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Jahr 2000

 

Text und Ton

 

Februar/märz 2000

 

Die neuen Leiden des jungen Reznor

 

Autor: Till Schröder

 

 

 

 

Trent Reznor hat schon immer sehr öffentlich gelitten. Seine aggressiven Pop-Industrial-Alben waren Spiegelbilder seiner inneren Verfassung, die zerrissener nicht sein konnte, und wegen der Permanenz der Depressivität nicht nur vereinzelt Fragen nach der Lust am Leiden hervorriefen.

Realisation by Till Schröder

Die amerikanische Öffentlichkeit litt vergleichbar gern mit, und die Medien hatten einen Heidenspaß, seinem Selbstmitleid Vorschub zu leisten und es gründlich zu sezieren. Kein Interview, in dem er sich nicht über etwas beklagt, kein Liedtext ohne Selbstzweifel und Frustration. Das damit geschaffene Identifikationspotential für Scharen von Fans machten ihn zum Mega-Erfolg in den USA. ‘The Fragile‘, sein neuestes Album, hat schon jetzt nach nur einem Monat mit über einer Million verkaufter CD‘s Platinumstatus erreicht.

In Europa dagegen blieb ihm solche Aufmerksamkeit erspart und seine Verkaufszahlen waren nicht viel größer als die eines mittelgroßen Indies. Da erstaunt es nicht, daß er sich endlich mal Zeit nahm, das neue Album auch in Europa zu promoten, auch wenn er die Extraverkäufe in Deutschland nicht wirklich nötig hat. In einem Interview sagte er mal, er hasse Interviews zu geben, denn das wäre so, als würde man seinen Hintern spreizen müssen. Diese Einstellung konnten die für ein in Hamburg angesetztes Roundtable Interview angereisten fünf Journalisten dreier Magazine dann auch am eigenen Leib erfahren. Bei größeren Bands ist das eigentlich die Regel, da aus Zeitgründen nicht alle ein Einzelinterview kriegen können und man oft mit mehreren Leuten bei diesen ‘kleinen Pressekonferenzen‘ auffährt. Nur, Trent Reznor ist der scheue Typ, der sich weigert, den Raum zu betreten, bis zwei Journalisten weniger drin sitzen. Das ein TEXTUNDTON-Korrespondent auch daran glauben mußte, war nicht nur ärgerlich, sondern auch erstaunlich unnötig, denn als er dann endlich kam, präsentierte sich ein aufgeschlossener und überraschenderweise redseliger Trent Reznor. Aber leiden tat er immer noch. Diesmal an einer verschleppten Grippe.

DER THERAPEUTISCHE NEUANFANG

»Der Schaffensprozeß dieses Albums war wie eine Therapie. Es geht um mich, mich zu finden und mich selbst wieder zu mögen.«, antwortet Reznor in bedachtem Ton. «Dieses Album ist langsamer und hat weniger direkte Schläge ins Gesicht in petto. Es geht mehr darum, Teile wieder zusammenzusetzen und eine Art Zweck oder Bedeutung zu finden, was etwas Positiveres ist. Trotzdem endet es nicht in einem Happy End oder präsentiert eine Lösung. Der Versuch des Findens solch eines Weges ist aber schon etwas Positives, denke ich.»

Bedenkt man die widrigen Umstände, ist ‘The Fragile‘ tatsächlich ein ausgeglichenes, innovatives Werk geworden. Es ist immer noch melancholisch, was in Anbetracht des Todes seiner Großmutter, die ihn den größten Teil seiner Kindheit aufzog, verständlich ist. Die Wut der Vorgänger ist aber verschwunden, was dann verwundert, wenn man an den auch zum Teil in der Öffentlichkeit sehr rüde ausgeführten Streits mit seinem Freund Marilyn Manson denkt. (»Unsere Persönlichkeiten sind in der Gegenwart des jeweils anderen ganz komisch geworden.») Reznor ist an den Herausforderungen in den vergangenen fünf Jahren seit ‘The Downward Spiral‘ gereift und schuf aus seinem unbewußten Inneren ein schwieriges und monumentales Doppelalbum.

