Trent Reznor hat schon immer sehr
öffentlich gelitten. Seine aggressiven Pop-Industrial-Alben waren Spiegelbilder
seiner inneren Verfassung, die zerrissener nicht sein konnte, und wegen der
Permanenz der Depressivität nicht nur vereinzelt Fragen nach der Lust am Leiden
hervorriefen.
Realisation by Till Schröder
Die amerikanische Öffentlichkeit
litt vergleichbar gern mit, und die Medien hatten einen Heidenspaß, seinem
Selbstmitleid Vorschub zu leisten und es gründlich zu sezieren. Kein Interview,
in dem er sich nicht über etwas beklagt, kein Liedtext ohne Selbstzweifel und
Frustration. Das damit geschaffene Identifikationspotential für Scharen von
Fans machten ihn zum Mega-Erfolg in den USA. ‘The Fragile‘, sein neuestes
Album, hat schon jetzt nach nur einem Monat mit über einer Million verkaufter
CD‘s Platinumstatus erreicht.
In Europa dagegen blieb ihm
solche Aufmerksamkeit erspart und seine Verkaufszahlen waren nicht viel größer
als die eines mittelgroßen Indies. Da erstaunt es nicht, daß er sich endlich
mal Zeit nahm, das neue Album auch in Europa zu promoten, auch wenn er die
Extraverkäufe in Deutschland nicht wirklich nötig hat. In einem Interview sagte
er mal, er hasse Interviews zu geben, denn das wäre so, als würde man seinen
Hintern spreizen müssen. Diese Einstellung konnten die für ein in Hamburg
angesetztes Roundtable Interview angereisten fünf Journalisten dreier Magazine
dann auch am eigenen Leib erfahren. Bei größeren Bands ist das eigentlich die
Regel, da aus Zeitgründen nicht alle ein Einzelinterview kriegen können und man
oft mit mehreren Leuten bei diesen ‘kleinen Pressekonferenzen‘ auffährt. Nur,
Trent Reznor ist der scheue Typ, der sich weigert, den Raum zu betreten, bis
zwei Journalisten weniger drin sitzen. Das ein TEXTUNDTON-Korrespondent auch
daran glauben mußte, war nicht nur ärgerlich, sondern auch erstaunlich unnötig,
denn als er dann endlich kam, präsentierte sich ein aufgeschlossener und überraschenderweise
redseliger Trent Reznor. Aber leiden tat er immer noch. Diesmal an einer
verschleppten Grippe.
DER THERAPEUTISCHE
NEUANFANG
»Der Schaffensprozeß dieses
Albums war wie eine Therapie. Es geht um mich, mich zu finden und mich selbst
wieder zu mögen.«, antwortet Reznor in bedachtem Ton. «Dieses Album ist
langsamer und hat weniger direkte Schläge ins Gesicht in petto. Es geht mehr
darum, Teile wieder zusammenzusetzen und eine Art Zweck oder Bedeutung zu
finden, was etwas Positiveres ist. Trotzdem endet es nicht in einem Happy End
oder präsentiert eine Lösung. Der Versuch des Findens solch eines Weges ist
aber schon etwas Positives, denke ich.»
Bedenkt man die widrigen
Umstände, ist ‘The Fragile‘ tatsächlich ein ausgeglichenes, innovatives Werk geworden.
Es ist immer noch melancholisch, was in Anbetracht des Todes seiner Großmutter,
die ihn den größten Teil seiner Kindheit aufzog, verständlich ist. Die Wut der
Vorgänger ist aber verschwunden, was dann verwundert, wenn man an den auch zum
Teil in der Öffentlichkeit sehr rüde ausgeführten Streits mit seinem Freund
Marilyn Manson denkt. (»Unsere Persönlichkeiten sind in der Gegenwart des
jeweils anderen ganz komisch geworden.») Reznor ist an den Herausforderungen in
den vergangenen fünf Jahren seit ‘The Downward Spiral‘ gereift und schuf aus
seinem unbewußten Inneren ein schwieriges und monumentales Doppelalbum.
