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Jahr 2000

Gitarre und Bass

Januar 2000

Nine Inch Nails - Trentwende

von Marcel Anders

 

Er gilt als Nihilist, als Menschenfeind und arroganter Kotzbrocken. Ein Image, mit dem Nine-Inch-Nails-Chef Trent Reznor (g) nur zu gerne kokettiert. Dabei hätte der 35-Jährige das gar nicht nötig: Sein neues Album „The Fragile“ ist eine musikalische Offenbarung, die monumentale Länge mit innovativen Ideen auffüllt. Ein Meilenstein, der weit über die Grenzen des Industrial-Rock hinausgeht – und der ist Reznor ohnehin viel zu eng geworden.

Ob die finsteren Abgründe von Jim Morrison, das Selbstzerstörerische eines Brian Jones oder die Todessehnsucht von Ian Curtis - visionäre Rock-Musik liefert seit jeher den Soundtrack zum Flirt mit dem Jenseits. Eine Tradition, die sich bis in die Gegenwart fortsetzt—vor allem im Underground. Hier gibt es viele kleine Nischen, die ihre ureigenen Spielarten propagieren: Gothic, Wave, Metal oder auch Industrial. Eine Klangfarbe, die der 80er von Benelux (Front 242, Trisomie 21) nach Amerika überschwappte und dort einen dankbaren Nährboden rund um das Chicagoer Kultlabel Wax Trax fand. Zu den wichtigsten Bands der Szene zählen Acts wie Skinny Puppy, Ministry, KMFDM oder auch Nine Inch Nails. Ein klassisches Ein-Mann-Projekt, dessen Mastermind Trent Reznor sich mit nihilistischen Texten und martialischen Beats in die Herzen der amerikanischen Jugend spielte. Dabei ist der schmächtige Multi-Instrumentalist ein exzentrisches Studio-Genie, um den sich reihenweise Legenden ranken: Er arbeitet nur mit der Creme de la Creme (an Musikern wie Produzenten), leitet ein regelrechtes Imperium aus Studio und Plattenfirma („Nothing Records“) und gilt als Freund nicht minder exzentrischer Stars. So hat er Rammstein remixt, Marilyn Manson entdeckt, mit David Bowie kollaboriert und von seinem letzten Album ‚The Downward Spiral‘ gleich mehrere Millionen umgesetzt. Doch das liegt in zwischen fünf Jahre zurück. Eine Zeit, in der Reznor vor allem mit Soundtracks (zu „Natural Born Killer“ und „Lost Highway“) und Computerspielen in Erscheinung trat. Jetzt ist er wieder da — und klingt gleich ganz anders. Sein neues Epos ‚The Fragile‘ setzt weniger auf gebündelte Aggressivität, als auf große Gefühle und epische Sound-Gemälde. Ein neuer Trent?

G&B: ‚The Fragile‘ geistert schon seit Jahren durch die Medien. Warum hat die Produktion eigentlich so lange gedauert?

Reznor: (lächelt) Du darfst nie vergessen, dass wir in Amerika eine ganze Spur größer sind, als im Rest der Welt. Allerdings konnten wir uns auch dort nie darauf verlassen, dass wir im MTV oder Radio laufen. Also mussten wir endlose Tourneen bestreiten — das war die einzige Möglichkeit, um überhaupt ein wenig Aufmerksamkeit zu erzielen. Für ‚The Downward Spiral‘ waren wir fast zwei Jahre unterwegs. Und das war einfach unglaublich zeitraubend. Danach war ich so ausgebrannt, dass ich gar nicht daran denken konnte, ein weiteres Album aufzunehmen, Ich hatte einfach das dringende Bedürfnis, mein Leben in den Griff zu kriegen. Denn als wir zur ‚Downward Spiral‘ Tour aufbrachen, waren wir eine mittel große Band, und als das Ganze abgeschlossen war, waren wir einfach riesig. Kein Wunder, dass sich so viele Dinge geändert haben und ich erst einmal einen Gang zurückschalten musste. Zudem war ich ohnehin nicht bester Laune. Und aus diesem Loch zu klettern, hat eben seine Zeit gedauert. Hin zu kommt, dass ich im Vorfeld von ‚The Downward Spiral‘ genau wusste, was ich wollte. Und das war bei diesem Album eben nicht der Fall. Mir fehlte einfach die Motivation.

