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Jahr 1999

 

 

 

Orkus

November 1999

Zerbrechliche Gefühlswelten

 

Interview: Mike Turner

Artikel: Anja Lochner

 

Viel Lärm um nichts, könnte man unken angesichts des ungeheuren Aufruhrs, in dem sich die gesamte Musikpresse seit einiger Zeit befindet. All das "nur" wegen eines neuen Nine Inch Nails-Albums, von "Alternative Press" als "eine der am meisten erwarteten Platten des Jahrzehnts" bezeichnet. Begonnen hatte der Trubel bereits Anfang letzten Jahres. Zunächst gab es nur Gerüchte. Die einen behaupteten zu wissen, dass Reznor jetzt Hip Hop machen würde. Die anderen wollten gehört haben, dass Nine Inch Nails jetzt Rockmusik spielten. Dann die Spekulationen um den Termin: Wann kommt es denn nun, kommt es überhaupt, das neue Album? Irgendwann hörte man dann aus zuverlässiger überseeischer Quelle, dass die Platte "The Fragile" heißen und am 21. September mit dreiundzwanzig Tracks und über einhundert Minuten Spielzeit, auf einmal schon als Import in den hiesigen Läden, noch bevor die Journaille auch nur einen Ton gehört hatte, geschweige denn Trent Reznor in Interviews zur Lage der Dinge im Hause NIN befragen konnte. Irgendwann ist es dann schließlich soweit und der Mann, den "Time Magazine" als einen der einflussreichsten Menschen in Amerika bezeichnete, findet sich zum Gespräch mit der Presse bereit - und zeigt sich verblüfft darüber, dass das Album hier vor dem eigentlichen Veröffentlichungstermin als Import zu erwerben war. Hat Reznor wirklich so wenig Einblick in die Dinge, die sich um ihn und seine Band herum zutragen? Noch einmal überrascht davon, dass man dies alles dahingehend interpretieren könnte, dass dem deutschen Markt bei weitem nicht soviel Bedeutung beigemessen wird wie dem amerikanischen, kommentiert Reznor: "Soweit mir bekannt war, wurde das Album überall zur selben Zeit veröffentlicht. Es kann gut sein, dass es in Deutschland drei oder vier Tage später herauskam. Wir hatten diesbezüglich schon immer einige Probleme, da die Plattenfirma hier es nicht auf die Reihe zu bekommen schein. Ich kann dir versichern, ob du es glaubst oder nicht, dass es nicht meine Absicht war, die Leute hier auszutricksen."

Dann wollen wir ihm mal Glauben schenken, dem dunklen Prinzen des Industrial, der sich auf seinen Platten gerne als ein der Welt entrückter Künstler porträtiert, der sich in seiner ganz eigenen, düsteren Märchenwelt zu befinden scheint. Zu dem Bild, welches Reznor auf "The Fragile" von sich zeichnet, meint er: "Es gibt keinen Unterschied nach außen hin auf meinen Platten zeige, vielleicht zeigt Letzteres das, was ich fühle, in einer verstärkten Form. Auf ´The Fragile', spüre ich das jedoch nicht. Alles ist insgesamt viel ehrlicher und mehr ich. Und noch etwas: Es fällt mir schwer, diese Dinge zu sagen, aber ich weiß, was ich sage. Ich habe erkannt, dass die beste Kunst, dich ich erschaffen kann, die ist, die ehrlich ist. Ich habe versucht, das herauszulassen, was ich bezüglich einer Vielzahl von Dingen fühlte."

In dem Sinn ist "The Fragile" genau das, was sein Titel andeutet, ein Album über verschiedenste, zumeist schmerzliche Gefühle, die in unterschiedliche musikalische Stimmungsbilder umgewandelt werden. "Ich hätte eine Platte aus all meinem Selbstzerstörertum machen können, einen lauten Industrial-Schlag ins Gesicht, der jedoch niemanden überraschen würde", so Reznor. "Niemand würde sich über mich lustig machen, und es wäre das Sicherste, aber auch Fadeste gewesen, was ich hätte machen können". Er fährt fort: "Ich kann aber auch eine Platte machen, die verschiedene Dinge erforscht und unterschiedliche Stimmungen ausprobieret, andere als die, die einen Schlag ins Gesicht darstellen würden. Bei dieser Platte passierte eines nach dem anderen. Zunächst musste ich den Mut finden, anderen Spuren zu folgen und zu sehen, wohin sie mich führen würden. Ich hoffte, dass alles am Ende einen Sinn ergeben würde."

 Mit dem Schluss von "The Fragile" wird deutlich, was Reznor meint. Das zentrale Thema des Albums offenbart sich - das Zerbrechen und Zerfallen von Dingen, Gefühlen, Systemen. Bald wird ersichtlich, dass sich die musikalische Umsetzung des Themas daran festmacht, der Platte einen zerbrechlichen und teilweise auch zerbrochenen Sound zu geben. Alles wir manipuliert, um dieser Idee zu entsprechen. Reznor erzählt von dem harten Weg von der Idee über die Erkenntnis bis hin zum Sinn: "Als wir mit der Platte anfingen, erkannte ich, dass ich dazu neigte, vieles zu sehr analysieren, zu sehr über alles nachzudenken. Als ich dann einfach alles fließen lies, kamen viele Dinge aus meinem Unterbewusstsein hervor. Das Stück ´La Mer', einer der ersten Songs, den wir für dieses Album aufgenommen hatten, hörte sich zunächst nicht nach Nine Inch Nails an. Ich weiß noch heute nicht, was zum Teufel dieses Stück ist, aber es gefällt mir. Da erkannte ich, dass das Konzept von Nine Inch Nails das sein kann, was immer ich möchte, und dass ich lediglich dafür verantwortlich bin, dass es Sinn ergibt. Indem du Risiken eingehst, kannst du natürlich auch leichter scheitern. Mir ist sehr wohl bewusst, dass nicht alles, was auf mir hervorgeht, gut oder wertvoll ist."