»Es hört sich schon alles etwas
bedrückend an», meint er leicht amüsiert, »aber es war Teil eines Weges, der zu
Ende gegangen werden mußte. Auch musikalisch gesehen. Ich wußte bei dieser
Platte nicht wirklich genau, wie ich es klingen lassen wollte. Im nachhinein
betrachtet gab es bei ‘The Downward Spiral‘ eine Idee, die ich ausführte, bei
der ich aber nie wirklich blind herumstocherte, um herauszufinden, was es denn
sein könnte. Ich glaube, sie ist mir nicht mehr so wichtig, weil ich das nicht
getan habe, sondern glaubte zu wissen, wie es klingen sollte und es so klingen
ließ. Beim jetzigen Album fing ich bei Null an, und als ich endlich den Notizblock
in die Hand nahm und anfing zu kreieren, entdeckte ich etwas in mir, das ich
nie erwartet hatte, aus mir kommen zu sehen. Ich nahm die Gitarre in die Hand
und fing an zu spielen, und es floß nur so aus mir heraus. Als ich das Album
begann, fing ich mit dem Titel ‘The Fragile‘ an, und es blieb hängen, weil ich
mich mental so zerbrechlich fühlte. Ich entdeckte auch etwas, das mir jetzt
eigentlich lächerlich erscheint. Ich liebe Musik, und Musik war in meinem Leben
immer für mich da. Deswegen habe ich alles eigentlich begonnen. Das war etwas
sehr inspirierendes. In dem ganzen Durcheinander von Ruhm, Konzerten und der
Arschkriecherei der Leute hafte ich das vergessen.»
Die zerstörerische Gewalt des Vorgängeralbums
und die Exzessivität der Mittel wich einem gereinigten und besänftigten Sound,
der zwischen Resignation und Hoffnung pendelt. »Es soll sich so anhören, als
würde es jeden Moment zusammenfallen, das es zerbricht. Diese ganze
Maschinerie, die ich mit Klettverschluß, Isolierband und unpassenden Teilen
zusammenhalte, könnte jede Minute aufhören zu funktionieren. Es soll ein Gefühl
von Unvollkommenheit vermitteln, von Mangelhaftigkeit und sehr organisch
klingen. Deswegen habe ich auch echte Instrumente gewählt, die wir
präparierten, verstimmten oder beschädigten und dann im Computer modulierten.
Damit hatte ich Vollkommenheit, die inhärent unvollkommen war. Wir brauchten
auch so lang, weil wir jede Möglichkeit ausreizten, egal ob sie
Erfolgversprechend war oder nicht. Die ersten fertigen Songs des Albums waren
fast ausschließlich Instrumentalstücke. Die Idee hierbei war es, das Ende eines
Songs zu nehmen und aus diesem Ende den nächsten Song entstehen zu lassen. ‘Le
Mer‘ war so ein Song, und ‘Into the Void‘ war das Ende von ‘Le Mer‘. Nur
gegenteilig bearbeitet, ein bekloppter Discobeat und eine Bassline wie bei
Parliament. Wir haben ganze Marschkapellen am Computer simuliert. Wir sind da
oft sehr abgedriftet.»
Das ein Vollblutelektroniker wie
er dabei mehr noch als beim Vorgänger erstaunlich artfremde Wege ging und für
den Gesamtsound des Albums der Gitarre den Vorzug gab, erklärt er mit einer
ganz eigenen Dualität, die er dem Instrument entlocken kann. »Dieses ganze
Album besteht praktisch nur aus Gitarre. Alle Sounds kommen aus der Gitarre.
