Die
englische Version könnt ihr hier nachlesen.
Das er seine Zelte in einem ehemalige Beerdigungsinstitut aufschlug,
schien nicht gerade auf eine zügige psychische Genesung zu deuten. Doch Reznor,
einst von Schwarzkitteln, Doomsday-Propheten und Selbstmordfanatikern als
Messias gefeiert, ist wild entschlossen, seine Dämonen endgültig abzuschütteln
- und auch mit Nine Inch Nails den musikalischen Orkus zu verlassen.
Man
schrieb das Jahr 1994, als Reznor "The Downward Spiral"
veröffentlichte - ein verstörendes Album, das den Abstieg eines Mannes bis an
den Rand der Selbstvernichtung nachzeichnete. Es war dasselbe Jahr, in dem sich
Kurt Cobain das Leben nahm und O.J. Simpson quer durch LA gejagt wurde. Fünf
Jahre her, erst, aber die Lebenserwartung von Poplegenden ist inzwischen ja
selten höher als die eines Pantoffeltierchens. Man erinnere sich nur, welche
Bands neben Nine Inch Nails bei "Woodstock ´94" auftraten: Deee-Lite.
Spin Doctors. Porno For Pyros. Remember? "Damals ereiferten sich alle über
das Pepsi-Emblem auf dem Woodstock_Logo", erinnert sich Reznor, "und
dass es nur ums Geld gehe. Hat dieses Jahr irgendwer vom Geld geredet?" In
den letzten fünf Jahren habe die Rockmusik "einen großen Haufen
geschissen". Er ist heilfroh, dass er nicht dabei war. Er hatte sich versteckt,
wie eine Zecke auf der Unterseite eines Blattes. Hatte aber immerhin Zeit und
Gelegenheit, die Soundtracks zu David Lynchs "Lost Highway" und
Oliver Stones "Natural Born Killers" zu produzieren. Und Marilyn
Mansons "Antichrist Superstar". Und er stellte "Closure"
zusammen, eine Video-Kollektion samt Tourtagebuch. Was alles die NIN-Fans
natürlich umso ungeduldiger aufs nächste Album warten lies. Aber Reznor war wie
vom Erdboden verschluckt. Der Mann mag nun mal keine halben Sachen. Wenn er
verschwindet dann tut er's gründlich.
Man
muss ein paar Stunden Zeit mitbringen, aber dann erzählt einem Reznor gern, was
er in der zweiten Hälfte der 90er alles getrieben hat, in dieser Phase,
die er ironisch seine "Sommerferien" nennt. Er hat auf kalifornischen
Klippen gehockt und gegrübelt, am Konzertflügel gesessen und vergeblich auf
Ideen gewartet. Er hat seine Großmutter verloren (die Frau, die ihn nach der
Trennung seiner Eltern großzog), er hat sich mit Marilyn Manson überworfen -
einem engen Freund, einem der wenigen Menschen, die Reznor in sein Leben lässt.
Er hat in zwei Jahren voller 16-Stunden-Tage ein Album namens "The
Fragile" fertiggestellt, das seine früheren Werke in den Schatten stellt.
Er hat Drogen und Schnaps durch Protein-Milchshakes und Jet-Skiing ersetzt. Hat
sich gefragt, ob er wohl eine Beziehung am Leben erhalten könnte - und
realisiert, dass er gerne eine hätte.
Viele
dieser Veränderungen geschahen in den "Nothing Studios" in New
Orleans, dem einstigen Beerdigungsinstitut, das Reznor 1995 gekauft und
umgebaut hat - eine Lokalität, die sich beim besten Willen nicht übersehen
lässt: Vor dem Eingang lungern ein paar Goth-Girls herum, und in der Bar
gegenüber hocke zwei in Lack gekleidete Gestalten und spähen adleräugig nach
Lebenszeichen. Aber außer der Steinfassade mit den getönten Scheiben gibt´s
hier nichts zu sehen. Eine wohlbewachte Stille geht von dem Gebäude aus, wie
vom Tresorraum einer Bank.