G&B: Du hast dich in deiner eigenen Downward Spiral verfangen?

Reznor: Und wie! Ich bin nach zwei Jahren aus dem Tour-Bus geklettert und direkt wie der mit Marilyn Manson ins Studio gegangen, und das war wirklich eine Schnapsidee. Ich hatte eigentlich gar keinen Bock auf Musik. Dabei kommen die besten Songs doch immer von innen. Sie basieren auf Gedanken und Gefühlen, auf Ruhe und Zeit. Aber ich hatte ja keine Möglichkeit, mich selbst zu reflektieren. Also habe ich das Album zunächst auf Eis gelegt und mich stattdessen mit vielen kleinen Projekten beschäftigt — bis ich irgendwann den Punkt erreichte, an dem es hieß: Entweder machst du jetzt ein Album, oder du lässt es bleiben.

G&B: Demnach waren die Soundtracks, an denen du gearbeitet hast, nur kleine Fluchten vor dir selbst?

Reznor: Irgendwie schon. Ich habe so getan, als wäre ich wahnsinnig beschäftigt, dabei habe ich letztlich die Beine hochgelegt. Im Rückblick weiß ich, dass ich mir die Eier geschaukelt habe. Aber ich hatte einfach keine zündenden Ideen, um noch einmal so etwas wie ‚The Downward Spiral‘ aufzunehmen. Weißt du, es gibt nichts Besseres, als ein Album zu machen, das selbst den höchsten Qualitätsanforderungen entspricht. Aber genau daran war eben nicht zu denken. Also habe ich viel Zeit darauf verwendet, darüber nachzudenken, was ich will und wie ich dahin komme. Es ging nicht darum, ein Star zu sein oder jede Menge Geld zu verdienen, sondern um die Musik an sich. Schließlich ist das die einzige Möglichkeit, um mich auszudrücken und mir ein Glücksgefühl zu bescheren. Auf diese Weise kann ich den ganzen anderen Mist um mich her um vergessen.

G&B: Beziehst du dich jetzt auf die reißerischen Artikel, in denen du als Nihilist, Menschenfeind und arrogantes Arschloch dargestellt wirst?

Reznor: Exakt. Es ist schon komisch, aber nach ‚The Downward Spiral‘ bin ich ein ganz anderer Mensch geworden. Ganz einfach, weil ich es nicht verarbeiten konnte, so viele unterschiedliche Meinungen zu meiner Person zu hören. Schließlich konzentrieren sich die Medien immer auf die dunkle, beklemmende Seite der Musik und leiten daraus alles Weitere ab. Dadurch kann sich dein Image sehr schnell verlagern. Du wirst so oft als dunkle, finstere Persönlichkeit dargestellt, dass du letztlich selbst daran glaubst. Du wirst zu dem, was man von dir erwartet. Zumindest war das bei mir so. Wenn du so lange auf Tour warst und ständig von Leuten umgeben bist, die dich hofieren und dir regelrecht den Arsch küssen, dann verlierst du einfach die Bodenhaftung. Das ist ganz normal.

G&B: Also musstest du erst mal eine schöpferische Pause einlegen?

Reznor: Ganz genau. Weißt du, zum Glück hatte ich etwas Geld verdient und konnte mir ein Studio in New Orleans einrichten. Ich wollte mich einfach nur für ein paar Monate hinsetzen und in aller Ruhe darüber nachdenken, wo ich momentan stehe, wo ich hin will und wie ich dahin komme. Das Problem war nur: Ich war völlig unzufrieden mit mir und meiner Welt. Ich hatte dieses unbestimmte Gefühl, als hätte ich schon alles erreicht. Doch das hat mir entgegen aller Erwartungen kein Glücksgefühl gegeben. Im Gegenteil. Als Mensch war ich völlig am Ende: Leer, ausgebrannt und todunglücklich.

