Trent Reznor ist ein armer Kerl. Nicht in finanzieller Hinsicht
keineswegs. Jeweils über zwei Millionen verkaufter Einheiten der beiden Nine
Inch Nails-Werke “Pretty Hate Machine“ (19893 und “The Downward Spiral“ (1994)
füllen ein Bankkonto ganz ordentlich. Soundtracks zu Filmen wie “Natural Born
Killers“ von Oliver Stone und “Lost Highway“ von David Lynch Musik für das
Computerspiel “Quake“, Produktionen für Leute wie Tori Amos oder Marilyn Manson
zahlen sich ebenfalls pekuniär aus. Es ist nur so: Trent Reznor ist einsam.
Das ist vielleicht der Grund,
warum er sich auf seiner Promo-Stippvisite mit einer viel köpfigen Entourage
umgibt, inklusive eines Hairstylisten. Andererseits: Zu viele Leute will er
auch wieder nicht um sich haben. Die berufliche Funktion derer in seinem
Beisein bestimmt ihre Anzahl. Wenn es sich beispielsweise um Journalisten
handelt, sind drei auf jeden Fall genug. Bevor nicht die beiden unangemeldeten
Schreiberlinge aus dem Interviewzimmer verschwunden sind, will er es keinesfalls
betreten. Sagt jedenfalls sein Management. Er selber betrachtet derweil seine Schuhe
und wartet draußen vor der Tür. Erst wenn alles nach seinem Gusto ist, kann der
Round-Table-Talk beginnen. Ein schickes blödes Neuwort aus der Medienbranche,
das nichts mit den Rittern der Tafelrunde zu tun hat, sondern eine
Pressekonferenz meint. Die kann freilich auch an einem viereckigen Tisch veranstaltet
werden, aber zufällig ist das Tischlein tatsächlich rund im Zimmer des Hamburger
Park Hyalt-Hotels, wo er deswegen absteigen wollte, weil hier auch Marilyn Manson
mal logierte. Obwohl es bessere Häuser am Platz gibt. Dafür ist es mit dem Talk
nicht so weit her, denn darunter versteht man in aller Regel ein Gespräch von
mehreren Menschen, nicht nur von einem. Doch wer einsam ist, der führt halt
Selbstgespräche.
Trent Reznors Monologe werden
zwar von den anwesenden Pressevertretern initiiert. aber nicht gelenkt. Sie
kreisen natürlich unter anderem um das neue Nine Inch Nails-Album “The
Fragile“, und sie sind ein wenig ermüdend. Denn der 34jährige Klangbastler braucht
lange, um eine Frage zu beantworten, ohne daß er dabei wirklich Essentielles von
sich gibt, und er redet einschläfernd leise, sanft und langsam. Hin und wieder
antwortet er auch, ohne auf die Frage wirklich einzugehen. Und ein Großteil
seiner Rede wäre sehr viel aufschlußreicher für Psychoanalytiker denn für
Journalisten.
Das gilt auch für “The Fragile“.
Fünf Jahre hat es gedauert, bis das Doppel-Album endlich vorlag. Doch was heißt
endlich? Es liegt ja exakt in Reznors Veröffentlichungsturnus für neue Werke.
Diverse zwischenzeitliche EP-Releases zählen nur als Beilagen. Trotzdem sind fünf
Jahre eine lange Zeit. Warum?
„Schreibblockade“, erklärt er. Die Angst vorm weißen Blatt Papier,
das gefüllt werden will. Nur — mit was? Nach „The Downward Spiral“ machte er
drei Jahre lang alles mögliche. Da waren die “Self Destruct“-Tournee, die
Produktionen und Remixe für andere Künstler, die Filmmusiken. Und persönliche Niederschläge:
der Tod seiner Großmutter, die ihn von seinem fünften Lebensjahr an großgezogen
hatte; der häßliche Streit mit seinem Protege Marilyn Manson, der zugleich
einer seiner ganz wenigen Freunde gewesen war. Über den Zwist will er nicht
reden. nur Allgemeinplätze läßt er dazu verlauten: „Er hat einige Dinge gesagt, die für mich sehr schmerzhaft waren.“
Es ist nicht schwer, Trent Reznor
zu verletzen, denn er hat keinen Panzer. „The Fragile“ — das ist er selber: der
Zerbrechliche, ja eigentlich der Gebrochene. “Broken“ hieß eine EP von 1992,
“Fixed“ eine weitere aus demselben Jahr. Doch “’Fixed“ ist Industrial-Rocker
keineswegs. Sondern ein Häufchen inneren Elends auf der Suche nach sich selbst.
Das Album ist nichts weiter als der Versuch einer Eigentherapie. Einen
Psychiater hat er schon hinter sich. Gebracht hat es nichts.