Die
Eingangstür hat ihre eigene Geschichte: Durch sie kamen 1969 Charles Mansons
Gefolgsleute in das Haus von Sharon Tate, um sie und vier andere
abzuschlachten. Reznor mietete das berüchtigte Haus in den Hollywood Hills 1993
und nahm dort "The Downward Spiral" auf. Die Türen nahm er mit, bevor
die Eigentümer das Haus abreißen ließen.
Einer
seiner Toningineure, ein stämmiger Kolumbianer, öffnet die Tür. Eine breite
Treppe führt in einen Raum im ersten Stock, wo früher vermutlich die Leichen
aufgebahrt wurden. Heute stehen hier ein paar Spielautomaten-Klassiker:
Robotron, Tempest, Space Invaders. Im Wohnzimmer ein abgesessenes schwarzes
Ledersofa, ein großer Fernsehr, eine noch größere Videosammlung ("Twilight
Zone"-Folgen, das gesamt Opus von John Walters) und an den Wänden die
Zweimeter-Leinwände von Russel Miller, die fürs "Downward-Spiral"-Cover
fotografiert wurden. Hinten im Haus eine gemütliche Küche mit einem Foto über
dem Ofen, das nach Woodstock ´99 aussieht: ein Typ, der sich in einem mächtigen
Schwall erbricht, während seine Freunde amüsiert zusehen.
Neben
der Küche eine mächtige Metalltür - der Eingang zum Regieraum, wo Reznor 90
Prozent von "The Fragile" aufnahm. Innen tonnenweise Equipment -
Effektgeräte, Keyboards, Computer, alles penibel und ergonomisch aufgebaut.
Reznor sitzt allein im vorderen Büro. Teppich und Wände tiefblau. Vor ihm summt
ein Macintosh.
Seine
Haare sind jetzt kurz, die langen Locken vergessen. Nicht das einzige, was sich
geändert hat. "Ich hab diese Platte aus diversen Gründen vor mit
hergeschoben", erklärt er," manche bewusst, manche unbewusst. Nicht
dass ich schon eine endlose Karriere hinter mir gehabt hätte, die mich nun
langweilen würde. Aber desillusioniert war ich doch." Er trägt schwarze
Jeans und schwarze, mit Isolierband zusammengehaltene Kampfstiefel. Und eines
seiner zahllosen schwarzen T-Shirts, deren aufgedrucktes Logo von seinen
musikalischen Vorlieben künden: Atari Teenage Riot. Jim Rose Circus Sideshow.
Nothing Records.
Reznor
spricht überlegt, leise, klar. Bevor er antwortet, macht er eine Pause, als
würde er seine Sätze fertig formulieren, bevor er sie an die Luft lässt.
"Als wir zur ´Downward Spiral'-Tour aufbrachen, waren wir eine kleine,
unbedeutende Band. Zweieinhalb Jahre später stiegen wir aus dem Bus, und alles
hatte sich verändert. Ich hatte Geld, alle krochen mir in den Arsch, und ich
hatte Freunde, von denen ich gar nicht wusste, dass ich sie hatte. Ich konnte
zusehen, wie ich mich selbst veränderte. Weil ich es durfte. So nach dem
Motto:´Was, ich kann dich wie Dreck behandeln und krieg trotzdem alles, was ich
will? Klasse!"
Er
bekam alles, was er sich so lange gewünscht hatte: die Mittel, sein Traumstudio
zu bauen, den Respekt seiner Kollegen und alle Freiheiten seitens der
Plattenfirma. "Was ich nicht hatte", fährt er fort, "war innere
Befriedigung." Und wie so oft, wenn etwas "an ihm kaut", wie
er's nennt, stürzt er sich in das nächste Projekt. die Produktion von Manson
"Antichrist Superstar". "Es war, als wären wir auf Tour
geblieben - nur ohne irgendwohin zu fahren. Die Manson-Truppe feiert jeden Tag,
da ist immer was los. Und da ich eh schon auf diesem seltsamen Trip war, kam
mir der Wahnsinn sehr gelegen."