»Es hört sich schon alles etwas bedrückend an», meint er leicht amüsiert, »aber es war Teil eines Weges, der zu Ende gegangen werden mußte. Auch musikalisch gesehen. Ich wußte bei dieser Platte nicht wirklich genau, wie ich es klingen lassen wollte. Im nachhinein betrachtet gab es bei ‘The Downward Spiral‘ eine Idee, die ich ausführte, bei der ich aber nie wirklich blind herumstocherte, um herauszufinden, was es denn sein könnte. Ich glaube, sie ist mir nicht mehr so wichtig, weil ich das nicht getan habe, sondern glaubte zu wissen, wie es klingen sollte und es so klingen ließ. Beim jetzigen Album fing ich bei Null an, und als ich endlich den Notizblock in die Hand nahm und anfing zu kreieren, entdeckte ich etwas in mir, das ich nie erwartet hatte, aus mir kommen zu sehen. Ich nahm die Gitarre in die Hand und fing an zu spielen, und es floß nur so aus mir heraus. Als ich das Album begann, fing ich mit dem Titel ‘The Fragile‘ an, und es blieb hängen, weil ich mich mental so zerbrechlich fühlte. Ich entdeckte auch etwas, das mir jetzt eigentlich lächerlich erscheint. Ich liebe Musik, und Musik war in meinem Leben immer für mich da. Deswegen habe ich alles eigentlich begonnen. Das war etwas sehr inspirierendes. In dem ganzen Durcheinander von Ruhm, Konzerten und der Arschkriecherei der Leute hafte ich das vergessen.»

Die zerstörerische Gewalt des Vorgängeralbums und die Exzessivität der Mittel wich einem gereinigten und besänftigten Sound, der zwischen Resignation und Hoffnung pendelt. »Es soll sich so anhören, als würde es jeden Moment zusammenfallen, das es zerbricht. Diese ganze Maschinerie, die ich mit Klettverschluß, Isolierband und unpassenden Teilen zusammenhalte, könnte jede Minute aufhören zu funktionieren. Es soll ein Gefühl von Unvollkommenheit vermitteln, von Mangelhaftigkeit und sehr organisch klingen. Deswegen habe ich auch echte Instrumente gewählt, die wir präparierten, verstimmten oder beschädigten und dann im Computer modulierten. Damit hatte ich Vollkommenheit, die inhärent unvollkommen war. Wir brauchten auch so lang, weil wir jede Möglichkeit ausreizten, egal ob sie Erfolgversprechend war oder nicht. Die ersten fertigen Songs des Albums waren fast ausschließlich Instrumentalstücke. Die Idee hierbei war es, das Ende eines Songs zu nehmen und aus diesem Ende den nächsten Song entstehen zu lassen. ‘Le Mer‘ war so ein Song, und ‘Into the Void‘ war das Ende von ‘Le Mer‘. Nur gegenteilig bearbeitet, ein bekloppter Discobeat und eine Bassline wie bei Parliament. Wir haben ganze Marschkapellen am Computer simuliert. Wir sind da oft sehr abgedriftet.»

