Den stilistischen Freiheiten, die junge Regisseure wir Quentin Tarantino, Gus
Van Sant, Tim Burton, die Coen-Brüder, Jim Jarmusch, Jane Campion und Todd
Haynes heute einsetzen, hat Lynch den Weg geebnet.
Sein erster abendfüllender Film, "Eraserhead" (1976), ist ein
gespenstischer Schwarzweißfilm, ein sexueller Alptraum, der in den Wachzustand
hinübergerettet wurde. Er erzählt die Geschichte von Henry Spencer, dem Mann mit
der Turmfrisur, dessen ohnehin schon grauenhaftes Leben noch grauenhafter wird,
als er ungewollt Vater eines hilflosen, schreienden, nur halb menschlichen
Kindes wird. Am Ende tötet Henry das Kind - oder lässt es vielleicht auch nur
frei. So oder so: Der Film ist jedenfalls schrecklich und wunderbar zugleich.
Was das alles zu bedeuten hatte, blieb zwar im Dunkel (Lynch
erklärte später, der Film spiegele auch seine Ängste wider, sich durch eine
frühe Heirat und Vaterschaft zu binden), doch vielen Zuschauern war bereits die
opulente Bildersprache und das beunruhigende Industrial-Gothic-Ambiente
Bedeutung genug. Kritiker entdeckten Einflüsse aus dem Surrealismus und
Expressionismus in dem Film, aber Lynch behauptet, er habe einfach nur gefilmt,
was in seinem Kopf vorging. In jedem Fall war "Eraserhead" ein radikales,
unvergessliches Kinoerlebnis, mit dem sich Lynch als einer der wenigen
eigenständigen Visionäre des amerikanischen Nachkriegskinos etablierte.
Nach "Eraserhead", der vor allem in den Studenten- und
Programmkinos lief, bekam Lynch mit seinem nächsten Film "Der Elefantenmensch"
(produziert von Mel Brooks), die Chance, auch ein breiteres Publikum zu
erreichen. "Der Elefantenmensch" war Lynch Version der Vita John Merricks. Trotz
schrecklicher Missbildungen gelang es diesem Mann zumindest zeitweise, über die
Grausamkeit seines eigenen Körpers und seiner Umwelt im viktorianischen England
hinauszuwachsen. Lynchs Drehbuch für den Film war linear und erstaunlich
orthodox, fast altmodisch - wie bei einem Horrorfilm aus den 30er oder 40er
Jahren über ein gutartiges Monster, vor dem sich dennoch alle fürchten -, doch
die Kamera vermittelte die gleichen abstrakten, gespenstischen Bilder wie in
"Eraserhead". Lynch wurde für den Oscar als bester Regisseur nominiert und
durfte darüber hinaus bei der Dino-De-Laurentiis-Produktion "Dune", der
Verfilmung eines Science-fiction-Romans von Frank Herbert, Regie führen. Der
Film wurde allerdings eine Katastrophe, ein unerfreulich wirres Machwerk -
obwohl es auch hier, wie in fast allen Lynch-Werken, Momente überwältigender
visueller Kraft gab. Später erwirkte Lynch, dass man seinen Namen aus den
Credits entfernte. "Bei 'Dune'", sagt er, "hatte ich das Gefühl, ich hätte mich
auf gewisse Weise prostituiert."
Der Misserfolg von "Dune" entpuppte sich als Segen. Wäre der
Film massenkompatibel gewesen, wäre Lynch vielleicht doch in die
Hollywood-Maschinerie gerutscht, in der vielversprechende Regie-Talente zu
Blockbuster-Formalisten zurechtgestutzt werden. So aber gelang ihm mit seinem
nächsten Film, "Blue Velvet" (1986) ein wunderbar abartiger Meilenstein des
modernen Films. "Blue Velvet" ist die Geschichte von Jeffrey Beaumont (Kyle
MacLachlan), einem jungen Mann, der in die kleine Stadt zurückkehrt, in der er
aufgewachsen. Dort muss er feststellen, dass hinter der friedlichen Fassade
Bosheit, Korruption und Sadismus regieren. Jeffrey entdeckt, dass auch er
beängstigende Neigungen hat - wie etwa die Befriedigung, eine Frau (Dorothy,
gespielt von Isabella Rossellini) sexuell zu missbrauchen. Dorothy ihrerseits
ist bereits so kaputt, dass sie nur noch dann zu Emotionen fähig ist, wenn man
ihr wehtut. "Blue Velvet" - trotz seiner düsteren Seelenlandschaft und dem
seltsam hoffnungsvollen Ende - brachte Lynch seine zweite Oscar-Nominierung ein.
Vier Jahre später verarbeitete Lynch die Obsessionen aus
"Blue Velvet" noch einmal fürs Fernsehen. "Twin Peaks" - eine Produktion für den
TV-Sender ABC, die Lynch mit dem Drehbuchautoren Mark Frost realisierte -
erzählte die Geschichte von Laura Palmer (Sheryl Lee), einer
Kleinstadt-Schönheitskönigin, deren Ermordung in Twin Peaks ein kompliziertes
Gewebe aus heimlichen Sex, Gewalt und Horror auseinanderreißt. Gleichzeitig war
es die Geschichte des FBI-Agenten Dale Cooper (Kyle MacLachlan), der mit der
Aufklärung des Mordes betraut ist und dabei die schreckliche Erfahrung macht,
dass das Böse in den Häusern und Träumen der Menschen wohnt und sich von einem
gequälten Herzen zum nächsten bewegt.