G&B: Und daraus resultierte dieser eiskalte, selbstsüchtige Trent, von dem u. a. Courtney Love immer wieder spricht?

Reznor: Lass mich bloß mit dieser Kuh in Ruhe! (lacht) Nein, es war einfach so, dass ich ohnehin nicht leicht mit Leuten warm werde. Schon gar nicht in einer Position, in der du ständig davon ausgehen kannst, dass jeder, den du triffst, etwas von dir will. Also muss ich erst einmal herausfinden, worin ihre Absichten bestehen. Das isoliert mich. Zwischenzeitlich war ich sogar richtig einsam. Ich habe mich selbst nicht gemocht. Der einzige Ausweg bestand darin, neuen Spaß an der Musik zu entwickeln und seine Wurzeln wiederzufinden. Eben, warum du dich überhaupt damit beschäftigst, was dir daran gefällt und was du ausdrücken möchtest. Dafür habe ich ziemlich lange gebraucht. Als ich dann so weit war, hatte ich auch keine Angst mehr davor, ein neues Album aufzunehmen und mich über längere Zeit damit zu befassen. Die Blockade war wie weggeblasen. Ich war voller Energie und fand die Aufnahmen großartig. Als dann noch Alan Moulder als Co-Produzent hinzustieß, wusste ich, dass wir uns auf einer regelrechten Reise befinden. Und weil wir hier ein vollkommen ausgestattetes Studio besitzen, konnten wir uns alle Zeit der Welt lassen. Also haben wir viele unterschiedliche Pfade ausprobiert. Einige davon erwiesen sich zwar als blanke Zeitverschwendung, aber letztlich haben wir auch aus unseren Fehlern gelernt.

G&B: Dabei können fünf Jahre ohne Album heutzutage fast tödlich sein. Ist es nicht ein beängstigendes Gefühl, so lange an einer einzigen Platte zu basteln, während dir Bands wie Korn, Orgy oder Limp Bizkit die Fans wegnehmen?

Reznor: Definitiv! Aber mal ehrlich: Ich hätte ja auch ein Album veröffentlichen können, mit dem ich nicht wirklich zufrieden gewesen wäre. Doch dieser Karriere-Aspekt ist eben längst nicht so wichtig, wie die Musik. Natürlich mache ich mir Sorgen, ob überhaupt noch Interesse daran besteht, denn unter kommerziellen Aspekten war diese Pause sicherlich alles andere als gut. Aber einfach etwas auf den Markt zu werfen, hinter dem ich nicht stehe, wäre bestimmt noch schlimmer gewesen. Die Musik ist das Allerwichtigste. Sie ist eine Kunst, die unglaublich wertvoll ist. Was die Vermarktung und Präsentation betrifft, so ist die nur zweitrangig. Kann sein, dass ich mir und meiner Karriere mit diesem Ansatz einen irreparablen Schaden zugefügt habe, aber ich hatte nun einmal keine Wahl.

G&B: ‚The Fragile‘ wartet mit etlichen Neuerungen auf. Zum Beispiel was den Einsatz von Streichern betrifft oder dieses riesige stilistische Spektrum, das von Soundtracks über harte Lärmattacken bis hin zu regelrechten Popsongs reicht. Das Ganze ist wie ein Trip, der seinen Hörer völlig verein nahmt.