Das ein Vollblutelektroniker wie er dabei mehr noch als beim Vorgänger erstaunlich artfremde Wege ging und für den Gesamtsound des Albums der Gitarre den Vorzug gab, erklärt er mit einer ganz eigenen Dualität, die er dem Instrument entlocken kann. »Dieses ganze Album besteht praktisch nur aus Gitarre. Alle Sounds kommen aus der Gitarre. Ich will es mal so erklären: ich bin ein ausgebildeter Pianist. Ich beherrsche die Theorie und die Technik und war einst ein großartiger Virtuose. Jetzt bin ich das nicht mehr. Ich habe viele Menschen zur Gitarrenschule gehen sehen, um alles zu lernen, was es zu erlernen gibt. Als Techniker sind sie perfekt und ich bewundere das, aber irgendwie verliert man etwas, wenn man sich mit den mechanischen Abläufen der Dinge zu gut auskennt. An der Gitarre weiß ich nicht wirklich, was ich mache. Wenn ich hinsehe, kann ich schon erkennen, das ist jetzt also das, und das jetzt dies, aber wenn ich sie in die Hand nehme, ist sie erst einmal etwas Primitives für mich. Ich gehe da mit einer gewissen Naivität ran. Wenn ich Klavier spiele, weiß ich, was ich tue. Wenn ich ein Saiteninstrument spiele, bin ich mir nicht so sicher, denn ich wurde nie daran ausgebildet. Ich glaube, einiges von dem, was ich mache, scheint ehrlicher und wirklicher zu sein. Das heißt jetzt nicht, daß ich entschuldigen möchte, wenn man schlecht ist. Es soll nur heißen, daß ich es wertschätze, wie das Gehirn die Dinge angeht.»

Dieses Experimentieren ist natürlich eine plausible Erklärung für die lange Produktionszeit von »The Fragile«, aber auch der Feinschliff an der Produktion kostete Zeit. Man rief immer wieder Außenstehende dazu, wie den Pink Floyd Produzenten Bob Ezrin, der das legendäre »The Wall» Album aufnahm (»Er war der Professor und ich der Student. Er bewertete meine Arbeit und gab mir Ratschläge. Er gab mir eine Eins Minus.«) oder sogar Dr. Dre, da man beim Hören alter NWA-Alben nicht dahinter kam, wie er den speziellen Groove gemixt und produziert hat (»Seine Art zu denken ist das Gegenteil von meiner Herangehensweise, aber ich habe sehr viel gelernt.»). Leute aus ganz anderen Welten brachten den notwendigen Abstand und die andere Perspektive, um das Werk zur Vollendung zu bringen.

DIE MIßVERSTANDENE AUSZEIT

Die lange Pause zwischen den Alben wurde ihm aber oft auch als Schreibblockade ausgelegt. Dabei trifft das nicht wirklich den Kern. Es ging ihm eher um das Aufschieben der Notwendigkeit, mit sich selbst ins Reine zu kommen. „Ich war nicht glücklich. Wir verbrachten zwei Jahre damit ‘The Downward Spiral‘ zu promoten, vorrangig durch Touren, denn MTV hat uns noch nie unterstützt und auch nicht das Radio. Außerdem können wir nur so die Message kontrollieren, die wir verbreiten wollten. Nachdem ich den Tourbus nach 2 Jahren verlassen hatte, war ich ein Anderer. Und nicht unbedingt Besserer. In Amerika verwandelten wir uns plötzlich von einer mittleren Band zu einer wirklichen großen Band. Ich hatte Leute um mich, deren Intentionen ich hinterfragen mußte, und ich hatte plötzlich Geld, Dinge zu verwirklichen. Musikalisch wußte ich nicht so wirklich, wohin die Reise gehen sollte, aber ich wußte, das es wichtig sein muß. Ich belog mich selbst auf einer Reihe von Ebenen über die Person, zu der ich geworden war. Ich hatte Erfolg und erkannte, daß er nicht das beseitigte, was ich von ihm erhofft hatte zu beseitigen, einfach weil ich nie glaubte, ihn zu bekommen. Ich war der Boß vieler Menschen und eines Unternehmens, worüber beschwerte ich mich eigentlich? Mir wurde klar, was für oberflächliche Ziele ich zu diesem Zeitpunkt verfolgte. Ich war einfach keine gute Person, kein guter Mensch. Ich erlaubte mir nicht, darüber nachzudenken. Und so tat ich alles andere, um ja nicht wieder in das Loch hinabsteigen zu müssen und ein neues Album zu schreiben. Wenn ich ein Album mache, muß ich allein sein, um wirklich in mir nach den Dingen zu forschen, über die ich etwas sagen möchte. Und was passiert, wenn das nicht gut ist? Was mach ich dann? Es war das Letzte, was ich zu diesem Zeitpunkt machen wollte. Herumsitzen und herausfinden, wer ich wirklich bin. Also habe ich das auch nicht gemacht, habe mit Leuten abgehangen und kleine Projekte angenommen, die mir nichts bedeuteten, nur damit ich mir sagen konnte, daß ich beschäftigt bin.«