"Twin Peaks" war eine Sensation. Über die enorme
Publikumsresonanz hinaus bewies die Serie, dass auch ein Fernsehsender durchaus
in der Lage ist, ein gewagtes, avantgardistisches Stück Kultur zu produzieren.
Als die Einschaltquoten dann doch sanken, habe - so Lynch - der Sender ihn und
Frost gedrängt, den Mordfall mit einer plausiblen Auflösung zu beenden.
"Der Mord an Laura Palmer", so Lynch, "stand natürlich im
Mittelpunkt des Geschehens. Alle anderen Elemente der Serie drehten sich um
diesen Mord - er war die Sonne in einem kleinen Sonnensystem. Eigentlich sollte
er gar nicht gelöst werden. Er sollte ein wenig in den Hintergrund rücken und
der jeweiligen Episode den Vortritt lassen. So blieb das Geheimnis des Todes
lebendig. Als der Mord aufgeklärt wurde, war im Grunde alles vorbei. Danach gab
es noch ein paar Momente, in denen wieder ein Hauch dieses Geheimnisses - ein
Windhauch aus dieser anderen Welt - zu spüren war, aber es war einfach nicht
mehr dasselbe. Ich habe 'Twin Peaks' geliebt, aber nach der Auflösung war die
Luft raus."
Nach "Twin Peaks" war auch bei Lynch die Luft raus. Sein in
Cannes prämierter Film "Wild at Heart" wirkte - verglichen mit seinen früheren,
besseren Werken - fahrig und wirr. Und dann beging Lynch seinen größten Fehler:
Er wärmte "Twin Peaks", seinen größten Erfolg, noch einmal auf. "Twin Peaks -
Fire Walk With Me" sollte die Ereignisse enthüllen, die zum Mord an Laura Palmer
geführt hatten. Das aber war bereits in der Fernsehserie geschehen, wo Lauras
Abstieg in die Hölle angedeutet und die Details der Phantasie der Zuschauer
überlassen worden waren. Dennoch hatte der Film einige starke Momente: eine
Drogen-Sexparty in der Kneipe, brutale Streitszenen zwischen Laura und ihrem
Vater, das blutige Mordritual im Eisenbahnwaggon - und brillante
schauspielerische Leistungen von Ray Wise (als Leland Palmer) und Sheryl Lee,
die dem Zuschauer das Blut in den Adern gerinnen ließen. Die Kritiker verrissen
den Film.
Und schon wurde Lynch abgeschrieben. Er hatte das
Filmemachen revolutioniert, er hatte das Fernsehen verändert, doch niemand
erinnerte sich noch daran. Das Rad der Popkultur dreht sich schnell, und Lynch
war einfach runtergefallen.
Wir ihn "Lost Highway" wieder auf die richtige Spur bringen?
Schwer zu sagen. Gut möglich, dass die unerwarteten Wendungen der Handlung und
der rätselhafte Schluß diejenigen Zuschauer, die die für populäre Filme
heutzutage charakteristische geradlinige Erzählweise gewohnt sind, schlichtweg
überfordern. "Heute", sagt Lynch, "muß jedes einzelne Element eines Films leicht
verständlich sein - und folglich schraubt man sich auf den kleinsten gemeinsamen
Nenner herunter. Das ist wirklich eine Schande. Ohne diese Selbstbeschränkungen
gäbe es viel aufregendere Filme."
"Lost Highway" (Drehbuch: David Lynch und Barry Gifford) ist
die Geschichte von Fred Madison (Bill Pullman), einem Jazz-Saxofonisten, der mit
einer attraktiven, aber kalten Frau namens Renee (Patricia Arquette, die für
ihre meisterhafte Bewältigung dieser kniffligen Aufgabe einen Oscar verdient
hätte) verheiratet ist. Fred und Renee haben zwar ein gemeinsames, dunkles
Schlafzimmer in einem fast fensterlosen, dunklen Haus (überall im ersten Teil
dieses Films herrscht Dunkelheit), doch ansonsten sind sie sich alles andere als
nah. Fred hat den Verdacht, Renee könnte noch ein anderes Leben, einen Liebhaber
haben. Dann findet das Paar vor der Haustür rätselhafte Videos, auf denen sie
beide schlafend im Bett zu sehen sind. Um so alarmierend ist das für Fred, weil
er Videokameras abgrundtief hasst. "Ich möchte mich auf meine Art an die Dinge
erinnern," erklärt er einem Polizisten, "nicht unbedingt an das, was wirklich
passiert ist."
Eines Nachts glaubt Fred zu spüren, dass jemand im Haus ist.