Reznor: Da hast du vollkommen Recht. Aber um noch mal auf das Geschäftliche zurückzukommen: Für meine Karriere könnte dieses Album zwar der reinste Selbstmord sein, aber meine Lieblingsalben, mit denen ich aufgewachsen bin und die mich am meisten inspiriert haben, waren eigentlich nie die Platten mit den meisten Hits, sondern diejenigen, an die man sich erst langsam gewöhnen musste — die mit jedem Hören gewachsen sind und dem Zuhörer wirklich etwas abverlangt haben. Und genau das kommt in der heutigen Musik viel zu kurz. Deswegen genieße ich es ja auch so, den Horizont der Leute mit einem solchen Album zu öffnen. Und was Nine Inch Nails betrifft, so hat sich der Ansatz sowieso längst verlagert. Als wir anfingen, hätte ich nie da mit gerechnet, dass wir überhaupt so ein großes Publikum erreichen würden. Aber in zwischen schreiben auch wir Hooks, Refrains und Melodien, die sich in deinem Hirn festsetzen. Und nachdem wir erst einmal den Sprung vom Underground in die Arenen der amerikanischen Vorstädte geschafft hatten, fand ich die Idee, mit dem Mainstream zu flirten, gar nicht so abwegig. Es ist doch toll, sich bei den Leuten einzuschmeicheln und gleichzeitig völlig subversiv zu sein. Du gibst ihnen etwas, auf das sie stehen und schiebst dann etwas völlig Unverdauliches hinterher. Erst dadurch gewinnt das Ganze an Tiefe.

G&B: Die Hauptthemen auf diesem Album sind Emotionalität, Schwäche und Zerbrechlichkeit. Was ist aus dem harten, kompromisslosen Trent geworden — oder ist das nur eine andere Seite von dir?

Reznor: Ich finde, bei diesem Album geht es erstmals darum, zu seinen Gefühlen zu stehen, während ich früher doch nur mit den Muskeln spielen und einen möglichst harschen, brutalen Sound kreieren wollte. Das war wie ein Schutzschild, das es unmöglich machen sollte, dass jemand einen Zugang zu uns und der Musik findet. Heute sieht das ganz anders aus. Man kann uns in Ruhe betrachten, uns näherkommen und sich in uns hineindenken. Das liegt daran, dass alles viel weicher und zerbrechlicher angelegt ist. Eben so, als ob es jeden Augenblick auseinander fallen oder vom Wind fortgetragen würde. Nichts ist solide oder standfest, schon gar nicht dauerhaft. Das gilt auch für die Songs, die erstmals von einem Überraschungsmoment leben. Sie fangen irgendwo an und nehmen dann einen ganz anderen, unvermittelten Verlauf. Das ist etwas, was ich noch nie gemacht habe, und was mir ein tierisches Vergnügen bereitet. Ich füge Sachen zusammen, die ursprün lich gar nicht zueinander passen, und mache etwas standfest, was von Natur aus fragil und zerbrechlich ist.

G&B: Du meinst eine menschlichere Art von Musik?

Reznor: Ja, ganz genau. Dieses Album ist einfach viel organischer. Das liegt allein daran, dass wir größtenteils akustische Instrumente verwendet haben und keine Synthesizer. Ganz einfach, weil ich diesmal viel mehr Wert auf Kleinigkeiten wie Texte, Arrangements und Melodien gelegt habe. Es ging nicht mehr darum, dem Hörer in die Fresse zu schlagen, sondern eine warme, spannende und intensive Atmosphäre zu kreieren.

G&B: ‚The Fragile‘ entstand mit so berühmten Studio-Cracks wie Adrian Belew, Steve Albini, Mike Garson, Page Hamilton oder Bill Rieflin. Hat dir deine eigene Crew um Charlie Clouser und Danny Lohner nicht mehr gereicht?