Als
die Platte fertig war, zog der Zirkus weiter, und Reznor blieb zurück. Er
lacht: "Die Party ging ohne mich weiter. Da war's an der Zeit, mich wieder
mit mir und meiner Arbeit zu beschäftigen." Doch - die Leidenschaft aber
war futsch. Deprimiert ging er eine Zeit lang zum Psychiater: "Dann hörte
ich wieder auf, weil ich niemanden brauche, der mich zu Dingen überreden will,
die nicht gut für mich sind - Medikamente und so was. Immerhin habe erkannte
ich durch die ganze Prozedur, dass ich mich selbst nicht mehr mochte und mich
ernsthaft mit ein paar Sachen auseinandersetzen musste."
Er
verschrieb sich einen Tapetenwechsel und mietete ein Haus im kalifornischen Big
Sur, im Gepäck ein paar musikalische Fragmente und jede Menge emotionaler
Ballast. "Ich musste mich mal in aller Ruhe hinsetzen, um den Kopf
klarzukriegen. Und mir selber ein paar Ohrfeigen verpassen: ´Wenn du dich
wirklich umbringen willst, tu's auch! Wenn nicht, dann bring dich gefälligst
auf Vordermann.' Ich dachte, Big Sur würde eine schöne Auszeit. Von wegen.
Völlig isoliert auf einem Berg, der nächste Supermarkt ´ne Stunde entfernt. Ich
wollte nicht ich selber sein. Ich war nicht darauf vorbereitet."
Das
Zerwürfnis mit Marilyn Manson trieb ihn noch tiefer in die Vereinsamung. Manson
hatte sich vom engen Freund in einen Erzrivalen verwandelt. "Keine
Details. Jedenfalls können Erfolg und Macht einen Menschen ganz schön
verändern. Er ist sicher nicht allein schuld, aber er hat mich ein paar mal
verletzt, als ich ganz, ganz unten war. Eine beschissene Art, ihn zu
verlieren." Reznor steht auf und sieht zur Tür. "Das ist hart. Man
betrachtet essenzielle Dinge auf einmal ganz neu: War ich blind? War ich blöd? Aber
eigentlich will ich da gar nicht drüber reden… Ich geh mal pinkeln."
Weg ist er. Nicht zum letzten Mal. Wenn unsere Gespräche zu persönlich werden,
passiert es leicht, dass Reznor sie höflich beendet und schnell den Raum
verlässt.
Trent
Reznor ist ein Netzwerk wohlbalancierter Widersprüche. Seine Musik kann
terrorisieren wie eine Motorsäge und zwitschern wie eine Nachtigall. Manchmal
beides in denselben vier Minuten. Vor "The Fragile" hat er fast
ausschließlich mit elektronischen Instrumenten gearbeitet, ihren Chips und Bits
dabei aber durchaus erdige Wärme abgerungen. So sehr seine Musik
"Fuck you" brüllt, flüstert sie "Liebt mich". Sie kann
simpel klingen, ist aber höchst komplex ineinander verschachtelt. Reznor
entfesselt Chaos, ist aber klug genug, es zu zügeln. Nine Inch Nails klingen
verzerrt, brutal, industrial, aber es steckt ein Groove darin, den man nicht
lernen kann - wie bei Prince oder Sly Stone.
Seine
Texte, sagt er, kommen aus dem Bauch. Was er aus Tagebuch-Einträgen
zusammenklaubt, ist sehr persönlich und verrät gleichzeitig nichts über ihn.
Mit mikroskopischem Blick seziert er sich selbst und gibt doch unumwunden zu,
dass er vor seinen Problemen davonläuft. Vor allem aber ist Reznor ein
Getriebener, besessen von einer Vision, die nur er selbst ganz überblickt.
Und
am stärksten ist er mit dem Rücken zur Wand: "Am besten sagt man ihm, dass
ein Song nicht funktioniert", verrät Alan Moulder, seines Zeichens
Produzent von "Mellon Collie And The Infinite Sadness" der Smashin
Pumpkins und nun Co-Producer und Techniker von "The Fragile".
"Wenn er das Gefühl hat, etwas besiegt ihn, kämpft er so lang, bis er
gewonnen hat." Moulder muss es wissen: Zwei Jahre hat er mit Reznor an
dieser Platte gearbeitet und miterlebt, wie aus einem planlosen Sammelsurium
instrumentaler Schnipsel eine zweistündige Klangreise wurde.