Er geht in die schwarze Finsternis des Hauses hinein, und als er zurückkehrt,
ist Renee brutal ermordet worden. Hat er sie umgebracht? Fred weiß es nicht,
landet aber für das Verbrechen in der Todeszelle. Dort erleidet er in einer
weiteren entsetzlichen Nacht eine psychische Implosion - und als er wieder zu
sich kommt, existiert er nicht mehr, zumindest nicht als Fred: Er ist von einem
jüngeren Mann namens Pete Dayton (Balthazar Getty) ersetzt worden (oder hat sich
in ihn verwandelt), der sich seinerseits nicht daran erinnert, wie er wohl in
Freds Zelle gekommen ist.
Da Fred Madison und Pete Dayton offensichtlich nicht derselbe
Mann sind - und der junge Mann sich außer einem Autodiebstahl nie etwas
zuschulden hat kommen lassen, wird Pete wieder freigelassen. Er kehrt zu seinem
Job als Automechaniker zurück. Einer seiner besten Kunden ist Mr. Eddy (Robert
Loggia), ein Gangster mit einem Faible für schöne Autos, tolle Frauen, Waffen
und Pornographie. Eines Nachmittags bringt Mr. Eddy einen Cadillac in die
Werkstatt. Er wird von einer hübschen blonden Frau begleitet (ebenfalls von
Arquette gespielt). Abends kehrt die Blondine, die sich Alice nennt, allein
zurück, um Pete zu besuchen. Eine heiße Affäre nimmt ihren Anfang.
Was Mr. Eddy natürlich überhaupt nicht gefällt. Alice bekommt
Angst und will mit Pete aus Los Angeles fliehen. Zunächst aber überredet sie ihn
dazu, einen Freund von Mr. Eddy auszurauben, mit dem sie manchmal für Geld ins
Bett geht. Der Raubüberfall läuft schief - Pete bringt den Mann
unbeabsichtigterweise um (eine quälende, gleichzeitig aber auch brüllend
komische Szene). Und dann findet er heraus, dass Alice nicht die Frau ist, für
die er sie gehalten hat, und plötzlich steht alles in "Lost Highway" - Zeit,
Schicksal, Identität und Liebe - kopf.
Es gäbe noch viel mehr über den verzwickten Plot und die
Personen zu sagen - vor allem über den zwergenhaften "Mystery Man" (mit
eleganter Boshaftigkeit von Robert Blake gespielt), der bei Freds und Petes
Schicksal ganz entscheidend seine Hände im Spiel hat. Aber selbst eine
ausführliche Zusammenfassung könnte nicht wirklich vermitteln, was Lynch mit
"Lost Highway" gelungen ist. Noch lange nach den irrwitzigen Schlußmomenten des
Film grübelt man darüber nach, wie das alles zusammenpaßt. Wer hat Renee
umgebracht? Sie Renee und Alice dieselbe Frau? Und wer zum Teufel ist der
Mystery Man? Ist er ein Alptraum oder eine Dämon - oder vielleicht der
ehrlichste Charakter, den der Film zu bieten hat? Die Schlüssel sind alle
vorhanden - denn "Lost Highway" ist mehr als ein absurdes Puzzle-, doch die
Antworten sind ebenso schwer zu finden wie die verschwommenen Details eines
Traumes.
"Man kann sagen, dass sich ein Großteil von 'Lost Highway' im
Innern abspielt", sagt Lynch. "Es ist Freds Geschichte. Diese Geschichte ist
kein Traum, sondern Realität. Sie gehorcht allerdings Freds eigener Logik. Aber
ich will nicht zuviel verraten. Ich liebe nämlich mysteriöse Geschichten.
Meistens bin ich bitter enttäuscht, wenn die Fälle gelöst werden. Deshalb darf
ein Plot nur bis zu einem bestimmten Punkt aufgeklärt werden; ein gewisser
Prozentsatz muss übrigbleiben, damit der Traum nicht zerstört wird. Wie zum
Beispiel am Ende von 'Chinatown': Dieser Typ sagt: 'Vergiss es, Jake, das hier
ist Chinatown.' Das versteht man, aber eigentlich versteht man es nicht, und das
Geheimnis lebt weiter. So etwas ist wirklich schön."
Barry Gifford, Lynchs Co-Autor, ist etwas mitteilsamer:
"Sagen wir, man will nicht mehr man selbst sein," sagt er. "Es stößt einem etwas
zu, und dann taucht man einfach in Seattle wieder auf und lebt da unter dem
Namen Joe Smith in einer ganz anderen Realität. Man versucht, vor etwas zu
fliehen, und genau das tut Fred Madison. Er rutscht in eine andere Realität, in
einen Dämmerzustand, in dem man ständig fortzulaufen versucht. Da er
nirgendwohin kann - schließlich sitzt er in einer Gefängniszelle -, spielt sich
das in seinem Innern, im Kopf ab. Doch auch in diesem Bewusstseinszustand laufen
die Dinge nicht besser als in der Realität. Er hat diese Frau ebenso wenig unter
Kontrolle wie im wirklichen Leben.
Das mag vielleicht erklären, was im Film passiert, jedoch
nicht den ganzen Film. Hier geschehen Dinge, die sich nicht so einfach erklären
lassen. Und das ist auch gut so."