Ich will es mal so erklären: ich bin ein ausgebildeter Pianist. Ich beherrsche
die Theorie und die Technik und war einst ein großartiger Virtuose. Jetzt bin
ich das nicht mehr. Ich habe viele Menschen zur Gitarrenschule gehen sehen, um
alles zu lernen, was es zu erlernen gibt. Als Techniker sind sie perfekt und
ich bewundere das, aber irgendwie verliert man etwas, wenn man sich mit den
mechanischen Abläufen der Dinge zu gut auskennt. An der Gitarre weiß ich nicht
wirklich, was ich mache. Wenn ich hinsehe, kann ich schon erkennen, das ist
jetzt also das, und das jetzt dies, aber wenn ich sie in die Hand nehme, ist
sie erst einmal etwas Primitives für mich. Ich gehe da mit einer gewissen
Naivität ran. Wenn ich Klavier spiele, weiß ich, was ich tue. Wenn ich ein Saiteninstrument
spiele, bin ich mir nicht so sicher, denn ich wurde nie daran ausgebildet. Ich
glaube, einiges von dem, was ich mache, scheint ehrlicher und wirklicher zu
sein. Das heißt jetzt nicht, daß ich entschuldigen möchte, wenn man schlecht
ist. Es soll nur heißen, daß ich es wertschätze, wie das Gehirn die Dinge
angeht.»
Dieses Experimentieren ist
natürlich eine plausible Erklärung für die lange Produktionszeit von »The
Fragile«, aber auch der Feinschliff an der Produktion kostete Zeit. Man rief
immer wieder Außenstehende dazu, wie den Pink Floyd Produzenten Bob Ezrin, der
das legendäre »The Wall» Album aufnahm (»Er war der Professor und ich der
Student. Er bewertete meine Arbeit und gab mir Ratschläge. Er gab mir eine Eins
Minus.«) oder sogar Dr. Dre, da man beim Hören alter NWA-Alben nicht dahinter
kam, wie er den speziellen Groove gemixt und produziert hat (»Seine Art zu
denken ist das Gegenteil von meiner Herangehensweise, aber ich habe sehr viel
gelernt.»). Leute aus ganz anderen Welten brachten den notwendigen Abstand und
die andere Perspektive, um das Werk zur Vollendung zu bringen.
DIE MIßVERSTANDENE
AUSZEIT
Die lange Pause zwischen den
Alben wurde ihm aber oft auch als Schreibblockade ausgelegt. Dabei trifft das
nicht wirklich den Kern. Es ging ihm eher um das Aufschieben der Notwendigkeit,
mit sich selbst ins Reine zu kommen. „Ich war nicht glücklich. Wir verbrachten
zwei Jahre damit ‘The Downward Spiral‘ zu promoten, vorrangig durch Touren,
denn MTV hat uns noch nie unterstützt und auch nicht das Radio. Außerdem können
wir nur so die Message kontrollieren, die wir verbreiten wollten. Nachdem ich
den Tourbus nach 2 Jahren verlassen hatte, war ich ein Anderer. Und nicht
unbedingt Besserer. In Amerika verwandelten wir uns plötzlich von einer mittleren
Band zu einer wirklichen großen Band. Ich hatte Leute um mich, deren
Intentionen ich hinterfragen mußte, und ich hatte plötzlich Geld, Dinge zu
verwirklichen. Musikalisch wußte ich nicht so wirklich, wohin die Reise gehen
sollte, aber ich wußte, das es wichtig sein muß. Ich belog mich selbst auf
einer Reihe von Ebenen über die Person, zu der ich geworden war. Ich hatte Erfolg
und erkannte, daß er nicht das beseitigte, was ich von ihm erhofft hatte zu
beseitigen, einfach weil ich nie glaubte, ihn zu bekommen. Ich war der Boß
vieler Menschen und eines Unternehmens, worüber beschwerte ich mich eigentlich?
Mir wurde klar, was für oberflächliche Ziele ich zu diesem Zeitpunkt verfolgte.