Die
beiden begannen mit den Fragmenten, die Reznor gesammelt hatte - manche in Big
Gur die meisten danach. "Ich wollte mir erlauben alles rauszulassen, was
kam - ohne darüber nachzudenken, wohin das führen würde", erklärt Reznor.
Jedes Experiment war erlaubt, keine Uhr lief. Reznor, am Klavier klassisch
ausgebildet und bewandert im Umgang mit Synthesizern, fühlte sich plötzlich zur
Gitarre hingezogen. "Ich bin auf Tasteninstrumenten ziemlich gut, vom
Gitarrespielen versteh ich nicht soviel. Das ist eine Limitierung, die mir nun
einen emotionalen Zugang zu der Musik ermöglichte: Du schlägst die Saiten mit
der Hand, das Instrument kann sich verstimmen, manche Töne scheppern. Es macht
die Sache, nun ja, fragiler."
"Keine
Idee wurde sofort verworfen, keine", sagt Moulder. "Das
ungeschriebene Gesetz hieß: ´Wir probieren alles aus' Wir konnten einen ganzen
Tag damit zubringen Pappkartons und ein Ölfass heranzuschaffen. Dann stellten
wir Mikrofone dran und Trent trommelte. Der Marsch-Sound in ´Pilgrimage' - das
ist eine Schachtel voller Kleinkram, die wir geschüttelt haben."
Nach
einem Jahr hatte Reznor nichts weiter als einen "abstrakten Klumpen"
von Platte. Er hatte ohne roten Faden angefangen - jetzt brauchte er
einen. Sie holten den Produzenten Bob Ezrin, dessen Arbeit an Pink Floyds
Monumentalwerk "The Wall" Reznor immer beeindruckt hatte. Er kam für
eine Woche nach New Orleans un sortierte das Material so lange hin und her, bis
stimmte. In der Tat ist "The Fragile" im Kern eine Reise - eine
Odyssee voller (alb)träumerischer Bilder und unerwarteter Wendungen. Sie
beginnt im Nebel, endet im Niemandsland - und hinterlässt das Gefühl, dass man
viel gesehen, aber kein Ziel erreicht hat…
Wir
sind auf den Bahamas. Der Wind wirbelt durch Reznors Haar und reißt ihm fast
das T-Shirt vom Leib. Er sitzt ganz vorn in einem Motorboot, das über die
Wellen vor Nassau hüpft. Nach fünf Tagen Proben ist er mitsamt seiner Band auf
dem Weg zu einer kleinen Insel für einen freien Tag. Hinten blödeln Keyboarder
Charlie Clouser und Gitarrist Robin Finck, lassen den Fahrtwind in ihre Wangen
fahren und ihre Gesichter zu Grimassen verzerren. Dies sind nicht mehr
dieselben grimmigen Grufties, die vor vier Jahren eine Spur zertrümmerter
Keyboards hinter sich ließen. Sie sagen selbst, sie hätten sich verändert - und
dass das bitter nötig war. Die Tournee hieß nicht umsonst The Self-Destruct
Tour.
Bevor
sie in Nassau mit den Proben begannen, machten sie ein paar Tage Urlaub,
schwammen mit den Riffhaien, schnorchelten und brausten mit Jetskis übers
Wasser. "Schon jetzt klingt die Musik besser als damals, wenn wir in
Topform waren", sagt Reznor zufrieden. "Der neue Drummer, Jerome
Dillon, verändert wirklich unseren Sound." Vor zwei Jahren ging Drummer
Chris Vrenna im Streit - neben Reznor der Einzige, der von Anfang an dabei war.
"Ich war halb erleichtert. Er fehlt mir als Freund, aber musikalisch
gesehen hat es uns befreit."
Nine
Inch Nails haben sich in den Compass Point Studios eingemietet - dem
Aufnahmekomplex, den Chris Blackwell in den 70ern eigens für Bob Marley baute,
weil der keine Arbeitsgenehmigung in den USA bekam. Im holzverkleideten
Hauptraum, wo Marley "Survival", Exodus und "Kaya" aufnahm,
steht das gesamte Equipment der Band. Ein zweiter Regieraum dient Reznor als
Büro, und das angeschlossene Studio wurde zum Fitnessraum umfunktioniert:
Reznor hat seine Trimm-Geräte aus New Orleans mitgebracht. Auf einem Tisch
stehen Vitaminpillen, Proteinpülverchen und - aha! - eine Flasche "Mega
Creative Fuel".