Reznor: Das sind alles Leute, die ich irgendwann zu verschiedenen Anlässen kennen gelernt habe. Mike Garson traf ich etwa auf der gemeinsamen Tour mit David Bowie, und er ist bestimmt der intelligenteste Musiker, den ich je getroffen habe. Vom Musikalischen her ist er absolut perfekt. Er weiß einfach alles, und sich mit ihm zu unterhalten, ist ein Traum. Wir haben uns darauf verständigt, irgendwann mal zusammen zu arbeiten und dazu ist es denn auch bei einigen Tracks gekommen. Mit Adrian Belew hatte ich schon bei ‚The Downward Spiral‘ zu tun. Seine Gitarrentechnik ist einfach brillant. Außerdem muss man ihm nicht sagen, was er zu tun und zu lassen hat, er weiß es von selbst. Du kannst ihm problemlos 30 Songs an den Kopf werfen, und er legt einfach los und steuert seine Parts dazu bei. Wir haben alles aufgenommen, durch den Computer gejagt und anschließend nach unseren Vorstellungen verwendet. Nicht immer an den ursprünglich vorgesehenen Stellen, aber darüber braucht er sich ja keinen Kopf zu machen.

G&B: Auf einem Track des neuen Albums kooperierst du mit Rap-Ikone Dr. Dre. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?

Reznor: Nun, wir haben uns zufällig in einem Studio in Los Angeles kennen gelernt und kamen ins Gespräch. Ich wollte wissen, wie er diesen ganz speziellen Sound hinkriegt, den alle seine Songs besitzen. Daraus hat sich dann eine regelrechte Freundschaft entwickelt, und ich kann nur sagen, dass er völlig anders arbeitet als wir, und es wirklich interessant war, ihn dabei zu beobachten. Wir haben zunächst mit ein paar Tracks rumgespielt, hatten aber leider keine Zeit, sie zu beenden. Wir haben uns aber in den nächsten Wochen hier in New Orleans verabredet, um sie fertig zu stellen. Mal sehen, was sich daraus entwickelt — es wird aber bestimmt weder nach Nine Inch Nails noch nach Dr. Dre klingen, sondern etwas völlig Neues werden.

G&B: Stimmt es, dass du alles archivierst, was du je aufgenommen hast? Das müssten inzwischen zigtausend DATs und Bänder sein.

Reznor: Oh, du glaubst es nicht, was sich da angehäuft hat. Natürlich könntest du jetzt argumentieren, dass dieser Prozess des ewigen Ausprobierens und Experimentierens einfach lächerlich ist und viel zu viel Zeit kostet. Aber es ist nun einmal so, dass ich im Endeffekt alles alleine mache und die meisten Songs auf endlosen Jams basieren. Also gibt es irgendwo einen vierstündigen Mitschnitt, wie ich Gitarre spiele, wovon aber nur zwei Strophen verwendet werden — oder auch nur ein einziges Riff. Aber aus diesen vier Stunden basteln wir dann 30 verschiedene Varianten. Kannst du dir vorstellen, wie lange es dauert, das abzuhören und zu entscheiden, was gut und was weniger gut klingt? Deswegen liebäugle ich schon seit Jahren mit einer ganz bestimmten Idee: Ich würde den ganzen Kram liebend gerne jemandem übergeben und dann einfach nur sagen: „Hör dir das an und pick dir die wichtigsten Parts raus!“ Denn zu jedem Sound und jedem Song, den du auf der Platte hörst, gibt es noch zehn alternative Versionen, die wir ebenfalls fertig gestellt, letztlich aber wieder verworfen haben. Auf diese Weise entsteht ein riesiger Daten-Wust.

G&B: Dein Studio befindet sich in einer ehemaligen Leichenhalle. Inspiriert dich diese morbide Atmosphäre?

Reznor: Im Grunde war es so, dass ich hier hergezogen bin, ein Haus gekauft habe und dann feststellen musste, dass die City vom technischen Standpunkt aus nicht viel zu bieten hat. Die lokalen Studios haben mir einfach nicht das geboten, was ich wollte. Zudem hatte ich von der ,Downward Spiral‘ Tour noch schrecklich viel Equipment über, das ich irgendwo lagern musste — und möglichst wiederverwenden wollte. Daher haben wir uns nach einem passenden Gebäude umgesehen — mit großen, hohen Räumen. Und diesem Anspruch wurden vor allem alte Leichenhallen gerecht. Also entschieden wir uns für eine, die schon seit zehn Jahren leer stand. Wenn du das Studio betrittst, vermagst du nicht mal zu erahnen, was es vorher gewesen sein könnte. Es ist auch definitiv nicht so eingerichtet, sondern nur ein sehr funktionales Gebäude, das unseren Anforderungen entspricht. Aber die Medien stürzen sich eben gerne auf so et was. Sollen sie doch.