Ich war einfach keine gute Person, kein guter Mensch. Ich erlaubte mir nicht,
darüber nachzudenken. Und so tat ich alles andere, um ja nicht wieder in das
Loch hinabsteigen zu müssen und ein neues Album zu schreiben. Wenn ich ein
Album mache, muß ich allein sein, um wirklich in mir nach den Dingen zu forschen,
über die ich etwas sagen möchte. Und was passiert, wenn das nicht gut ist? Was
mach ich dann? Es war das Letzte, was ich zu diesem Zeitpunkt machen wollte. Herumsitzen
und herausfinden, wer ich wirklich bin. Also habe ich das auch nicht gemacht,
habe mit Leuten abgehangen und kleine Projekte angenommen, die mir nichts
bedeuteten, nur damit ich mir sagen konnte, daß ich beschäftigt bin.«
Diese ‘kleineren Projekte‘ waren
so klein nicht. Gleich nach dem Ende der Tour zu ‘The Downmard Spiral‘
produzierte er Marilyn Mansons ‘Antichrist Superstar‘, den Soundtrack für Oliver
Stones ‘Natural Born Killers‘ und David Lynchs ‘Lost Highway‘. Er stürzte sich
in die Produktion der Musik für das Computerspiel ‘Quake‘, produzierte eine
Videosammlung seiner Videos und Liveaufnahmen unter dem Namen ‘Closure’ und
veröffentlichte noch die Single ‘The Perfect Drug‘. An kreativen Ablaßventilen
mangelte es ihm wahrlich nicht. Nur erhöhte sich der Druck stetig auf den Mann,
den das ‘Time Magazin‘ als einen der einflußreichsten Menschen Amerikas bezeichnete
und dessen Album durch Alternative Press mehrmals zum meisterwartesten Album
des Jahres gekürt wurde.
Diesen selbstverschuldeten Druck
hatte er schon mehrmals erleben müssen. Außerhalb der Musik im eigenen Elternhaus
und Schule begann er schon früh in vielen kleineren Bands verschiedenster
Couleur zu spielen. In seinem Heimatort Erie/Pennslyvania war er in ‘The
Innocence‘ und ‘Urge‘. Nach seinem Umzug zum Computerstudium nach Cleveland gab
es auch einige Auftritte mit ‘Slam Bamboo‘ und ‘Exotic Birds‘, die es 1987 sogar
zu einem Gastauftritt in dem Michael J. Fox-Streiten ‘Light of Day‘ schaffte,
dann allerdings als die erfundene Band ‘Problems‘. Seinem späteren Stil am
dichtesten kam aber der dunklere Synthiesound von Lucky Pierre, dessen
Bandleader Kevin McMahon interessanterweise später auf Reznors ‘Nothing Label‘
mit Prick an die Öffentlichkeit trat. Reznor selbst hatte sich im Gegensatz zum
Synthie-Pop und Progsound seiner ehemaligen Bands, die er aber immer als Übungsplatz
und Herausforderung empfand, am härteren Sound des legendären Chicagoer Labels
‘Was Trax‘ orientiert. 1989 debütierte er endlich mit seinem eigenen Projekt
‘Nine Inch Nails‘ und dem Album ‘Pretty Hate Machine‘, welches einiges
kritisches Lob erfuhr, sich aber eher zäh verkaufte. Eine hastig
zusammengewürfelte Tour mit Skinny Puppy machte ihn in der Szene bekannt. Erst
aber als man sich entschloß, an der ‘Lollapalooza‘-Tour teilzunehmen, schossen
die Verkaufszahlen in die Höhe bis zum Goldstatus, was sich über die Jahre zu
Platinum mauserte. Für ein Banddebüt, veröffentlicht unter der bis dato
unbeachteten und unpopulären Bezeichnung Industrial, war das sehr beachtlich.
Industrial hatte sich zum neuen
Untergrundzugpferd für alle entwickelt, die Grunge schon in den kommerziellen Abgrund
rasen sahen. Bands wie ‘Ministry‘, ‘Skinny Puppy‘, ‘KMFDM‘ oder ‘Front Line
Assembly‘ hatten eine neue aggressive Stilrichtung entwickelt. Doch war Nine Inch
Nails‘ poppige und melodiöse Variante des amerikanischen Industrial der
Schlüssel zum Erfolg in wirklich großen Ausmaßen. Das amerikanische
Teenagerklientel fühlte sich in der Leidensbeschreibung und aggressiven
Katharsis, die ‘Nine Inch Nails‘-Songs im Grunde sind, mehr verstanden.