Als
die Musiker sich am Abend vor dem Inseltrip zu einer Probe versammeln, kann man
die Chemie zwischen ihnen förmlich spüren. Im Gespräch mag Reznor scheu und
vorsichtig sein - sobald er von einem Mikro steht, ist er wie ausgewechselt.
Die Band stürzt sich mit Verve auf ältere Songs wie "Suck",
"Terrible Lie", "March Of The Pigs" und "Down In
It", als täte sie seit Monaten nichts anderes. Wir sind nur drei Leute im
Publikum, aber die Musiker stehen unter Strom, spielen mit geschlossenen Augen
und hüpfen auf und ab, als wären's 3000.
Keine
Frage: Sie meinen's ernst. Und auch die Tatsache, dass sie einige Tage später
bei den "MTV Video Awards" auftreten werden, kann Reznors heiligen
Zorn nicht bremsen. "Wenn du jetzt MTV einschaltest", sagt er und
verzieht's Gesicht, als sei ihm ein fauler Geruch in die Nase gestiegen,
"dann steht da garantiert Kid Rock, sagt allen ungebeten die Meinung oder
verlost irgendeinen Stuss mit Sumo-Ringern und verkehrtherum angezogenen
Hosen." Reznor war mit Aufnahmen beschäftigt, als Woodstock 1999 stieg,
aber er hatte den Fernseher eingeschaltet. "Es war der größte Scheiß, den
ich je gesehen hab. Ein Gipfeltreffen von allem, was derzeit schlecht ist. Es
sprang mich geradezu an - wie da überhaupt keine Musik irgendeine Bedeutung
hatte! Von Rage Against The Machine einmal abgesehen."
Am
nächsten Tag, auf der unbewohnten Insel, springt er als Erster aus dem Boot und
erkundet das Eiland, das kaum mehr als ein von Felsen umrahmter Streifen Sand -
bevölkert von Krebsen, die über den Strand und die Palmen hochkrabbeln.
"Das hier ist der Chef." Reznor zeigt auf ein faustgroßes
Muschelhaus. "Heb ihn auf, die beißen nicht", lockt er einen der
Toningenieure. Der greift zu. Der Krebs auch. "Hat das etwa
wehgetan?" fragt Reznor und grinst scheinheilig.
Er
geht zu einer Steintreppe, die ins Meer führt. Das Wasser unten ist tiefblau
und ruhig. Ganz anders als Big Sur. "Da stieg man so eine wacklige Leiter
zu einem nicht besonders einladenden Strand hinunter: krachende Brandung,
moosige Felsen, komisches Getier. Hat mir Angst gemacht. Und brachte einiges in
meinem Leben auf dem Punkt. Zum Beispiel: `Ich sollte das jetzt genießen. Tu
ich aber nicht.' Ein sehr spiritueller, reinigender Ort. Aber all meine
Antennen empfingen irgendwie nur alles Schlechte." Eine schwierige Zeit,
die sich aber gelohnt hat. "Vor mich hin zu träumen und nur dazusitzen,
das war wie ein Katalysator. Eine Kraft, die auch in manchen der Texte wieder
auftaucht." Und die die Selbstmordgedanken von "The Downward
Spiral" wegspülte. "Ich hatte einen kleinen Flirt mit dem
Abgrund", sagt Reznor dunkel, "und ich will da nicht mehr hin. Mit
Selbstmordgedanken zu spielen, wenn man schreibt ist eine Sache. Aber dann
wirklich da zu landen, das ist was anderes. Überhaupt nicht lustig. Gar nicht
romantisch."
Für
seinen Nihilismus gilt das Gleiche. "Ich hab immer noch was gegen jede
organisierte Religion. Ist für mich immer noch ein Haufen Scheiße. Aber aus
dieser Haltung heraus sah ich irgendwann nur noch Chaos: `Ich brauche nichts.
Ich brauche niemand. Es gibt keinen Grund für irgendwas.' Inzwischen glaube
ich, dass wir alle irgendwohin gehören wollen, dass wir Teil eines Größeren
sein wollen."