Man kann Gifford nur zustimmen: "Lost Highway" lebt nicht nur
von dem mysteriösen Plot. Außergewöhnlich [ist] auch die kunstvolle
Kamera-Ästhetik, die packende schauspielerische Leistung von Bill Pullman und
Patricia Arquette sowie Robert Blake als "Mystery Man", der den Zuschauer
meisterhaft das Fürchten lehrt. Exzellent auch der pochende Ambient-Sound von
Trent Reznor bei den Videosequenzen. All diese Elemente machen aus "Lost
Highway" einen Film darüber, wie wunderbar Filme sein können. "Für mich", sagt
Lynch, "existiert ein Film schon immer irgendwie, bevor er gedreht wird. Er
sitzt fertig in einer abstrakten Welt, erzählt, wie er werden soll; man muss ihm
nur zuhören. Aber erst wenn alles fertig ist, Ton, Musik, Schnitt und so weiter,
weiß man wirklich, was für ein Film das ist, ob er tatsächlich so geworden, wie
er sein sollte oder wenigstens so gut, wie es unter den Umständen möglich war.
Wenn man einen Film abgeschlossen hat, begibt man sich wieder zurück in eine
Welt, in der man machtlos ist. Man gibt sein Bestes, und dann geht man wieder."
Zwischen meinem ersten und zweiten Gespräch mit Lynch wurde
der Schauspieler Jack Nance - mit dem Lynch 25 Jahre zusammenarbeitete - tot in
seinem Haus in Pasadena aufgefunden. Am Tag zuvor war Nance in einem
Doughnut-Laden mit zwei Männern in Streit geraten und hatte einen heftigen
Schlag auf den Kopf bekommen. Nance war der Darsteller von Henry, Lynch
hypernervösem Alter ego in "Eraserhead". Er spielte auch in den meisten weiteren
Filmen des Regisseurs mit. In "Twin Peaks" war er Pete Martell, der leidgeprüfte
Aufseher des Sägewerks. In den ersten Einstellungen der Serie entdeckt er Laura
Palmers Leiche; in der letzten Stunde wird er selbst ins Jenseits befördert.
"Er war einer meiner besten Freunde", sagt Lynch. "Jack hatte
so etwas... das ist schwer in Worte zu fassen, aber für mich war Jack eine Figur
von Kafka, Gregor Samsa (der Mann, der in "Die Verwandlung" in eine Kakerlake
verwandelt wird). Der weiß, was Schwierigkeiten sind. Er versuchte, das Richtige
zu tun, aber er bekommt auch das Böse und das Chaos auf dieser Welt zu spüren.
Genauso war Jack. Sein Leben war wirklich ziemlich hart, und es wurde für ihn
noch extremer, weil er jemand war, der viel nachdachte. Manchmal tut man sich
wirklich einen größeren Gefallen, wenn man nicht zuviel nachdenkt."
Der Tod seines Freundes illustriert auch, worin es in Lynchs
Filmen geht. Wir leben in einer gefährlichen Welt - Tod und Zerstörung sind oft
näher, als wir glauben wollen. Doch die Intensität, mit der Lynch dieses für ihn
so zentrale Thema behandelt - besonders seine Drastik in der Darstellung von
Gewalt -, hat Kritiker gegen ihn aufgebracht. Die Enthauptungs-Szene in "Wild at
Heart" fanden viele unerträglich, und "Fire Walk With Me" wurde vor allem wegen
der expliziten Darstellung des Vater-Tochter-Inzests scharf verurteilt. Andere
Stimmen äußerten sich erbost über das reduzierte Frauenbild, das sie in Lynchs
Filmen zu entdecken glauben - entweder Opfer oder bösartige Verführerin
(besonders Dorothy in "Blue Velvet").
Auch "Lost Highway" wird solche Kritik nicht erspart bleiben.
In dem Preview, die ich besuchte, mussten einige Zuschauer bei der Szene, in der
Alices schleimiger Fick-Partner umgebracht wird, hörbar würgen (eine Reaktion,
die vielleicht auch von den unglaublichen Soundeffekten ausgelöst wird). Einen
noch größeren Aufschrei wird die Szene auslösen, in der Alice mit vorgehaltener
Waffe von Mr. Eddy genötigt wird, sich auszuziehen. Anfangs noch völlig
verängstigt, beginnt sie sich immer genüsslicher zu winden - als würde der
Umstand, dass Gewalt angewendet wird, sie umso mehr erregen. Und als sie ihm
dann zwischen die Beine geht, hat sie das perfekte Lächeln auf den Lippen.
Bei derartigen Szenen werden nicht wenige Zuschauer rot sehen
- vor allem die, die da glauben, dass die Darstellung von expliziter Gewalt und
bizarrem Sex die Moral oder gar die gesamte Kultur in Frage stelle. Vorwürfe
dieser Art muss Lynch sich schon seit Jahren anhören. "Ich verstehe nicht ganz,
was diese Leute meinen", sagt er. "Heißt das, dass die Welt friedlicher wird,
wenn man Gewalt weniger drastisch darstellt? Oder heißt es, dass man der Gewalt
eine andere Qualität gibt, wenn man bestimmte Dinge in einem Film darstellt?
