New Orleans, Mitte Oktober. Das Wetter ist toll. Das Wetter
ist hier eigentlich immer toll. "Ist das der Grund warum Trent hier lebt?",
frage ich Tim, Trents Good Guy, sozusagen das Mädchen für alles, als er mich am
Hotel abholt. "Vielleicht. Ich weiß es nicht. Über so etwas redet er nicht so
viel." - "Ist er denn ein guter Chef?", frage ich. "Der beste", antwortet er.
"Er ist so relaxt, so nett. Und so visionär."
Ja, das ist er. Deshalb macht Trent Reznor auch nicht einfach
eine Live-Platte. Er macht gleich vier: Zwei in Form einer DVD, die ein
komplettes Konzert wiedergeben, zusammen geschnitten aus den Shows der
abgeschlossenen "Fragile V 2.0"-Tour. Und zwei in Form einer Doppel-CD - eine
mit den 16 besten Livemitschnitten der zurück liegenden Tour, die zweite unter
dem ominösen Titel "Still". Darauf entdeckt Reznor seine Vorliebe für sehr
ruhige Klänge. Akustische, oft nur vom Klavier begleitete Rohversionen alter und
neuer Songs, die uns wieder eine ganz neue Seite an Nine Inch Nails entdecken
lassen.
Da steht er, mitten im Aufenthaltsraum seines gewaltigen
Studios, das er in zwei bildhübsche alte Doppelhaushälften in einer ruhigen
Straße im Upper District gebaut hat. Jeans, schwarzes T-Shirt und herrliche
untrendige Sneakers an den Füßen, bittet er mich auf die große Couch, um mir die
DVD anzusehen. Ich sehe eineinhalb Stunden Rage, Wahnsinn, orgastische
Lichterlebnisse. Einen Trent Reznor, der förmlich die Kontrolle zu verlieren
scheint. Und eine fantastische Band, die dank des opulenten 5.1 Surround-Sounds
ganz gewaltig meine Haare fönt. Man muss es sagen: Das ist bombastisch.
Anschließend werde ich ins Studio geführt. Oder besser: In
den Tontechniker-Himmel. 30 Gitarren, 15 Bässe, drei Wände voller Effektracks,
mehrere Bandmaschinen, von denen eine alleine locker ein Millönchen aufruft.
Keine Frage: Der Mann spart nicht am falschen Ende. Zu hören gibt es Auszüge der
"Still"-CD. Einige bekannte Songs, wie "Hurt" oder "A Warm Place", komplett
entblättert bis auf die Melodie und einige Piano-Sprengsel. Und ein neuer,
großartiger Song, dessen Name mir im Eifer des Gefechts vergessen habe
aufzuschreiben. Noch sitzt Trent am Rechner in der Ecke, um e-Mails zu
beantworten. Plötzlich steht er auf, entschuldigt sich für die Unordnung, setzt
sich vor mich und schaut mich an. Jetzt soll ich wohl Fragen stellen.
VISIONS: Arbeitest du hier den größten Teil der Zeit
alleine?
Reznor: Nicht komplett alleine. In der Regel ist noch ein
weiterer Engineer hier, der sich um den ganzen Computerkram und die Verkabelung
kümmert.
VISIONS: Aber keine weiteren Musiker, richtig?
Reznor: Richtig.
VISIONS: Du bist als der Studio-Eigenbrödler, den man dir oft
nachsagt?
Reznor: Wohl schon. Ursprünglich war der Grund dafür, dass
ich einfach niemanden finden konnte, der mit mir Musik machen wollte. Früher war
das schlimm für mich, weil ich immer so gerne eine richtige Band gehabt hätte.
Aber ich bin einfach nicht mit den Musikern klar gekommen, die ich kannte.
VISIONS: Oder umgekehrt.
Reznor: Ja, oder das. Mit der Zeit hat sich das dann auch
eher als positiv heraus gestellt, denn ich habe bemerkt, dass ich alleine viel
effizienter und präziser arbeiten kann. Wenn ich ins Studio gehe, habe ich immer
einen ganzen Berg voller Ideen, die ich gleichzeitig angehen will, und da geht
es einfach schneller, wenn ich alles selber spiele, als wenn ich lang und breit
jedem erklären muss, was er zu spielen hat.
VISIONS: Spätestens vor einer Tour musst du das doch sowieso
tun.
Reznor: Ja, aber dann existiert die Musik ja schon, sie
brauchen nur noch nachspielen.
VISIONS: Die Liveband Nine Inch Nails ist also nichts weiter
als eine Nachspielkapelle deiner Studio-Aufnahmen?