»Anfangs halte ich nicht den leisesten Schimmer, worüber ich das Album überhaupt schreiben sollte. Ich brödelte ein Jahr lang herum und hatte
hinterher bloß eine Handvoll Fragmente.»
Nichts davon ergab einen Sinn, am
allerwenigsten für ihn selbst. Eine Zeitlang probierte er es auf die geradezu
klassische Weise am Piano, schließlich hatte er schon im Alter von fünf Jahren
die ersten Klavierstunden, er lernte das Instrument ebenso sorgfältig wie Saxophon
und Tuba. Ein Fehlschlag: Zurückgezogen in eine Berghütte im kalifornischen Big
Sur, eine Stunde vom nächsten Laden entfernt, fand er keineswegs die gedachte
Inspiration, Muse und Kreativität in selbstauferlegter Klausur. Ohne seine
technischen Gerätschaften war es für ihn der schiere Horror. Und musikalisch
fruchtlos und frustrierend, denn am Ende klang er fast schon wie Billy Joel.
Noch schlimmer war die allgemeine
Erwartungshallung, der Druck der vorangegangenen Erfolge; der Fluch des
Kultstatus, den er hat, aber nicht genießt; der Ruch des Genies. Für die Stücke
“Wish“ und » Happiness In Slavery“ kassierte er 1993 und 1996 jeweils einen
Grammy; das Time Magazine rechnete ihn 1997 zu den 25 einfußreichsten
Persönlichkeiten der Gegenwart; die Gazette Spin sah in ihm gar den
einflußreichsten Musiker überhaupt. Das Musician‘s Magazine votierte “Künstler
des Jahres“. Alternative Press nannte das bevorstehende Werk das meisterwartete
Album von 1998 und aktualisierte die se Aussage für das jetzige Jahr. »Ich hatte den Eindruck, es liege an mir
altem, die gesamte Rockmusik zu retten.«
Die Reaktion war eine regelrechte
Flucht vor dieser ungeheuren Aufgabe und vor sich selbst. Sein eigenes Album
schob er ständig vor sich her und widmete sich allerlei anderen Arbeiten und
Projekten, die im Grunde nur als Ablenkung dienten, als Ausrede, für die eigene
Platte keine Zeit zu haben. „Ich fühlte
mich ausgehöhlt und leer. Ich wusste nicht was ich machen wollte oder sollte.“
Ideen blieben halbgar und nicht greifbar.
Dabei war vorher alles anders
gewesen: wilder, schneller, exzessiver.
Doch es war nur Pseudo-Leben. Dafür aber der Stoff, wie er angeblich zu einem
Rockstar gehört, auch wenn Reznor gar keiner sein will. Die „Self
Destruct“-Tour 1994 etwa trug ihren Namen zu Recht. Marilyn Manson, damals noch
ein kaum bekannter Support-Act kam, da zum ersten Mal mit Kokain in Berührung.
Nach Beendigung der Tournee lief irgendwie alles aus dem Ruder. Irgendwann 1995
in seinen Nothing Studios in New Orleans hockten sie alle beisammen: Reznor,
Manson und eine Horde Verrückter, die sich die Jim Rose Circus Sideshow nannten.
Da probierten nackte Groupies aus, wer am längsten ein Klistier bei sich behalten
konnte, bevor sie sich in eine Schüssel Frühstücksflocken entleerten. Die
verputzte dann jener Sideshow-Typ, der den mächtigsten Schwanz hatte. Ein
anderer aus dieser Clique bizarrer Gestalten wollte Reznor überreden, daß er an
ihm eine Trepanation durchführe. Das heißt, ihm ein Loch in den Kopf bohren.
Sowas wird seit der Jungsteinzeit in den verschiedensten Kulturen angewandt und
soll beispielsweise die Herabsetzung des Schädelinnendrucks erreichen — mit dem
Ziel, das Gehirn “zu befreien“ und dann richtig schlau zu werden. Der deutsche
Autor Immo Jalass, der sich vor 22 Jahren mit dem Elektrobohrer eine Öffnung in
den Schädel verpaßte, preist in seinem wirren und krausen Buch “Mehr Bewusstsein!“
diese geisteskranke Sache als prima Methode, um sich “unabhängig von Drogen, frei
und selbstverwirklicht, der Evolution des Menschen“ zu widmen, und verlangt
nach Trepanation auf Krankenschein zur Heilung endogener Psychosen. Die Medizin
lehnt solchen Unfug mit Recht entschieden ab. Auch Reznor war von dem Ansinnen
nicht begeistert. Ein Toter in seinem Studio und dessen Gehirnflüssigkeit auf dem Equipment? Nichts da. «Wir haben das Album damals wirklich gelebt«, meint der NIN-Fronter
in der Rückschau zu “The Downward Spiral“ und der Folgezeit. «Wir haben uns die Spirale ziemlich weit hinuntergewunden.«
Spätestens da wurde ihm klar, daß
es Zeit für eine Umkehr war. Heute läßt er die Finger von Drogen und Alkohol,
er raucht noch nicht mal. Statt dessen trinkt er Protein-Shakes, hält sich im
Hantelraum fit. Auch das Erscheinungsbild hat sich leicht geändert, das lange
Haar wich einem richtig adretten Schnitt, im Holzfällerhemd und schlabberigen
Jeans wirkt er eher wie ein gemäßigter Freizeit-Grunger. Etwas bleich schaut er
freilich schon noch aus, die Augen blicken irgendwie verloren. Aber das ist klar,
wenn man sich endlich aufgerafft hat und schließlich zwei Jahre lang 16 Stunden
täglich an einem Album arbeitet. Was führte zur neuen Schaffenskraft?