Oder ist Gewalt in Filmen eine Möglichkeit, etwas zu erleben, ohne es in der
Realität tun zu müssen?
Als Künstler greift man Strömungen auf, die in der Luft
liegen. Ganz gefühlsmäßig. Es ist ja nicht so, dass man sich hinsetzt und denkt:
'Was kann ich tun, damit der Film so richtig schön abstoßend wird?' Man hat
Ideen, diese Ideen gehen in eine Geschichte ein, und so nimmt diese Geschichte
Form an. Und wenn man nun Charaktere hat, die mit ihren inneren Konflikten zu
kämpfen haben, dann wäre man nicht aufrichtig, wenn man die Darstellung dieser
Konflikte unter den Teppich kehren würde. Das gibt dem Film mehr Tiefe, denn
schließlich beschreibt man etwas, das es in der Wirklichkeit tatsächlich gibt.
Wenn im Film jemand um sein Leben kämpft, leidet man im Kino
unwillkürlich mit und beugt sich nach vorne. Solche Szenen spiegeln das wider,
was im kleineren Rahmen in uns allen vorgeht. Sie tauchen in unseren Beziehungen
und Konflikten auf und werden im Film eben in zugespitzter Form dargestellt.
Was wäre, wenn jeder Film am Ende eine positive Botschaft
haben müsste? Wenn immer nur angenehme Filme ins Kino kämen, würde sich in
dieser Welt nie etwas ändern. Abgesehen davon vielleicht, dass die Leute nicht
mehr ins Kino gehen würden."
In seinen früheren Filmen pflegte Lynch nach Szenen von
extremer Brutalität wieder in die Normalität zurückzukehren. Am Ende von "Blue
Velvet", nach einer Nacht von Chaos und Tod, hören wir hübsche, kleine Vögel
singen (die allerdings Würmer im Schnabel tragen). In "Twin Peaks" erfahren wir,
daß Leland Palmer - nachdem er gestanden hat, sein eigenes Kind getötet zu haben
- in Wirklichkeit von einem außerirdischen Wesen besessen war; was der FBI-Agent
Cooper beruhigender findet als die Vorstellung, dass "ein Mann seine eigene
Tochter vergewaltigt und ermordet". In solchen Momenten wird nach all dem
Entsetzen eine scheinbare Ruhe wiederhergestellt. "Wer zum ersten Mal mit dem
Grauen konfrontiert wird", hat Lynch einmal dem ROLLING STONE gesagt, "beginnt
darüber nachzudenken, ob nicht auch seine friedliche, glückliche Existenz in
Gefahr ist."
In "Lost Highway" macht Lynch diesen Rückzieher nicht mehr.
Dem Zuschauer ist kein Aufatmen vergönnt. Die Ordnung wird nicht wieder
hergestellt, nicht alle Schuldigen finden ihre gerechte Strafe. (Wer in diesem
undurchsichtigen Beziehungsgeflecht ist schließlich nicht schuldig?) Die letzten
Momente des Films bestehen aus nichts als reinem Chaos und nackter Angst.
So paradox es klingen mag: Der Glaube an eine heile Welt wird
einem geradezu zurückgegeben, wenn man verfolgen kann, wie einer unserer
kreativsten Köpfe es sich erlaubt, weiterhin düstere und schwierige Film zu
machen - und das zu einem Zeitpunkt, an dem für ihn persönlich viel auf dem
Spiel steht - und andererseits immer mehr Stimmen laut werden, die "das
Abartige" aus der Popkultur verbannen wollen.
Lynch hat sich entschieden, seine Vision auf die Leinwand zu
bringen und weder sich selbst noch uns zu schonen. Vielleicht will er uns sagen,
dass die Bruchstellen des Lebens nicht immer einfach verständlich oder gar
korrigierbar sind. Oder dass Kunst nicht auf etwas reduziert werden sollte, das
letztlich nur dazu dient, unsere Ängste einzulullen oder einer nicht existenten
"Ordnung" den Rücken zu stärken. So oder so: Es ist eine ungemein beruhigende
Erfahrung, einen mutigen Mann wieder mit voller Kraft arbeiten zu sehen.