Reznor: Na ja, das wäre jetzt vielleicht ein bisschen hart.
Schließlich haben wir gemeinsam an der Live-Umsetzung der Studio-Aufnahmen herum
arrangiert, und außerdem sind die Jungs wirklich gut. Aber im Prinzip hast du
nicht ganz unrecht: Ich wollte schon, dass Nine Inch Nails live nach einer
richtigen Band aussieht, was wir im Studio de facto nicht sind.
VISIONS: Warum kommt jetzt mit "And All That Could Have Been"
eine Live-Platte?
Reznor: Als es dran ging, die Setlist für die "Fragile"-Tour
zusammen zu stellen, wollte ich sie wie eine Retrospektive gestalten, sozusagen
das Beste von jeder Platte. Gleichzeitig sollte sie sehr kompakt und in sich
stimmig klingen, als ob alle Songs von ein und derselben Platte stammen, was sie
in der Studio-Version absolut nicht tun. Jedenfalls dachte ich mir, dass dieser
Gedanke es schon wert sei, konserviert zu werden, zumal sich viele Songs im Lauf
der Zeit sehr verändert haben. Außerdem wollte ich meiner Band einmal die Chance
geben, auch auf einer Platte zu beweisen, wie gut sie sind.
VISIONS: Fühlst du dich auf der Bühne zu hundert Prozent
wohl?
Reznor: Definitiv nicht. Ich kenne persönlich auch kaum
jemanden, der das tut. Ich glaube auch nicht, dass meine Musik besonders
selbstbewusst ist, in dem Sinne, dass sie eine richtige Bühnen-Performance
benötigt. Wie Tom Jones zum Beispiel - der Mann und seine Musik gehören auf die
Bühne, vor Publikum. Ich eigentlich nicht. Deshalb rede ich auch so gut wie nie
mit dem Publikum - ich habe ihm nichts zu sagen, was ich nicht schon mit meiner
Musik sagen würde. Es geht um eine spezielle Form von Spannung, die ich erzeugen
möchte, nichts anderes. Und dafür muss ich kein Bühnen-Typ sein.
VISIONS: Sehen wie im Rampenlicht den wahren, sozusagen
emotional entblößten Trent Reznor, oder doch eher einen Bühnen-Entwurf
desselben?
Reznor: Eine wirklich interessante Frage. Mal sehen. Als ich
damals anfing, mit meiner Musik auf die Bühne zu gehen, fand ich das eher sehr
aufregend, und manchmal ist es auch heute noch so. Dieser Umstand, dass ich die
Musik, die ich in absolut privaten, verletzlichen Momenten zu Hause auf meinem
Notebook geschrieben hatte, plötzlich mit sehr vielen Menschen geteilt habe, und
es trotzdem funktionierte, war schon erstaunlich. Meine Songs waren nichts
anderes als meine Musik gewordenen Eingeweide, mit all meinen Unsicherheiten,
Zweifeln, Depressionen. Und plötzlich sah ich Menschen, die mir meine Texte
einfach zurückschrieen, und ich bemerkte, dass sie auch anderen etwas bedeuten.
Ich weiß zwar nicht was, aber das spielt auch keine Rolle.
VISIONS: Glaubst du, sie wissen, was sie für dich
bedeuten?
Reznor: Nein, und ich werde einen Teufel tun und euch sagen,
was sie für mich bedeuten. Doch das ist, wie gesagt, egal. Es ging nur darum,
dass Menschen überhaupt etwas durch meine Musik empfinden. Als ich das zum
ersten Mal sah, war es wie eine regelrechte Gänsehaut-Detonation. Das führte
dazu, dass ich mich lange völlig verausgabt habe, um immer wieder dieses
Feedback zu bekommen. Doch mit der Zeit bemerkte ich, dass da ein Ungleich
gewicht zwischen Geben und Nehmen herrscht, denn eine halbe stunde nach dem
Konzert saß ich alleine in einem Backstage-Raum und fühlte mich nackt bis auf
die Knochen, und alle anderen waren wieder zu Hause in ihrem kleinen
aufgeräumten Leben und hatten mit mir eine gute Zeit, nicht mehr. Ich hatte das
Gefühl, der einzige zu sein, der sich nach diesem Energie-Austausch total
alleine fühlt. Dagegen musste ich etwas unternehmen, und deshalb verstecke ich
mich inzwischen lieber hinter einer kleinen Maskerade.
VISIONS: Viele greifen in solchen Situationen zu Drogen, um
diesen Moment des Hochgefühls wieder auszukosten.