Puritanisches Klima und konservatives Umfeld ließ die amerikanische Hörerschaft
schon immer anfälliger für Spektakel und Selbstzerfleischung sein, und so
hinterließen Bands, die etwas anders waren, traditionell immer einen größeren
Eindruck. Je repressiver ein kulturelles System ist, um so radikaler die
kulturellen Mittel, die es gebärt. Das war beim Rock‘n‘Roll der 50er so, wie
auch beim Punk, als er Mitte der 70er aus den heruntergekommensten Ecken New
Yorks kroch. Doch ignorierte Amerika nie ganz die Marktfähigkeit solcher
Explosionen und hier paßte ‘Nine Inch Nails‘-Sound gut zum Zeitgeist. Etwas,
was Reznor auch selbst erkannt hat.
DIE SUCHE NACH
RELEVANZ
«Ich habe mein Leben auf Halt
gestellt, um ‘Nine Inch Nails‘ zu sein. Ich habe mir NIN zu eigen gemacht und
alles darin investiert, und manchmal wundere ich mich, warum ich zu bestimmten
Zeiten unglücklich bin. Einfach, weil der größere Kontext mehr bedeutet. Wenn
man mal darüber nachdenkt, gibt es in der Welt des Rocks einen Zeitrahmen von
20-35, wo es so scheint, als das jeder, der wichtig ist, etwas Relevantes zu
sagen hat, das auch wirklich mit dem Publikum kommuniziert. Das heißt jetzt
nicht, daß ‘Tom Petty‘, den ich sehr verehre, keine gute Kunst macht. Er macht
sie, aber, ich weiß gar nicht wie alt er ist, er ist einfach außerhalb dieser
Spanne. Es gibt aber diesen einen Moment in der Karriere eines Künstlers, wo es
so scheint, als würde er mit der Mentalität des Mainstreams eine Verbindung aufbauen
oder jedenfalls einem Teil des Mainstreams. Ich habe Glück, daß es da draußen
Leute gibt, denen etwas an meiner Musik liegt, und ich würde diese Leute
betrügen, wenn ich nicht jeden Tag aufwachen würde und hundertprozentig alles
geben würde. Den Preis, den man dafür allerdings zahlt, ist, daß man einen
ganzen Teil des eigenen Lebens verpaßt. So sehr ich auch versuche diesen Aspekt
unter den Teppich zu kehren, kommt er doch manchmal zurück und beißt mich in
den Arsch. Es gibt eine Person in mir, die ab und zu Aufmerksamkt verlangt. «
‘Nine Inch Nails‘ wandelte sich
immer wieder, um nicht auf dem selben Level stehen zu bleiben. Auch dank des
Einflusses von ‘Ministry‘ und Konsorten, wurde der Sound bei der nächsten EP
‘Broken‘ das ganze Gegenteil zum von Reznor mittlerweile als zu leicht und steril
bezeichneten Stil des Vorgängers. Sägende Gitarren und Noise-Kaskaden bratschten
mit Wucht auf den Hörer ein. Niemand hatte diese Härte von ihm erwartet und
alle erwarteten eigentlich ‘Pretty Hate Machine 2‘. Mit der nächsten EP
‘Fixed‘, einem Remixmerk, auf dem sich Legenden wie ‘Coll‘ oder ‘Foetus‘ an den
‘Broken‘-Tracks betätigten, gab es die immer noch nicht. Der Erfolg blieb aber
beständig. Ein Beweis, daß die Fans musikalisch problemlos mitgewachsen waren.
Die Industrie dankte es ihm mit einem Grammy für ‘Broken‘. Letztendlich wartete
jeder auf ein komplettes Album und als 1994 ‘The Downward Spiral‘ in die Läden
kam, war die Wandlung vollkommen. Brachiale Gitarrenwände wechselten sich mit
ruhigen Klangexploriationen ab und der Sound nahm an organischer Substanz zu.
Die Verkaufszahlen überboten alles dagewesene und der ‘NIN-Kult‘ der Medien
fand einen vorläufigen Höhepunkt.