Trent Reznor - Pfahl im
Fleisch oben
Einige der besten Momente in "Lost Highway" verdanken ihre
Faszination nicht zuletzt der akustischen Vision des Nine Inch Nails-Gurus Trent
Reznor. Seine dichten, raumfüllenden Raumschwaden verleihen dem Haus, in dem die
beiden Hauptfiguren leben, ein gespenstisches Eigenleben: Es ist, als würden die
Wände atmen und murmeln, als würden sie versuchen, uns schreckliche Geheimnisse
zuzuflüstern. Reznor hat eine Klanglandschaft geschaffen, die in ihrer
Originalität an Bernard Hermanns Orchestrierung der berühmten Dusch-Szene in
Hitchcocks "Psycho" erinnert. Wie Lynch hat sich Reznor zum Ziel gesetzt, das
Gesicht der Populärkultur mit ihren eigenen Mitteln zu ändern. Sein Album "The
Downward Spiral" ist eine radikale Sound-Assemblage - und verkaufte sich
trotzdem millionenfach. Es mischt brutale Klangfarben mit lieblichen Melodien
und erzählt die quälende Geschichte eines Menschen, der in die Tiefen seiner
verzweifelten Seele vorstößt. Das Album machte Reznor zum Megastar - und zu
einem vielbeschäftigten Mann: In den drei Jahren seit seiner Veröffentlichung
hat er mit Nine Inch Nails getourt, David Bowie auf einer Tour begleitet, den
Soundtrack zu Oliver Stones "Natural Born Killers" produziert und an drei Alben
des Schock-Rockers Marilyn Manson gearbeitet - was ihn zur bevorzugten
Zielscheibe amerikanischer Kulturmoralisten machte, die in seiner Musik einen
Angriff auf die "positiven Werte" zu erkennen glauben. Was diese Leute nicht
kapieren, ist die Tatsache, dass es mehr als nur Mainstream gibt, zur populären
Kultur auch Varianten gehören, in denen sich Menschen mit Schmerz, Wut und Angst
auseinandersetzen. Reznor ist nicht nur deshalb zum Popstar geworden, weil er
großartige Sounds produziert, sondern weil er etwas zu sagen hat, das ein Echo
hervorruft. Seine neuen Titel auf dem "Lost Highway"-Soundtrack (u.a. mit
Aufnahmen von den Smashing Pumpkins, Marilyn Manson, Lou Reed, David Bowie und
der deutschen Band Rammstein) werden bis auf weiteres das einzige sein, was wir
von Reznor zu hören bekommen. Er arbeitet zwar gleichzeitig an zwei Alben,
weigert sich aber, Aussagen über eine mögliche Veröffentlichung zu machen.
Wie kam es überhaupt mit der Zusammenarbeit mit David
Lynch?
Ein Freund schlug ihm vor, mich anzurufen. Ich hatte den Film
noch nicht gesehen, bin aber ein großer Lynch-Fan - früher ließen wir Nine Inch
Nails-Konzerte mit Verspätung anfangen, um die neueste Folge von "Twin Peaks"
sehen zu können. Er kam dann übers Wochenende zu mir nach New Orleans. Zuerst
stand ich unglaublich unter Druck. Er kam rein, sagte "Hi, ich bin David" - und
meinte schon drei Minuten später: "Okay, las uns ins Studio gehen und anfangen."
Er beschrieb mir eine Szene und sagte: "Ich sag dir, was ich will. Du hast einen
Karton, okay? Und aus diesem Karton kommen Schlangen, zischende Schlangen.
Diesen Sound will ich haben - Schlangen, die sich zischend aus dem Karton
winden. Es muss klingen, als ob das Verhängnis kurz bevorsteht." Er hat noch
nicht mal Filmmaterial mitgebracht. Er sagte: "Schieß los. Mach mir den Sound."
Es blieb mir nichts anderes übrig, als ihm zu sagen: "David,
ich bin kein Special-Effects-Mann, ich arbeite nicht für Werbekunden. So
funktioniert das nicht bei mir, also respektiere bitte, dass ich allein sein
muss, damit keiner merkt, wenn ich Mist produziere. Die guten Sachen wirst du
dann schon kriegen."
Wie fandest Du den Film?
Als ich ihn zum ersten Mal in voller Länge sah, dachte ich
nur: "Verdammt, das ist phantastisch!" Es ist abstrakt und bizarr, aber auch
ganz einfach spannend. Und dann ist da diese merkwürdige Nacht, in der sich Fred
in Pete Dayton verwandelt - ich wollte um jeden Preis wissen, was in dieser
Nacht wohl passiert war. Und dafür muss man Lynch doch lieben: dass er es nicht
versucht, es jedem rechtzumachen. Als ich "Blue Velvet" sah, war ich hinterher
auch völlig verstört. Mir wurde klar, dass ich mich genauso verhalten hätte wie
der Typ, den Kyle MacLachlan spielt. Ich erinnere mich auch an die "Twin
Peaks"-Episode, in der Leland Maddies Kopf an die Wand knallt. Ich dachte: "Das
ist die brutalste Szene, die ich je im Fernsehen gesehen habe. Unglaublich, dass
Lynch damit durchkommt!"
Ich glaube, dass Lynch mit dieser Serie eine Facette
unseres Bewusstseins gezeigt hat, die man damals von diesem Medium nicht
erwartet hat.
Das erinnert mich an etwas, das David mal gesagt hat, als wir
eines Abends an einem Plakat für irgendeinen neuen Film vorbeifuhren. Er sagte:
"Weißt du, irgendwie beneide ich Leute wie Steven Spielberg, die
hundertprozentig an das glauben, was sie tun, und damit zufällig genau den
Geschmack des Publikums treffen. Ich mache dasselbe und bekomme nur Krümel." Ich
fand diese naive Aufrichtigkeit beeindruckend.
Lynch sagt, dass er mit seinen Filmen versucht, Kunst in
die Popkultur einzubringen. Beschreibt das in etwa auch Deine eigene
Position?