Reznor: Das habe ich auch getan, lange, oft und viel. Aber
das ist auch nur ein Hinauszögern des Problems. Wobei: Das sage ich jetzt, wo
ich clean bin. Das war auch mal anders.
VISIONS: Es scheint irgendwie dazu zu gehören, wenn man
erfolgreich wird, dass man eine Zeit lang eine Menge Drogen nimmt.
Reznor: Ja, so ist es wohl. So war es zumindest bei mir. Es
gibt vieles, was ich aus dieser Phase meines Lebens bereue, es war ein sehr
selbstzerstörischer Lifestyle. Aber gleichzeitig bin ich froh, da durch gegangen
zu sein, denn es stärkt dich, mit Dingen abzuschließen. Es zeigt dir deine wahre
Natur, wenn es dir gelingt, der Versuchung zu widerstehen.
VISIONS: An welchen Facetten deiner Persönlichkeit glaubst du
jetzt noch arbeiten zu müssen?
Reznor: Ich hoffe, dass ich irgendwann eine Person bin, die
sich in jeder Situation des Lebens in ihrer Haut wohlfühlt. Davon bin ich noch
sehr weit entfernt, und ich beneide Menschen, die den Eindruck vermitteln, immer
exakt das Richtige zu tun und sich wohl dabei zu fühlen. Ich komme inzwischen
sehr viel besser mit mir zurecht, aber ich habe noch einen weiten Weg vor mir,
bis ich von mir sagen kann, ein selbstbewusster, überzeugender, liebenswerter
Mensch zu sein.
VISIONS: Noch einmal zurück zur Bühnen-Maskerade: Auf der DVD
gibt es eine Szene wo du mit einem Mikroständer ein Keyboard in seine
Einzelteile zerlegst. Das ist, vorsichtig gesagt, sehr Rockstar-like. Was bringt
dich dazu, so was zu tun? Ist es am Ende doch alles nur Show?
Reznor: Nein, das ist es nicht. Es gibt auch heute noch
Momente in Konzerten, bei denen die Intensität dermaßen explodiert, dass du
keine Kontrolle mehr hast. Du schaltest einfach auf Autopilot. Sicher, ich würde
lügen, wenn ich behaupte, dass es mit nicht auffällt, wie man damit die
Aufmerksamkeit der Leute auf sich ziehen kann. Wenn du zwei Jahre auf Tour bist,
gibt es nun mal Abende, an denen du dich nicht danach fühlst, wieder und wieder
durch diese Adrenalin-Hölle zu gehen, emotional, geistig und physisch. Da
bemerkst du dann schon, dass du manchmal der geworden bist, der du nie sein
wolltest: The guy who plays the role. I hate to say it.
VISIONS: Sprechen wir über den zweiten Teil des Doppelalbums,
die "Still"-CD. Wie kam es dazu?
Reznor: Nun, zuerst war die Idee für die DVD da, erst später
dachte ich darüber nach, den Mitschnitt auch als CD zu veröffentlichen. Aber nur
das Konzert auf CD zu brennen, erschien mir als nicht ausreichend. Zu der Zeit
hatten wir gerade in Chicago eine Radio-Show gespielt, sehr akustisch, ganz
zurückgelehnt, mit Songs wie "Hurt" oder "The Fragile", die ich sehr mag, die
aber nicht in unser Set passten. Einige Songs davon haben wir aufgenommen, und
ich dachte mir, dass sie eine gute Ergänzung zu der Live-CD abgeben würden.
Schließlich basieren sie auch auf Live-Aufnahmen, die ich nur noch ein wenig
nachbearbeitet habe.
VISIONS: Die Schönheit der Stille - ist das etwas, was auch
auf deine kommenden Projekte einen Einfluss haben könnte?
Reznor: Die Sachen, an denen ich im Moment arbeite - wobei
ich noch nicht einmal weiß, ob es sich dabei um NIN, Tapeworm oder etwas völlig
anderes handelt - sind wieder ganz anders. Ich habe mir jetzt über ein halbes
Jahr lang keine alten Platten von mir mehr angehört, weil ich Abstand brauchte
von diesem höher, schneller, weiter, weil ich wusste, dass etwas Neues kommen
muss. In der letzten Zeit habe ich wieder ein paar ältere Sachen gehört, und im
direkten Vergleich ist das Neue sehr viel dunkler, offener. Es ist ein bisschen
wie die alten Jesus and Mary Chain treffen auf Bauhaus treffen Joy Division.
Offener Minimalismus, könnte man vielleicht sagen, das Gegenteil dieser
gewaltigen Texturen wie auf "The Fragile". Mit geht es im Moment nicht darum,
viele Dinge auf einen richtigen Pfad zusammen zu bringen, ich will vielmehr den
Pfad freiräumen von allem überflüssigen Ballast.
