von Matthias Mineur
Elf Jahre ist es her, seit Trent Reznor das urdeutsche aller
Erlebnisse hatte. Er und seine Band, die amerikanische Industrial-Formation Nine
Inch Nails, spielten zu Beginn der Neunziger in Mannheim ausgerechnet im
Vorprogramm von Guns N' Roses. Zwei Welten prallten damals aufeinander - hier
eher simpler Hardrock für langhaarige Traditionalisten, dort
technoid-metallische computerklänge für Menschen mit resistentem Nervenkostüm.
Ein Spagat, der misslingen musste. "Als es losging, hatte ich die Hosen
gestrichen voll", erinnert sich Reznor mit Grauen. "Wir gingen auf die Bühne und
wussten sofort, dass wir keine Chance hatten. Es war die Hölle: 85.000 Menschen
pfiffen und zeigten uns den Mittelfinger. Sie waren gekommen, um eine Rockgruppe
mit Gitarren statt Synthesizern zu sehen. Für die Gunners-Fans waren wir keine
richtige Band, eher eine Art homosexuelles Gebilde. Als wir realisierten, dass
die Show den Bach runterging, zogen wir uns ein wenig weiter zurück. Gerade
dafür hassten uns die Leute aber nur noch mehr und warfen Bockwürste auf die
Bühne. An was denkt man, wenn man als Amerikaner zum ersten Mal nach Deutschland
kommt? An Würstchen! Und kaum standen wir in Deutschland auf der Bühne, flogen
tatsächlich Bockwürste."
Mittlerweile kann der sensible Musikus über diese Anekdote
schmunzeln. Nicht nur, da das hiesige Publikum bereits lange Frieden mit seiner
schroffen Sound-Apokalypse geschlossen hat, sondern auch, weil sich durch die
Erfolge der vergangenen Jahre aus dem notorischen Zweifler ein spürbar
ausgeglichener Zeitgenosse entwickeln konnte. In Amerika avancierte der
schwerreiche Trent zum Superstar, bekam gleich mehrere Grammy Awards, wurde 1994
zum Sexsymbol (!) des Jahres gewählt und verkaufte Tonträger oberhalb der
Dreimillionengrenze. Doch damit nehmen auch die kommerziellen Verlockungen
stetig zu: "Es gibt immer mehr Leute in meinem Umfeld, die fordern: ´Schreib
doch mal ´nen Singlehit, dann würdest du noch viel mehr Scheiben verkaufen! Dein
letztes Album ging vier Millionen mal über den Ladentisch, doch es könnten sechs
Millionen sein, wenn du etwas wirklich Radiotaugliches komponierst.' Man muss
solchen Stimmen entgegentreten und sich darauf besinnen, seine Musik aus rein
künstlerischen Motiven zu machen. Das klingt so simpel, aber ist doch sehr
kompliziert. Man sieht immer wieder, dass Bands nach großen Erfolgen völlig
abflachen, weil sie nur noch auf den Erfolg schielen und lediglich weiter Musik
machen, um Geld damit zu verdienen."
Bislang sind Nine Inch Nails standhaft geblieben, nehmen nur
die eigenen Klangvisionen als Maß aller Dinge und erklären Authentizität zum
obersten Gebot. So auch bei einem bereits 1997 geplanten Live-Video, das nach
Sichtung des Materials zurück in die Schublade musste. Trent: "Wir wollten
während der "The Downward Spiral"-Tour einen Livemitschnitt machen. Ich hatte
ein gutes Gefühl, die Band war sehr vital, die Konzerte liefen auch hohem
Niveau, die Reaktionen des Publikums waren fabelhaft. Also heuerten wir ein
großes Filmteam an, um eine Show aufzuzeichnen. Doch das Ergebnis war
fürchterlich. Es wirkte wie aus einer billigen Fernsehsendung, steril,
gekünstelt. Ich wollte ein möglichst authentisches Ergebnis und nicht Aufnahmen
aus irgendwelchen riesigen Kränen heraus, die typisch für den Glamour des
kommerziellen Showbiz sind."
Nach einem weiteren Studioalbum mit dem Titel "The Fragile"
wagte Reznor im vergangenen Frühjahr einen zweiten Versuch, die exaltierte
Bühnenshow seiner Band in Ton und Bild festzuhalten. Und diesmal fanden die
Aufnahmen doch tatsächlich den Zuspruch des eigenwilligen Meisters. Während der
"2000 Fragility V2.0"-Amerikatournee zeichneten Nine Inch Nails insgesamt 25
Konzerte mit einer Reihe kleiner portabler Digitalkameras auf und
veröffentlichten nun einen Zusammenschnitt dieser Shows unter dem Titel "And All
That Could Have Been" als Doppel-CD und DVD. Darauf visualisieren Nine Inch
Nails gekonnt ihre akustischen Horrorszenarien, dreschen dumpfe Rhythmen im
grellen Gegenlicht einer gespenstischen Bühnendekoration und transferieren das
harsche Klangbild ihrer Studioproduktionen konsequent auf die Bühne.
Besonders spannend an "And All That Could Have Been" sind
allerdings nicht die Aufnahmen der regulären Bühnenshow, sondern eine Bonus-CD
namens "Deconstructed/Quiet", die Reznor von einer überraschend neuen Seite
zeigt. Er erklärt: "Wir spielten eine Radioshow in Chicago, brachten nur das
nötigste Equipment mit und präsentierten die Sachen rein akustisch. Die Songs
haben einen exquisten Charme und gehen eine tolle Verbindung mit der regulären
Live-CD ein. Man hat also einerseits Nine Inch Nails als gewalttätigen,
lärmenden und chaotischen Rockact, während "Deconstructed/Quiet" das genaue
Gegenteil davon darstellt. Die Aufnahmen sind sehr intim, zumeist nur ich und
ein Piano - Lieder, die man an einem regnerischen Samstagnachmittag anhören
sollte."