Godfather of Industrial Rock: Trent Reznor ist Mozart, die Nine Inch
Nails spielen seine Partituren.
September 1998
Während der amerikanischen
MTV-Video-Music-Awards läuft der Werbespot einer Band. „Try to save myself, but
myself keeps sleeping‘, singt dort eine zerbrechliche Männerstimme über einem
unheimlichen Cello, unterbrochen von irgendwie krankem Sequenzerpiepen. Nach
etwa 40 Sekunden ist der Spot vorüber, auf dem Bildschirm kann man „ninetynine“
und kurz darauf „nothing“ lesen. Kenner der Band wissen in diesem Moment, daß
dieser Werbespot ein musikalisches Jahrhundertereignis ankündigt, der Rest ist
verstört und fragt sich: Wer war das?
Es waren die Nine Inch Nails,
deren Kopf Trent Reznor seit nunmehr zwei Jahren in seinem sagenumwobenen Haus
an einem Werk arbeitet, das vermutlich „The Fragile“ heißen und möglicherweise
im März den Weg in die Plattenläden finden wird. Die Plattenfirma
(lsland/Mercury) hält sich äußerst bedeckt, wahrscheinlich weiß sie, daß Reznor
in den Staaten als eine Art Phantom gilt. Taucht er mal in New York auf, wie
erst kürzlich beim Konzert vom Meat Beat Manifesto, ist das bereits eine
Meldung im „Rolling Stone“ wert. Keine Frage, der Mann ist ein Star. Ob er ein
Popstar ist, kann man nicht feststellen, denn es ist unmöglich zu sagen, ob
sein Verhalten und seine Aussagen nur Fake oder doch düstere Wirklichkeit sind.
Ja, man kann noch nicht einmal sagen, ob er Popmusik macht.
Trent Reznor ist kein Star zum
Liebhaben, zu schwierig, um verstanden zu werden. Er kommt aus einem Kaff in
Pennsylvania, hat Angst vor anderen Menschen. Seine Musik macht er ohne Band,
nur einige Vertraute haben die Ehre, sie live zu zelebrieren. Reznor ist
Mozart, und die Nine Inch Nails sind das Orchester, das seine Partituren
spielt. Texte und Videos zu den Nine Inch-Nails-Songs sind der eingebaute
Popschutz des Herrn Reznor, denn die Gewalt- und Horrorszenarien, die sich dort
abspielen — möglicherweise ein Indiz für seine postpubertären Amokphantasien —
machten sie bisher praktisch airplay-untauglich. Wollte MTV ein Video der
musikalischen Neurose Nine Inch Nails spielen, mußten Texte wie „I wanna fuck
you like an animal“ in Kauf genommen werden.
April 1997
Das Time Magazine wählte Mr.
Reznor zu den 25 einflußreichsten Amerikanern, in guter Gesellschaft von
Madeleine Albright und Colin Powell. Das in den Staaten sehr angesagte „Spin“
zählt ihn neben Babyface und Billy Corgan zu den lebendigsten Musikern der
Gegenwart. Er hat den in Amerika äußerst erfolgreichen Industrial Rock geprägt,
und fast alle Bands dieses Genres berufen sich auf Nine Inch Nails. Eine
Formation, die im Grunde nur aus Reznor und performenden Handlangern besteht,
mit der er einen Grammy eingeheimst hat und als Remixer und Produzent unzählige
Stars und solche, die es durch ihn wurden, mit beeinflußte.
Wenn so ein Mann zwei Jahre lang
an einem Album arbeitet, dann entsteht natürlich eine gewisse Erwartungshaltung
an dieses Werk. Die Plattenfirmen erwarten einen neuen Trend, der durch „The
Fragile“ ausgelöst werden könnte, sie nennen ihn Allstyle, die Verbindung aller
gängigen Musiksparten, und beziehen sich auf die spärlich gesäten Interviews
von Reznor. Wohlgemerkt, sie erwarten nicht einen dieser schnelllebigen Hypes,
vor denen es den A&Rs graut, sondern eine Art popmusikalische
Kulturrevolution, vergleichbar mit Punk oder Techno. Oder wie würdet ihr einen
Millionen-Seller, auf dem sich Funk, Techno und Metal gleichberechtigt tummeln,
einschätzen „Auf dem Album sind um die 80 Musikstile vertreten. Nicht als Style
an sich, sondern mit ihren typischen Elementen, diktierte Reznor dem Magazin
„Raygun“. Wenn du es hörst, erinnerst du dich an deine Kindheit, als du nur
Melodien gehört hast und dich entschieden hast, welche dir gefällt.‘ Monsieur
Nine Inch Nails weiter über die Gäste auf dem neuen Werk.,, Dr. Dre und ich
arbeiten an einigen Sachen, Ice Cube wird auf jeden Fall vertreten sein.“ Des
weiteren wurden Alanis Morissette (ja, genau die!!!), Produzent Rick Rubin und
Helmet Frontman Page Hamilton ins Spiel gebracht, wobei man wohl nicht alles
glauben sollte, was der Post-Gruftie von sich gibt. Wichtiger als Namedropping
ist ohnehin der Blick auf Reznors Arbeitsweise.