VISIONS: Trent Reznor - der Künstler, der sich von Platte zu
Platte neu definieren muss?
Reznor: Ja, so ist es wohl. Es war kurios: Als ich nach der
letzten Tour erstmals wieder im Studio saß, wollte ich als erstes ein paar Songs
fertig machen, die noch aus der "Fragile"-Phase stammten, weil ich sie sehr
mochte. Und kaum das ich die Bänder mit den Rohversionen eingelegt hatte, war
ich schlagartig wieder in dem musikalischen Stadium, in dem ich mich bei ihrer
Entstehung befunden hatte. Das fand ich nicht richtig, also tat ich sie weg und
fing komplett von vorne an.
VISIONS: Wie geht das? Komplett von vorne anzufangen?
Reznor: Da ich ja alleine arbeite und keine Band habe, die
einen gewissen Soundrahmen vorgibt, erlege ich mit immer wieder neue Regeln und
Vorgaben auf, an die ich mich beim Musizieren halte. Wie zum Beispiel, dass ich
mit verbiete, beim nächsten Song Keyboards anzufassen oder nur eine bestimmte
Gitarre zu verwenden, um dann zusehen, was passiert. Oder ich zwinge mich, ein
paar Tage lang nur Akkorde auf dem Piano zu spielen, um auf diese Weise zu neuen
Kompositionen zu kommen. Solche Regeln mache ich ständig, und nur die wenigsten
davon sind wirklich gut. Aber ich lerne dadurch, auf musikalischer Ebene ich
selbst zu sein, ganz unabhängig davon, wie ich klinge.
VISIONS: Hat ein musikalisches Genie wie du wirklich solche
Regularien nötig, um kreativ zu sein?
Reznor: Unbedingt. Ich brauche sie, um mich nicht im Wust der
Möglichkeiten zu verlieren, um Musik zu einer Herausforderung zu machen. Und um
mich dazu zu zwingen, nicht in einem gut funktionierenden Soundrahmen stecken zu
bleiben. Ich will einfach besser werden als Songwriter, Musiker, Produzent. Als
Künstler.
VISIONS: Gibt es Musiker, deren Entwicklung dir als
Inspiration dient?
Reznor: Radiohead sind ein gutes Beispiel. Ich war nie ihr
größter Fan, bis ich zum ersten Mal "Kid A" hörte. Sie bewiesen Mut. Sie geben
etwas auf, das absolut nicht schlecht war, um etwas ganz anderes zu machen, was
viele vor den Kopf stoßen könnte. So etwas finde ich bemerkenswert. Oder David
Bowie. Er hat immer gemacht, was er wollte.
VISIONS: Fassen wir deine aktuelle Gemütsstimmung zusammen:
Deine exaltierte "Ziggy Stardust"-Phase ist vorüber, wir müssen auf alles
gefasst sein.
Reznor: So sieht's wohl aus. Aber ich finde, es ist auch
langsam an der Zeit, etwas komplett Neues anzufangen, ich bin kein jugendlicher
Rüpel mehr. Und ehrlich gesagt frage ich mich auch, ob ich mich von manchem
nicht schon viel früher hätte verabschieden sollen. Das fällt schwer - ich
mochte diese Ära, und die meisten Songs mag ich noch immer. Aber jetzt freue ich
mich auf Neues.
VISIONS: Was macht Trent Reznor eigentlich in seiner
Freizeit?
Reznor: Ich interessiere mich sehr für Licht-Design. Ich
finde es unbeschreiblich, was man mit Licht alles kreieren kann. Außerdem
schreibe ich viel - Kurzgeschichte, Drehbücher, alles Mögliche.
VISIONS: Sonstige Leidenschaften?
Reznor: Ich mag jede Form von Wassersport. Wasserski, Jetski,
Kitesurfing. Es ist gut, auf dem Wasser zu sein. Aber erzähl das keinem
weiter.
VISIONS: Warum nicht? Angst um dein Image?
Reznor: Na ja, ich fänd' eine Fotomontage von mir auf dem
Surfbrett irgendwie nicht so passend.
VISIONS: Bist du eitel?
Reznor: Wie kommst du darauf?
VISIONS: Nun, auf manchen Fotos, so wie in der zurück
liegenden VISIONS-Titelgeschichte, kommst du rüber wie ein männliches Model.
Sehr sinnlich, wenn ich das so sagen darf.
Reznor: Zeig mal her. (studiert die Fotos) Ja, ich bin eitel.
Keine Frage.
Sascha Krüger