Eine Anbiederung an die Medien
oder Entschärfung seiner Vision, um die anscheinende Kommerzialität nicht zu
verlieren, fand deswegen aber noch lange nicht statt. Immer wieder gab es
Probleme mit Moralaposteln, Medien und Regierungsstellen. Das fing schon mit
dem Cover zur 10 von ‘Head Like a Hole‘ an. Das Bild eines gekreuzigten Kadavers
und 10 Köpfe in Einweckgläsern riefen die Zensoren auf den Plan. Beim ‘Down In
It-Video war sogar das FBI involviert, denn während des Videoshoots machte eine
an einem Heliumballon befestigte Kamera Luftaufnahmen vom mit Maisstärke
bedeckten um Boden liegenden Trent Reznor. Der Ballon trieb ab und landete bei
einem Farmer im Gebüsch. Der dachte, daß es sich um Szenen aus einem Snuff-Video
handelte, und die Medien stürzten sich mit Lust auf die Story. Angeblich soll
es auch zu ‘Sin‘ ein Video geben, das nur aus schwulen Hardcore S/M-Pornos
bestünde, nur um MTV zu verärgern, die sich immer weigerten, seine Videos zu
spielen. Schließlich gibt es noch das Video zu ‘Happiness In Slavery‘, in dem
Supermasochist Bob Flanagan in eine Maschine eingespannt ist, die ihn sexuell attackiert,
verstümmelt und tötet. Da ist es klar, daß man dieses Videos nur in der ‘Closure’
Videosammlung in voller Länge genießen kann. MTV war nie eine große Hilfe, und
Medienresonanz kam nur über Touren z.B. Europasupport für Guns‘N‘Roses oder
große Festivals wie ‘Lollapalooza‘ oder ‘Woodstock 94‘. So konnte sich David Letterman,
der USA liebster Nighttalker und Harald Schmidt-Vorbild, nach dem legendären Schlammbad
des ‘Woodstock 94-Konzert eine Woche nicht mehr einkriegen und bezog sich
ständig auf die »verrückten Jungs von ‘Nine Inch Nails“. Wegen MTVs ablehnender
Haltung gegenüber ‘Nine Inch Nails‘ verwunderte dann auch der Auftritt bei den
diesjährigen MTV-Awards. War man nach fünf Jahren Bühnenabstinenz so
verzweifelt?
»Diese ganze Idee wurde an uns
vor einigen Monaten herangetragen. Normalerweise würde ich so etwas ablehnen,
und ich habe auch nein gesagt. Es war nicht so sehr die Verzweiflung, daß wir fünf
Jahre weg waren. Okay, wir machen das. Soll ich meine Hosen falsch herum
anziehen, okay, das mach ich auch. Das war es ganz bestimmt nicht. Es ist immer
einfacher, diese Dinge nicht zu tun. Was interessant für mich war, war folgende
Idee. Ich ging zu MTV und sagte: okay ich spiele einen Song, aber es wird nicht
die Single sein, und wißt ihr was, gebt uns den schlechtesten Programmplatz.
Wer war noch mit dabei? Britney Spears? Das Schlechteste vom Schlechten,
stimmt‘s? In diesem Kontext können wir einen Unterschied machen, können wir die
Leute erreichen. Jeder erwartete von uns, daß wir ‘We‘re In This Together‘
spielen würden, rumschreien und versuchen würden Korn zu ‘überKornen‘, laut rimspringen
und solch‘ Firlefanz. Also haben wir uns entschlossen, den langsamsten Song den
Albums zu spielen und die ganze Zeit sehr zurückhaltend zu sein. Mal sehen was
passiert. Ich glaube, daß es in diesem Kontext funktioniert hat, auch wenn es
eine schwere Entscheidung für mich war. Ich war dann ganz überrascht, als die
Ergebnisse der Zuschauerabstimmung reinkamen und wir als beste Liveband gewählt
wurden. Die ‘Backstreet Boys‘ waren seit zehn Jahren das Nummer Eins-Video
jeden Tag und wir haben ein uns fremdes Publikum überzeugt. Ich habe gerade die
Billboard’s Top Ten in Amerika gesehen und wir sind Nummer Eins. Das allein ist
schon verrückt genug, aber wenn man dann sieht ‘Nine Inch Nails‘, ‘Backstreet
Boys‘, ‘Britney Spears‘... das hat sowas von: du gehörst nicht hierher.«
DAS ZURÜCKGESTELLTE ICH
Trotz der scheinbaren
Mühelosigkeit der Integration seines harschen musikalischen Stils in den Musik
hörendes jungen Mainstream, bleibt Trent Reznor ein unerforschtes Phänomen. Der
Künstler, der mit jedem Album in kürzester Zeit Platinum einheimste, ist ein
rarer Gast, der nur hei Veröffentlichung seiner Musik ins Rampenlicht tritt.