Diese ‘kleineren Projekte‘ waren so klein nicht. Gleich nach dem Ende der Tour zu ‘The Downmard Spiral‘ produzierte er Marilyn Mansons ‘Antichrist Superstar‘, den Soundtrack für Oliver Stones ‘Natural Born Killers‘ und David Lynchs ‘Lost Highway‘. Er stürzte sich in die Produktion der Musik für das Computerspiel ‘Quake‘, produzierte eine Videosammlung seiner Videos und Liveaufnahmen unter dem Namen ‘Closure’ und veröffentlichte noch die Single ‘The Perfect Drug‘. An kreativen Ablaßventilen mangelte es ihm wahrlich nicht. Nur erhöhte sich der Druck stetig auf den Mann, den das ‘Time Magazin‘ als einen der einflußreichsten Menschen Amerikas bezeichnete und dessen Album durch Alternative Press mehrmals zum meisterwartesten Album des Jahres gekürt wurde.

Diesen selbstverschuldeten Druck hatte er schon mehrmals erleben müssen. Außerhalb der Musik im eigenen Elternhaus und Schule begann er schon früh in vielen kleineren Bands verschiedenster Couleur zu spielen. In seinem Heimatort Erie/Pennslyvania war er in ‘The Innocence‘ und ‘Urge‘. Nach seinem Umzug zum Computerstudium nach Cleveland gab es auch einige Auftritte mit ‘Slam Bamboo‘ und ‘Exotic Birds‘, die es 1987 sogar zu einem Gastauftritt in dem Michael J. Fox-Streiten ‘Light of Day‘ schaffte, dann allerdings als die erfundene Band ‘Problems‘. Seinem späteren Stil am dichtesten kam aber der dunklere Synthiesound von Lucky Pierre, dessen Bandleader Kevin McMahon interessanterweise später auf Reznors ‘Nothing Label‘ mit Prick an die Öffentlichkeit trat. Reznor selbst hatte sich im Gegensatz zum Synthie-Pop und Progsound seiner ehemaligen Bands, die er aber immer als Übungsplatz und Herausforderung empfand, am härteren Sound des legendären Chicagoer Labels ‘Was Trax‘ orientiert. 1989 debütierte er endlich mit seinem eigenen Projekt ‘Nine Inch Nails‘ und dem Album ‘Pretty Hate Machine‘, welches einiges kritisches Lob erfuhr, sich aber eher zäh verkaufte. Eine hastig zusammengewürfelte Tour mit Skinny Puppy machte ihn in der Szene bekannt. Erst aber als man sich entschloß, an der ‘Lollapalooza‘-Tour teilzunehmen, schossen die Verkaufszahlen in die Höhe bis zum Goldstatus, was sich über die Jahre zu Platinum mauserte. Für ein Banddebüt, veröffentlicht unter der bis dato unbeachteten und unpopulären Bezeichnung Industrial, war das sehr beachtlich.