Das ‚Tier“ Reznor
Trent Reznor (34) wurde in
Pennsylvania geboren, machte eine Ausbildung als Computer-Engineer und
produzierte jahrelang zweitklassige R‘n‘B-Acts, um sich endlich ein eigenes
Studio leisten zu können. 1989 formierte er dann eine Band, die all die „weird
noises“, die er über die Jahre aufgenommen hatte, performen sollte. Drummer
Chris Vrenna, Gitarrist Robin Finck, Tastenmann Charlie Clouser und Basser
Danny Lohner bildeten den Körper der Nine Inch Nails, doch der Mann im
Vordergrund (und erst recht im Hintergrund) war Trent Reznor. Ersten Anklang
fanden NIN auf der 91er-Lollapa!ooza-Tour, und mit „Head like a hole‘ kam ein
Jahr später der erste große Hit. Es folgten diverse EPs und zwei Alben. Das
letzte („The Downward Spiral“) kam 1994 heraus. Es wurde in dem Haus
aufgenommen, in dem die berüchtigte Manson-Family 1969 Sharon Tate umgebracht
hat. Danach hat er unter anderem die Soundtracks zu „Natural Born Killers“ und
„Lost Highway“ zusammengestellt. Und er hat so ganz nebenbei Marilyn Mansons
„Antichrist Superstar“ produziert und auf seinem Label herausgebracht. Zuletzt
half er dem Heavy-Metal-Gruftie Rob Halford (Ex-Judas-Priest) auf die Beine, in
dem er sein eher durchschnittliches Projekt „Two“ produktionstechnisch adelte.
„Trent konsumiert Musik wie ein Tier“, erzählt Halford, „er hört etwa 24
Stunden am Tag Sounds und projiziert sie auf seine Klangphantasie.“ Der
Schwermetaller war fast verstört über die Arbeitsweise von Reznor. „Er sitzt
eine halbe Stunde an der Gitarre, um Samples einzuspielen, dann geht er
fernsehen. Danach feilt er an einem Beat, kurz unterbrochen von einer Runde
Nintendo-Spielen, zwischendurch läuft andauernd der CD-Player.“
Wie ein Tier. Für das neue Album
hat Reznor erst einmal ein Jahr lang Samples und Geräusche erzeugt, um dann mit
dem eigentlichen Songwriting zu beginnen. Die eigentliche Songwriting-Phase
fand dann an einem Ort namens Big Sur statt. Die kalifornische Künstlerenklave
ist ein wunderschöner Küstenort, wo man keinen Menschen trifft und rund um die
Uhr das Meeresrauschen hört. Für Reznor war diese Isolation ein Alptraum, und
so gerieten die Fragmente, die er auf seinem Piano zusammenstellte, düster.
Kurz danach starb die Frau, die ihn großgezogen hatte — seine Oma —‚
elendiglich vor seinen Augen. Alles Faktoren, die die Entstehung von „The
Fragile“ in die Länge zogen. Für ihn zählte ohnehin kein Zeitdruck: „Es wird
veröffentlicht, wenn es fertig ist.“ Und fertig — nach Reznors Definition — ist
es/war es erst, wenn es den nötigen „Vibe“ hat. Schwer zu sagen, was er damit
meint, zumal er inzwischen an die 45 Stücke für das neue Album aufgenommen hat.
„The Fragile“, oder wie auch
immer die Doppel-CD heißen wird, dürfte das Meisterstück des „Musiktieres“
Reznor werden.
Reznor International
Remixes, Produktionen, diverse
Soundtracks und Computerspielgeräusche, Gastauftritte als Sänger und
Schauspieler bei anderen Künstlern - das alles gehört zur Ausnahmeerscheinung
Trent Reznor und der Bandbreite seiner Aktivitäten. So ganz nebenbei betreibt
er mit großem Erfolg eine Plattenfirma („nothing“) wo „… coole Bands machen können
was sie wollen und von mir die schmutzigen Seiten des Business erfahren“, wie
such immer das gemeint ist.
Im Grunde ist der „Konzern“ Reznor
in allen heute wesentlichen Unterhaltungsmedien vertreten, ohne dabei penetrant
zu sein. Allein die Tatsache daß Millionen Spieler von Quake oder „Doom“ seine
Musik beim virtuellen Bauern hören, macht ihn zu einem Star. Genauso die Fans
der Scoreboards von „Natural Born Killers“ oder „Lost Highway“, die den
jeweiligen Film nicht zuletzt wegen der wirkungsvollen Musik so mögen. Reznor
ist ein Star und viele die ihn dazu machen kennen ihn gar nicht.
„The Fragile“, so wagen wir zu
prognostizieren, macht aus dem „unknown star“ einen echten.
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