Es klingt vielleicht anmaßend, aber ich sehe meine Arbeit
schon als Kunst - nicht nur als Möglichkeit, viele Platten zu verkaufen. Ich
möchte den Leuten ein bisschen die Augen für etwas, das anders ist als die
Mainstream-Scheiße, die man überall hört. Vielleicht bringt es sie ja dazu, sich
Neuem zu öffnen.
Aber Deine Musik ist hoch in den Charts. Gehört sie damit
nicht auch schon zum Mainstream?
Wenn du mich vor Jahren gefragt hättest, hätte ich
geantwortet: "Nein, ich gehöre nicht zum Mainstream." Aber das ist ein
Schutzschild, den man vor sich herträgt, um zu vermeiden, dass man von seinen
Fans falsch verstanden werden könnte. Ja, ich denke schon, dass meine Musik
Mainstream ist. Man kann nicht so viele Platten verkaufen und immer noch
glauben, man gehöre zum Underground. Natürlich ist in meiner Musik noch das
alternative Element; es bedeutet nur, dass der Underground den Mainstream zu
einem gewissen Grad infiltriert hat. Trotzdem kann ich nachts immer noch gut
schlafen, weil ich weiß, dass ich nie versucht habe, mich an den Geschmack eines
Mainstream-Publikums anzubiedern. Als "The Downward Spiral" veröffentlicht
wurde, sagte ich zu meiner Plattenfirma: "Sorry, Jungs, aber ich glaube nicht,
dass ihr auf diesem Album irgendwo eine Single findet. Wahrscheinlich verkauft
ihr nicht mal tausend Stück davon, aber ich musste diese Platte machen, weil sie
für mich sehr wichtig ist. Trotzdem tut´s mir leid, dass ihr eure Investition
nicht wieder reinholen werdet." Dann wurde "Closer" ein Hit, und das Album
verkaufte sich fast drei Millionen mal.
Das neue Material, an dem ich arbeite, ist wieder völlig
anders. Aber ich habe keine Angst, neue Dinge auszuprobieren. Das nächste Album
wird entweder ein Riesenerfolg oder ein totaler Karrierestopper. Fehlende
Risikobereitschaft kann man mir jedenfalls nicht nachsagen.
Du hast den Purismus des alternativen Lagers angesprochen:
Ein Musiker, der ein großes Publikum erreicht, macht sich automatisch
verdächtig.
Es gab zunächst eine Phase, in der ich dachte, dass Nine Inch
Nails das coole Ding sei, das nur ein paar Leute oder Kritiker kennen. Dann
fingen sie an, unsere Platten auch in den Einkaufszentren der Vorstädte zu
verkaufen, und die kleine Schwester trug auf einmal ein Nine Inch Nails-T-Shirt.
Und plötzlich ist es nicht mehr so cool, wie es einmal war, obwohl die Musik
dieselbe ist. Und meine Reaktion war: "Fuck you, dann mache ich jetzt eben was,
das euch garantiert im Halse stecken bleibt." Ich wurde mir selbst untreu und
versuchte, Leuten meine Glaubwürdigkeit zu beweisen, die zum Teil gar keine
Ahnung haben. Dann passierte was, das mir sehr geholfen hat: Ich sah damals zum
ersten Mal U2, auf ihrer "Zoo TV"-Tour. Marilyn Manson und ich saßen Backstage,
Bono kam rein. Wir kannten uns nicht, nur indirekt über Flood, den Produzenten,
der an meiner und an U2s Platte mitgearbeitet hat. Wir waren beide ziemlich
betrunken, verstanden uns prächtig und quatschten für eine Stunde. Ich erzählte
ihm, was ich gerade durchmachte: zuerst Liebling der Underground-Elite zu sein,
um dann fertiggemacht zu werden - nur weil sich die Platten plötzlich verkaufen.
Bono sagte: "Scheiß auf die Leute. Das ist so, als würde man sagen: 'Du bist
cool genug, meine Musik zu hören, aber du - du kommst aus Wisconsin, du bist
nicht cool genug.' Das ist Faschismus. Mach das, was für dich richtig ist. Daran
haben wir uns immer gehalten. Mach dir keine Sorgen wegen ein paar Leuten, denen
dein Zeug nicht gefällt, weil es nicht zu dem Image passt, das sie für dich
ausgeguckt haben."
U2 sind nicht gerade meine Lieblingsband, aber ich
respektiere sie, genau wie ich Bowie respektiere: Sie haben keine Angst, sich zu
ändern.
Du wirst aber auch angegriffen, weil du angeblich einen
schlechten Einfluß hast. Du, Tupac Shakur und die Gangsta Rapper von "Death Row"
waren der Grund, warum konservative Kreise verlangten, Time/Warner solle sich
vom Label Interscope trennen.
Sie haben mich nicht zum Buhmann gemacht, weil ich über Dinge
wie Selbsthass und Selbstmord singe, sonder weil ich mal "fuck" sage und "Ich
habe eine große Knarre und ´nen großen Schwanz".