Industrial hatte sich zum neuen Untergrundzugpferd für alle entwickelt, die Grunge schon in den kommerziellen Abgrund rasen sahen. Bands wie ‘Ministry‘, ‘Skinny Puppy‘, ‘KMFDM‘ oder ‘Front Line Assembly‘ hatten eine neue aggressive Stilrichtung entwickelt. Doch war Nine Inch Nails‘ poppige und melodiöse Variante des amerikanischen Industrial der Schlüssel zum Erfolg in wirklich großen Ausmaßen. Das amerikanische Teenagerklientel fühlte sich in der Leidensbeschreibung und aggressiven Katharsis, die ‘Nine Inch Nails‘-Songs im Grunde sind, mehr verstanden. Puritanisches Klima und konservatives Umfeld ließ die amerikanische Hörerschaft schon immer anfälliger für Spektakel und Selbstzerfleischung sein, und so hinterließen Bands, die etwas anders waren, traditionell immer einen größeren Eindruck. Je repressiver ein kulturelles System ist, um so radikaler die kulturellen Mittel, die es gebärt. Das war beim Rock‘n‘Roll der 50er so, wie auch beim Punk, als er Mitte der 70er aus den heruntergekommensten Ecken New Yorks kroch. Doch ignorierte Amerika nie ganz die Marktfähigkeit solcher Explosionen und hier paßte ‘Nine Inch Nails‘-Sound gut zum Zeitgeist. Etwas, was Reznor auch selbst erkannt hat.

DIE SUCHE NACH RELEVANZ

«Ich habe mein Leben auf Halt gestellt, um ‘Nine Inch Nails‘ zu sein. Ich habe mir NIN zu eigen gemacht und alles darin investiert, und manchmal wundere ich mich, warum ich zu bestimmten Zeiten unglücklich bin. Einfach, weil der größere Kontext mehr bedeutet. Wenn man mal darüber nachdenkt, gibt es in der Welt des Rocks einen Zeitrahmen von 20-35, wo es so scheint, als das jeder, der wichtig ist, etwas Relevantes zu sagen hat, das auch wirklich mit dem Publikum kommuniziert. Das heißt jetzt nicht, daß ‘Tom Petty‘, den ich sehr verehre, keine gute Kunst macht. Er macht sie, aber, ich weiß gar nicht wie alt er ist, er ist einfach außerhalb dieser Spanne. Es gibt aber diesen einen Moment in der Karriere eines Künstlers, wo es so scheint, als würde er mit der Mentalität des Mainstreams eine Verbindung aufbauen oder jedenfalls einem Teil des Mainstreams. Ich habe Glück, daß es da draußen Leute gibt, denen etwas an meiner Musik liegt, und ich würde diese Leute betrügen, wenn ich nicht jeden Tag aufwachen würde und hundertprozentig alles geben würde. Den Preis, den man dafür allerdings zahlt, ist, daß man einen ganzen Teil des eigenen Lebens verpaßt. So sehr ich auch versuche diesen Aspekt unter den Teppich zu kehren, kommt er doch manchmal zurück und beißt mich in den Arsch. Es gibt eine Person in mir, die ab und zu Aufmerksamkt verlangt. «

‘Nine Inch Nails‘ wandelte sich immer wieder, um nicht auf dem selben Level stehen zu bleiben. Auch dank des Einflusses von ‘Ministry‘ und Konsorten, wurde der Sound bei der nächsten EP ‘Broken‘ das ganze Gegenteil zum von Reznor mittlerweile als zu leicht und steril bezeichneten Stil des Vorgängers. Sägende Gitarren und Noise-Kaskaden bratschten mit Wucht auf den Hörer ein. Niemand hatte diese Härte von ihm erwartet und alle erwarteten eigentlich ‘Pretty Hate Machine 2‘. Mit der nächsten EP ‘Fixed‘, einem Remixmerk, auf dem sich Legenden wie ‘Coll‘ oder ‘Foetus‘ an den ‘Broken‘-Tracks betätigten, gab es die immer noch nicht. Der Erfolg blieb aber beständig. Ein Beweis, daß die Fans musikalisch problemlos mitgewachsen waren. Die Industrie dankte es ihm mit einem Grammy für ‘Broken‘. Letztendlich wartete jeder auf ein komplettes Album und als 1994 ‘The Downward Spiral‘ in die Läden kam, war die Wandlung vollkommen. Brachiale Gitarrenwände wechselten sich mit ruhigen Klangexploriationen ab und der Sound nahm an organischer Substanz zu. Die Verkaufszahlen überboten alles dagewesene und der ‘NIN-Kult‘ der Medien fand einen vorläufigen Höhepunkt.