G&B: Richard Patrick von Filter vergleicht deine „Nothing Studios“ gerne mit dem kreativen Chaos von Andy Warhols legendärer „Factory“. Kommt das der Sache nahe?

Reznor: Gute Frage. Weißt du, als wir vor zehn Jahren unser erstes Video zu ‚Down In It‘ von ‚Pretty Hate Machine‘ gedreht haben, arbeiteten wir mit dieser Produktionsgesellschaft aus Chicago namens „H Gun“. Das waren sieben oder acht Typen, die aus einem alten Lagerhaus heraus operierten. Die hatten eine ganz klare, effiziente Arbeitsteilung. Einer war dieser verrückte Wissenschaftler, der nur Spezialeffekte bastelte, der andere war ein Kameramann, der nächste war fürs Geschäftliche zuständig, usw. Es war ein Kollektiv aus Leuten, das mich ungemein beeindruckt hat. Ich war richtig begeistert und dachte: Wow, wie cool wäre es, wenn ich sechs Ausführungen von mir selbst hätte, die alle auf unterschiedliche Dinge spezialisiert wären?! Das mag jetzt etwas abgedreht klingen, aber es war der Grundstock dafür, eine kleine Kommune aus Leuten zusammenzustellen, die sich gegenseitig zuarbeiten, im kreativen Austausch stehen und bestimmte Dinge für mich vorarbeiten. Ich habe zum Beispiel eine Handvoll Programmierer, die nichts anderes machen, als den ganzen Tag verrücktes Zeug auszubrüten, so dass ich es irgendwann benutzen kann. Wenn ich zum Beispiel den Sound von Killer-Bienen brauche, dann gehe ich einfach ins Studio und sage ihnen, was ich will. Die Jungs durchforsten dann jeden verfügbaren Spielfilm, jede Homepage und jedes Archiv - so lange bis ich ein paar gute Bienen-Sounds habe. Manchmal habe ich schon das Gefühl, als würde ich in einer Traumwelt leben — völlig abgeschnitten vom Rest der Zivilisation. Es ist wie eine Spielwiese für die unterschiedlichsten Charaktere — und ich bin stolz, dass ich so etwas zustande gebracht habe.

G&B: Neben NIN unterhältst du noch ein zweites Projekt: Tapeworm. Was verbirgt sich dahinter?

Reznor: Tapeworm sollte zunächst nur eine demokratischere Ausgabe von Nine Inch Nails sein. Ich wollte die anderen Jungs, vor allem Charlie Clouser und Danny Lohner, stärker involvieren und sehen, was dann passiert. Außerdem kommt es immer wieder vor, dass wir Zeug wie Prong oder White Zombie hören und uns denken: OK, das ist schon nicht schlecht, aber wir könnten sie richtig in den Popo treten, wenn das nur unsere Absicht wäre. Wenn NIN nicht so einen verdammt hohen Anspruch hätten, würden wir wohl genau dasselbe machen. Und zwar völlig ohne Druck, dafür aber genauso intensiv. Schließlich würden wir mit Freunden wie Maynard von Tool oder Phil vom Pantera kollaborieren. Rich von Filter steht übrigens auch ganz oben auf meiner Liste. Es soll einfach ein Spaßprojekt werden, ohne dabei banale, unwichtige Musik zu machen. Und der beste Test, wie gut etwas wirklich klingt, ist immer noch, es möglichst laut beim Autofahren zu hören.

Story: Marcel Anders

Fotos: Motor

 

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