Die Person, die hinter Nine Inch Nails steckt, ist recht unbekannt. Es kursieren
keine Gerüchte, es gibt keine Homestories mit Pose und Hund, keine wirklichen
Skandale. Und so hätte es Reznor auch weiterhin gern, nur aus einem ganz
anderen Grund.
«Mich haben schon einige Leute
gefragt, warum ist dein Bild nicht auf dem Album, und warum sieht man dich nie
Backstage, und wir wissen nicht, mit wem du gerade ausgehst. Der Grund dafür
ist recht einfach, Ich will nicht, daß meine Person im Weg ist. Ich respektiere
das Konzept ‘Nine Inch Nails‘, und ich will es nicht mit irgendeinem Nonsens,
in den ich persönlich verstrickt bin, verschmutzen. Mir gefällt das
Geheimnisvolle, und ich respektiere es. Ich über lasse es dem Hörer, die Lücken
selbst zu füllen und erkläre nie wortwörtlich, was gemeint ist. Einfach weil es
unwichtig ist, was ich damit meine. Es ist nur wichtig, was es dem Hörer
bedeutet. Das weiß ich noch aus meiner Zeit als Fan, und darauf gründe ich alle
meine Überlegungen, wenn es darum geht, wie ich etwas angehe. Als damals ‘The
Wall‘ rauskam, kaufte ich es sofort und fand eine hundertprozentige Beziehung
zu Roger Waters Ich habe keine Ahnung, was er wirklich mit manchem ausdrücken wollte,
aber für mich war es etwas ganz Besonderes. Ich möchte ihm jetzt nicht
begegnen, denn vielleicht ist er ja ein Arschloch, und das würde mich nur dazu
bringen, die Platte nicht mehr zu mögen. Ich habe schon viele meiner Helden
getroffen, und sie waren Scheiß Arschlöcher Das hat für mich einiges ruiniert,
aber ich will hier nicht zu viel verraten. Es ist also nicht so sehr meine Angst,
daß ich denke, daß ich ein Arschloch bin und mich niemand treffen soll. Das ist
es wirklich nicht. Musik ist nur immer etwas sehr Mystisches und Besonderes für
mich gewesen, und man muß sie wie Kunst behandeln. Deswegen habe ich auch so
ein Problem mit der ganzen Idee Video. Ich denke, daß die meisten Videos
schrecklich sind. 99% sind Mist. Musik sollte schon visuell sein, aber ich gebe
dir meine Version des Visuellen. Das ist so, als würde ich das Buch lesen und
anschließend den Film sehen, und im Film ist Tom Cruise. Der Film ist niemals
so gut, als wenn man sich das selbst vorstellt. In mir gibt es den Geschäftsmann,
der die Platte promoten will und all der Scheiß, aber es steckt die Gefahr besonders
in Musikvideos, daß man etwas verderben kann. Ich bin jetzt wahrscheinlich auch
nur in Deutschland, weil ich will, daß du meine Platte hörst und sie vielleicht
kaufst. Es stimmt schon, daß ich dafür Geld kriege und Vorteile habe, wenn ich CDs
verkaufe, aber ehrlich gesagt, zählt für mich nur, ob es dir etwas bedeutet.«
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