Eine Anbiederung an die Medien oder Entschärfung seiner Vision, um die anscheinende Kommerzialität nicht zu verlieren, fand deswegen aber noch lange nicht statt. Immer wieder gab es Probleme mit Moralaposteln, Medien und Regierungsstellen. Das fing schon mit dem Cover zur 10 von ‘Head Like a Hole‘ an. Das Bild eines gekreuzigten Kadavers und 10 Köpfe in Einweckgläsern riefen die Zensoren auf den Plan. Beim ‘Down In It-Video war sogar das FBI involviert, denn während des Videoshoots machte eine an einem Heliumballon befestigte Kamera Luftaufnahmen vom mit Maisstärke bedeckten um Boden liegenden Trent Reznor. Der Ballon trieb ab und landete bei einem Farmer im Gebüsch. Der dachte, daß es sich um Szenen aus einem Snuff-Video handelte, und die Medien stürzten sich mit Lust auf die Story. Angeblich soll es auch zu ‘Sin‘ ein Video geben, das nur aus schwulen Hardcore S/M-Pornos bestünde, nur um MTV zu verärgern, die sich immer weigerten, seine Videos zu spielen. Schließlich gibt es noch das Video zu ‘Happiness In Slavery‘, in dem Supermasochist Bob Flanagan in eine Maschine eingespannt ist, die ihn sexuell attackiert, verstümmelt und tötet. Da ist es klar, daß man dieses Videos nur in der ‘Closure’ Videosammlung in voller Länge genießen kann. MTV war nie eine große Hilfe, und Medienresonanz kam nur über Touren z.B. Europasupport für Guns‘N‘Roses oder große Festivals wie ‘Lollapalooza‘ oder ‘Woodstock 94‘. So konnte sich David Letterman, der USA liebster Nighttalker und Harald Schmidt-Vorbild, nach dem legendären Schlammbad des ‘Woodstock 94-Konzert eine Woche nicht mehr einkriegen und bezog sich ständig auf die »verrückten Jungs von ‘Nine Inch Nails“. Wegen MTVs ablehnender Haltung gegenüber ‘Nine Inch Nails‘ verwunderte dann auch der Auftritt bei den diesjährigen MTV-Awards. War man nach fünf Jahren Bühnenabstinenz so verzweifelt?

»Diese ganze Idee wurde an uns vor einigen Monaten herangetragen. Normalerweise würde ich so etwas ablehnen, und ich habe auch nein gesagt. Es war nicht so sehr die Verzweiflung, daß wir fünf Jahre weg waren. Okay, wir machen das. Soll ich meine Hosen falsch herum anziehen, okay, das mach ich auch. Das war es ganz bestimmt nicht. Es ist immer einfacher, diese Dinge nicht zu tun. Was interessant für mich war, war folgende Idee. Ich ging zu MTV und sagte: okay ich spiele einen Song, aber es wird nicht die Single sein, und wißt ihr was, gebt uns den schlechtesten Programmplatz. Wer war noch mit dabei? Britney Spears? Das Schlechteste vom Schlechten, stimmt‘s? In diesem Kontext können wir einen Unterschied machen, können wir die Leute erreichen. Jeder erwartete von uns, daß wir ‘We‘re In This Together‘ spielen würden, rumschreien und versuchen würden Korn zu ‘überKornen‘, laut rimspringen und solch‘ Firlefanz. Also haben wir uns entschlossen, den langsamsten Song den Albums zu spielen und die ganze Zeit sehr zurückhaltend zu sein. Mal sehen was passiert. Ich glaube, daß es in diesem Kontext funktioniert hat, auch wenn es eine schwere Entscheidung für mich war. Ich war dann ganz überrascht, als die Ergebnisse der Zuschauerabstimmung reinkamen und wir als beste Liveband gewählt wurden. Die ‘Backstreet Boys‘ waren seit zehn Jahren das Nummer Eins-Video jeden Tag und wir haben ein uns fremdes Publikum überzeugt. Ich habe gerade die Billboard’s Top Ten in Amerika gesehen und wir sind Nummer Eins. Das allein ist schon verrückt genug, aber wenn man dann sieht ‘Nine Inch Nails‘, ‘Backstreet Boys‘, ‘Britney Spears‘... das hat sowas von: du gehörst nicht hierher.«