Kann Musik einen negativen Einfluss auf Zuhörer haben? Lou
Reed erzählte mir mal, er habe "Heroin" für eine Weile nicht gespielt, weil ihm
viele Leute sagten, der Song habe sie auf das Zeug neugierig gemacht.
Trotzdem ist der Song ein Kunstwerk. Ich habe nur ein
einziges Mal Heroin genommen, und da hörte ich diesen Song. Ich war ein großer
Lou Reed-Fan, und Heroin hatte einfach etwas Glamouröses an sich. Ich habe
trotzdem schnell kapiert, dass es letztlich Scheiße ist. Und das war meine
Entscheidung - und die hatte überhaupt nichts mit dem Song zu tun. Klar kann man
behaupten, ein Song sei gefährlich, aber vielleicht sollte er das auch sein. Er
bringt das Thema wenigstens zur Sprache.
Auf "Downward Spiral" gibt´s einen Song, in dem ich davon
spreche, mich umzubringen. Ich hatte davon geträumt und daran gedacht, hatte
aber irgendwie Angst, es tatsächlich zu tun. Also schrieb ich einen Text darüber
und merkte, dass er zu der Aussage des Albums passte: Am absoluten Tiefpunkt
wird Selbstmord zu einer denkbaren Möglichkeit. Aber vielleicht hilft allein
schon die Tatsache, dass man es ausspricht und ans Licht bringt. Ich war schon
oft deprimiert, und dann höre ich einen Song und denke: "Fuck, das Gefühl kenn
ich. Anderen geht es also auch so." Das befreit. Wenn ich auf der Bühne stehe
und diesen Urschrei ausstoße, sehe ich ins Publikum - und alle schreien sie den
Text zurück. Der Inhalt eines Songs mag vielleicht negativ sein, aber dieses
Feedback ist eine positive Erfahrung, auch für die anderen.
Die Moralisten behaupten, daß Musik wie Deine deshalb so
destruktiv sei, weil sie die Werte der breiten Masse in Frage stelle.
Als ich ein Teenager war, hat mir Rock´n´Roll geholfen, ein
Gefühl von Identität zu finden, aber suchen musste ich selbst. Ich stand auf die
Clash, was mich zum Außenseiter machte, weil Journey damals das war, was man gut
zu finden hatte. Aber darum geht´s doch beim Rock´n´Roll: Es sollte deine Eltern
nerven, sollte an Tabus rühren und gefährlich sein. Ob er heute noch gefährlich
ist, weiß ich nicht. Dank MTV bekommen wir Rock´n´Roll frei Haus geliefert, jede
Sekunde unseres Lebens. Rock-Star zu werden ist ein ebenso legitimer
Berufswunsch wie Polizist oder Feuerwehrmann. Deshalb unterstütze ich Bands wie
Marilyn Manson. Dieser Schockfaktor ist immer noch wichtig. Konformistischen
Wichsern wie Hootie And The Blowfish wünsche ich die Pest an den Hals.
Wir brauchen auch nicht das tausendste Pearl Jam-Imitat, auch
nicht die politisch korrekten R.E.M., die "Wir essen kein Fleisch" deklamieren.
Scheiß auf all diese Typen! Wir brauchen Anarchie, etwas, das sich traut, anders
zu sein.
Darauf würde man Dir entgegnen, dass Kunst die
Verpflichtung hat, die Welt zu verbessern. Glaubst Du, dass Kunst zu etwas
verpflichtet?
Nur in dem Sinn, dass sie Menschen hilft, sich selbst besser
zu verstehen.
Und wenn nun Kunst Leute anspricht, die den Wunsch haben,
andere zu töten?
Nimm Hannibal Lecter in "Das Schweigen der Lämmer". Ich fand
ihn als Typus faszinierend, weil er das repräsentiert, was du selbst in einer
Gesellschaft ohne Gesetze und Moral gerne wärst. Ich erlaube mir zu denken: "Ja,
wenn ich Leute umbringen könnte, ohne dafür zur Verantwortung gezogen zu werden,
würde ich es vielleicht tun." Ist das falsch? Klar. Aber hat es nicht auch etwas
Faszinierendes? Ja. Weil es das ultimative Tabu ist. Richtig bewußt wurde mir
diese Ambiguität, als ich Sharon Stones Schwester traf. Während der Arbeit an
"Downward Spiral" wohnte ich in dem Haus, in dem Sharon ermordet wurde, und ihre
Schwester fragte mich: "Wohnst du hier, um dich an ihrem Tod aufzugeilen?"
Das war ein Schlag ins Gesicht. Da wurde mir erst klar, dass
sie ihre Schwester durch eine absolut sinnlose Tat verloren hatte. Ich fragte
mich: "Was, wenn es deine Schwester gewesen wäre?", und dachte: "Fuck Charlie
Manson".
Ich ging nach Hause und heulte. Es ist eine Sache, deinen
Schwanz in den Wind zu hängen und dich aufzuführen, als sei dir alles egal. Wenn
du dann aber siehst, was es für Konsequenzen hat... Das hat mich ernüchtert - zu
verstehen, was auf der anderen Seite dieser Faszination für Amoralität steht -
nämlich Opfer, die das nicht verdient haben. |