 Obwohl sich Reznor selber dessen bewusst ist, scheint die Welt ihn auch angesichts von "The Fragile" noch immer gerne als den Übermusiker des Industrial sehen. "Die Medien sind offenbar immer sehr bestrebt, die Dinge zu kategorisieren. Diese Platte klingt in meinen Ohren ganz anders. Ich denke nicht, dass ´Industrial' notwendigerweise das richtige dafür ist. Aus meiner eigenen Perspektive als Künstler heraus, habe ich jetzt mehr Selbstvertrauen und bin nicht mehr so besorgt darum, ob bestimmte Leute meine Arbeit gutheißen oder nicht". Dennoch scheint die Presse, besonders in Amerika, Reznor gleich einem Gott zu huldigen, einem sehr dunklen, versteht sich. "Ich habe gerade die Lebenskrise hinter mich gebracht, aus der ´The Downward Spiral' hervorging. Wir betourten das Album zwei Jahre lang. Alles war so verwirrend, und wir waren inzwischen in Amerika zu einer großen Band gewachsen. Viele Leute umschwärmten  uns und leckten unsere Stiefel. Jeder behandelte uns plötzlich anders, wir hatten auf einmal Geld, und eine ganz andere Art von Verantwortung lastete auf unseren Schultern. Ich erkannte, dass ich aufgrund meines jahrelangen Tourbus-Daseins von dieser Art von Energie und Bewunderung sowie seltsamen Erfahrungen umgeben war. Mein Charakter veränderte sich. Wenn man Macht erhält, kann einem das korrumpieren und verändern. Ich stellte fest, dass das Bild, was ich selber von mir hatte, anfing, auf dem zu basieren, was über mich geschrieben wurde oder darauf, was die Leute meiner Meinung nach von mir dachten. Ich habe mich immer als eine Person gesehen, die sich selber kennt. Aufgrund der Tatsache, dass die Musik, die ich mache, keine fröhliche Musik ist und zumeist von negativen Dingen handelt, die mir Sorgen oder Schmerzen bereiten, beschreiben mich die Leute gerne als jemanden, bei dem sich alles nur ums Düstere dreht, jemanden, der depressiv veranlagt ist."

 Reznor wird leicht defensiv, sobald er mit den Vorstellungen konfrontiert wird, die die Öffentlichkeit von  ihm hat. Wie immer im Fall von Menschen, deren Charakter und Lebensauffassung nicht der konventionellen Definition von Normalität entsprechen, scheint es auch im Fall von Trent Reznor so, dass die Leerstellen nach dem Gutdünken des jeweiligen Richters aufgefüllt werden. "Dass wir beispielsweise ´The Downward Spiral' in dem Haus aufnahmen, in dem Sharon Tate ermordet wurde, hatte nichts mit einer Art von morbider Faszination zu tun, die ich für einen Ort empfand, an dem extreme Gewalttaten vollbracht wurden. Andere zeigen sich beeindruckt davon, dass ich in New Orleans in einem Haus wohne, in dem früher der Sitz eines Bestattungsunternehmens war. Jedoch ging es mir auch hier lediglich darum, ein Haus zu finden, das groß und geeignet genug war, um darin ein Studio unterzubringen. Warum sollte ich also nicht dort einziehen? Es hatte nichts damit zu tun, dass ich mich bemühen wollte, dieser angsteinflößender Typ zu sein, hinter dessen Fassade jeder zu schauen versucht und der einen morbiden Lebensstil innehat."

 Nicht nur die Presse, auch ein ehemals freundlich gesinnter Musikerkollege und Mediendiktator hat in der Vergangenheit seinen Teil dazu beigetragen, ein wenig schmeichelhaftes öffentliches Meinungsbild von Reznor zu zeichnen. Was fühlte Reznor. Als er die ihm zugedachte Passagen aus Marilyn Mansons buch zu Augen bekam? "Ich war verärgert und traurig über die Art und Weise, wie sich die Dinge entwickelt hatten. Offensichtlich gab es einen Bruch auf einer freundschaftlichen Ebene, der nur ihn und mich betraf. Seine Entscheidung, darüber ein Buch zu schreiben, macht das Ganze nun zu einer öffentlichen Angelegenheit, zu der ich mich äußern muss. Ich denke, dass Ruhm und Geld manches verdrehen können. Es überrascht mich immer wieder, zu sehen, wozu manche Leute in der Lage sind, aber so etwas hätte ich ehrlich gesagt nicht erwartet. Es tut weh."

Interview: Mike Turner

Artikel: Anja Lochner

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