DAS ZURÜCKGESTELLTE ICH

Trotz der scheinbaren Mühelosigkeit der Integration seines harschen musikalischen Stils in den Musik hörendes jungen Mainstream, bleibt Trent Reznor ein unerforschtes Phänomen. Der Künstler, der mit jedem Album in kürzester Zeit Platinum einheimste, ist ein rarer Gast, der nur hei Veröffentlichung seiner Musik ins Rampenlicht tritt. Die Person, die hinter Nine Inch Nails steckt, ist recht unbekannt. Es kursieren keine Gerüchte, es gibt keine Homestories mit Pose und Hund, keine wirklichen Skandale. Und so hätte es Reznor auch weiterhin gern, nur aus einem ganz anderen Grund.

«Mich haben schon einige Leute gefragt, warum ist dein Bild nicht auf dem Album, und warum sieht man dich nie Backstage, und wir wissen nicht, mit wem du gerade ausgehst. Der Grund dafür ist recht einfach, Ich will nicht, daß meine Person im Weg ist. Ich respektiere das Konzept ‘Nine Inch Nails‘, und ich will es nicht mit irgendeinem Nonsens, in den ich persönlich verstrickt bin, verschmutzen. Mir gefällt das Geheimnisvolle, und ich respektiere es. Ich über lasse es dem Hörer, die Lücken selbst zu füllen und erkläre nie wortwörtlich, was gemeint ist. Einfach weil es unwichtig ist, was ich damit meine. Es ist nur wichtig, was es dem Hörer bedeutet. Das weiß ich noch aus meiner Zeit als Fan, und darauf gründe ich alle meine Überlegungen, wenn es darum geht, wie ich etwas angehe. Als damals ‘The Wall‘ rauskam, kaufte ich es sofort und fand eine hundertprozentige Beziehung zu Roger Waters Ich habe keine Ahnung, was er wirklich mit manchem ausdrücken wollte, aber für mich war es etwas ganz Besonderes. Ich möchte ihm jetzt nicht begegnen, denn vielleicht ist er ja ein Arschloch, und das würde mich nur dazu bringen, die Platte nicht mehr zu mögen. Ich habe schon viele meiner Helden getroffen, und sie waren Scheiß Arschlöcher Das hat für mich einiges ruiniert, aber ich will hier nicht zu viel verraten. Es ist also nicht so sehr meine Angst, daß ich denke, daß ich ein Arschloch bin und mich niemand treffen soll. Das ist es wirklich nicht. Musik ist nur immer etwas sehr Mystisches und Besonderes für mich gewesen, und man muß sie wie Kunst behandeln. Deswegen habe ich auch so ein Problem mit der ganzen Idee Video. Ich denke, daß die meisten Videos schrecklich sind. 99% sind Mist. Musik sollte schon visuell sein, aber ich gebe dir meine Version des Visuellen. Das ist so, als würde ich das Buch lesen und anschließend den Film sehen, und im Film ist Tom Cruise. Der Film ist niemals so gut, als wenn man sich das selbst vorstellt. In mir gibt es den Geschäftsmann, der die Platte promoten will und all der Scheiß, aber es steckt die Gefahr besonders in Musikvideos, daß man etwas verderben kann. Ich bin jetzt wahrscheinlich auch nur in Deutschland, weil ich will, daß du meine Platte hörst und sie vielleicht kaufst. Es stimmt schon, daß ich dafür Geld kriege und Vorteile habe, wenn ich CDs verkaufe, aber ehrlich gesagt, zählt für mich nur, ob es dir etwas bedeutet.«

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