«Meine Liebe zur Musik. Ich liebe die Musik wirklich. Aber ich hatte
jeden Mut verloren und mußte erst wieder neuen finden.« Und einen neuen
Ansatzpunkt. Den bot die Gitarre, ein Instrument, das er so gut wie gar nicht beherrscht,
aber das war ihm gerade egal. «Es kam
nicht darauf an. Aber es machte das Album organischer.« Auch akustische
Instrumente wie Cello, Mandoline, Kontrabaß und Ukelele tragen dazu bei, daß
“The Fragile“ neben altbekanntem Electro-Metal zu einem Album geriet, das Break
Out-Kollege Böhm für das Allergrößte hält seit der Erfindung des
Mikrowellen-Popcorns. Freilich entzieht es sich dem schnellen Zugang mit Beharrlichkeit.
In Wirklichkeit will es gar kein Rock-Album sein, sondern bitteschön ein
Gesamtkunstwerk. Eines, von dem Reznor während der Produktion selber nicht
wußte, was es am Ende sein sollte. Also fragte er Bob Ezrin um Rat, Produzent
von Breitwand- Sound, wie ihn Kiss auf “Destroyer“ und Pink Ffoyd auf “The
Wall“ boten. Ezrin flog für eine Woche nach New Orleans und hörte sich das
bislang vorhandene Material an, half sortieren, gab Tips.
Vielleicht hätte Reznor sogar
gerne Roger Waters gefragt, in den Siebzigern Mr. Pink Floyd himself, den er
irgendwie bewundert oder zumindest respektiert. Scheinbar war der ihm aber eine
Nummer zu groß:
«Er hätte sich ja als Arschloch heraus stellen können.« Genau das
ist sein Dilemma, weshalb er kaum Freunde hat: Er ist fast völlig unfähig,
welche kennenzulernen. Triff ihn auf einer Party und unterhalt dich mit ihm;
ihr findet einander irgendwie cool, tauscht eure Telefonnummern aus — und er
wird dich nie anrufen. Weil er fest davon überzeugt ist, daß du deinerseits
keinerlei Gedanken daran verschwendest, ihn anzurufen.
Diese neurotische Persönlichkeit
schlägt sich in “The Fragile“ nieder. Es sind nicht Songs im eigentlichen Sinne
darauf, obwohl nur ein Viertel des Materials aus Instrumentalstücken besteht.
Es sind keine Lieder nach traditionellen Mustern und mit zündenden Hooklines.
Diese Platte taugt nicht für hitzige Feten mit ausgelassener Stimmung. Genaugenommen
ist die Scheibe der Versuch, ein musikalisches Monument zu errichten, das seine
Zeit überdauern will. Herausgekommen ist indes ein Soundtrack für einen Film,
der erst noch gedreht werden muß. „Ich
weiß nicht so recht — immer wenn man ein Buch liest und es toll findet, malt
man sich aus, wie das au! der Leinwand aussieht. Und wenn man dann eine
Verfilmung sieht kann sie noch so gut sein, man wird immer enttäuscht sein,
weil man sich was ganz anderes vorgestellt hat«, weicht er aus.
Statt dessen steht musikalisch
anderes im Raum. Tapeworm etwa, ein Nebenprojekt, für das schon mächtig viel
Material fertig. aber noch nicht eingesungen ist. Vokaldarbietungen sollen
außer Reznor noch Maynard James Keenan (Tool), Page Hamilton (Helmet) und Phil
Anselmo (Pantera) beisteuern, die musikalische Triebkraft hinter Tapeworm sind
hauptsächlich die langjährigen Weggefährten Danny Lohner und Charlie Clouser. Die
gehören auch zur Live-Version von Nine Inch Nails, die bloß auf der Bühne zur
Band mutieren. Im Studio bestehen sie nur aus Trent Reznor, ungeachtet des
instrumentellen Beistands diverser anderer. Den wird er natürlich auch auf den
drei Deutschland-Gigs Ende November brauchen. Damit er nicht so einsam ist auf
der Bühne.
Text: Mike Seifert
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