Er
erzählt von der Arbeit mit anderen Leuten im Studio und vom Kontakt zu Leuten
außerhalb der Musik. "Ich hab unendlich viel aufgegeben für das hier. Ich
schau mir Freunde von Früher an, die jetzt verheiratet sind und ihre Häuser
abbezahlen. Die haben eine Sicherheit und eine Normalität, die sie vielleicht
lieber nicht hätten, aber ich denk dann oft: `Scheiße, dieses Leben hat
durchaus auch positive Seiten'."
Oft
wünscht er sich die Sorte Leben auch für sich selbst, geht aber davon aus, dass
er mit der Phase davor noch nicht fertig ist. "Wenn ich etwas tue, dann
steig ich total drauf ein. Ich lass nicht zu, dass mir irgendetwas in die Quere
kommt. Ich weiß, was ich erreichen kann, und das sind schon große Dinge. Aber
irgendwie sind sie auch schal und seicht. Ich sag ja schon lange, dass ich auch
mal ein Kind will." Er wirft gedankenverloren einen Stein ins Wasser.
"Aber ich möchte warten, bis ich wirklich bereit bin, viel Zeit in die
Familie zu investieren. In diesem Augenblick passt's noch nicht."
Reznor
hat andere Pläne. Er will noch eine Band ins Leben rufen - eine, in der er
selbst nicht spielt. "Ich will alles das machen, was ich bei Nine Inch
Nails mache, aber nicht singen. Das gefiel mir bei der
Marilyn-Manson-Produktion - dass ich an der Musik arbeiten konnte, ohne selbst
unter Druck zu stehen." Er sammelt bereits Tapes. Und sucht nach
einer Sängerin. "Es muss genau passen. Ohne Genre-Grenzen, aber soulful.
Eben nicht Nine Inch Nails mit einer Frau." Filmmusik interessiert ihn
auch nach wie vor. "Klingt vielleicht abgedroschen, aber mir gefällt die
Vorstellung, auch mal was tiefer in die Musik einzusteigen - ohne die
Limitierungen von Popmusik und Prominenz."
Hoffentlich
bleibt ihm da noch Zeit, neue Freunde zu gewinnen. Er hat nämlich nicht viele.
"An Weihnachten bin ich oft ziemlich gefrustet, weil ich nicht in einer
Beziehung lebe und nicht weiß, wo ich hin soll." Meistens fährt er nach
Hause, nach Mercer/Pennsylvania, eine ländliche Kleinstadt im Lande der Amsih
People. Er spielt Klavier, unterhält sich mit seinem Vater über Computer, besucht
seine Schwester und den Großvater in jenem Haus, in dem er aufgewachsen ist.
"Mercer war für mich immer dieses Scheißkaff, aus dem ich unbedingt weg
wollte. Das machte mich ehrgeizig, das zog mich zu Science-fiction, zu
Horrorfilmen und Kiss." Inzwischen hat er seine Wurzeln akzeptieren, ja
sogar schätzen gelernt. "Ich hab kapiert, dass Mercer etwas Langsames,
In-sich-Ruhendes hat, das seinen eigenen Wert hat." Schiefes Lächeln.
"Ich glaub trotzdem kaum, dass ich dahin zurückziehen werde." Bleibt
nur zu hoffen, dass die Mercianer ihrem berühmten Spross kein Denkmal setzen.
"Ich wäre der Erste, der Farbe draufsprüht. Oder Titten draufpappt."
Reznor
ist Mitte 30. Die meisten seiner Freunde sind jünger - und er fühlt sich auch
so. Meistens jedenfalls. "Komisch ist vor allem, wenn ich jemand in meinem
Alter anschaue und denke: `Mann ist der alt'."
Reznor
stupst ein Krabbeltierchen, das an einem Felsen hängt. Er rührt sich nicht.
"Könnten wir ´ne kleine Pause machen?", fragt er uns sieht zu seinen
Leuten hinüber, die am Strand herumtollen. "Ich möcht ´ne Weile mit den
anderen abhängen." Er läuft zu ihnen hinüber. Aber dann - geht er an ihnen
vorbei, zum Wasser.
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