Trent Reznors Nine Inch Nails haben mit
“The Downward Spiral” einen der wichtigsten Beiträge zum Soundtrack der Teenage
Angst der 90er geliefert. Während man vielerorts noch überlegte, was Nirvana
auf lange Sicht bedeuten und bewegen würden, legte dieser erweiterte
Depeche-Mode-Entwurf – der das Ende von dem was man bis dahin als Industrial
kannte, einläutete und die Geburtstunde von Marilyn Manson war – den Grundstein
für vieles, was und in den nächsten Jahren beschäftigen würde. Als
Übersexualisierte Menschmaschine warf Trent Reznor so gekonnt mit Parolen um
sich, dass man ihn bisweilen für das kommerzielle Alter Ego von Alec Empire
halten wollte.
„KEINER HAT
JE GESCHRIEBEN ODER GEMALT, GEFORMT, MODELLIERT, GEBAUT ODER ERFUNDEN, ES SEI DENN,
UM DER HÖLLE ZU ENTKOMMEN.“
[ ANTON ARNAUD:
„VAN GOGH, DER SELBSTMÖRDER DER GESELLSCHAFT“ 1947]
Die
Jugendzimmer dieser Welt hörten zu. Das hat jetzt mal gar nichts mit
Herablassung zu tun. Die Jugendzimmer dieser Welt sind die Weihestätten von beinahe
allem, was Rock‘n‘Roll im eigentlichen Sinne ist. Nur kam es so, dass sich der
Held unserer Geschichte infolge seines Erfolges so dermaßen geweiht fühlte,
dass er sich verpflichtet sah, fortan direkt in die bombastische Rockoperphase
seiner Karriere überzugehen. «The Fragile« wurde eine Doppel- CD, auf der jeder
einzelne Track mehr Spuren hatte als alle Alben der White Stripes zusammen. Ein
großes, weit ausholendes, unhandliches Werk, das dem Künstler wenig Wege nach
vorne offen ließ und die Hörer noch verstärkt vor das alte Problem stellte,
dass man sich zum Genuss dieser Musik ziemlich bedingungslos von ihr
überwältigen lassen musste. Trent Reznor hatte zum zweiten Mal versucht, die
Wagneroper unter den Industrial Pop-Alben zu kreieren. So ernst dieses Anliegen
von den Fans genommen wurde, so sehr wurde es in Zeitschriften wie dieser hier
belächelt. Was Mark Sikora im April 1994 zu «The Downward Spiral« zu schreiben
wusste, liest sich im Schnelldurchlauf so: «Tatsächlich glaube ich Reznor kein
einziges Wort von dem großspurigen Geblubber, das er auf ‘The Downward Spiral‘
ablässt. (...) Seine brandharmlosen ketzerischen Mitsing-Slogans zwischen
Salman Rushdie, Jello Biafra und Bud Spencer sind nicht von guten Eltern. (...)
Zugegeben, ich liebe diesen fantastisch bombastisch peitschenden Schwachsinn,
Da NIN seit Jahren Hunderttausende von Einheiten umsetzen, brauche ich mir um
den XTC-Fan und Mondo-2000-Liebling Reznor sowieso keine Sorgen machen.«
Was eine
solche Betrachtungsweise jedoch völlig außer Acht lässt, ist, dass Nine Inch
Nails nie einen solchen Erfolg gehabt hätten, wenn es bloß ein cartoonhaftes
Gebilde gewesen wäre. Klar, man konnte und kann diese Musik distanziert
schmunzelnd als feschen Krawall hören — auch wenn das bei «The Fragile« schon
schwieriger war — aber letztlich ist das etwa so erfüllend und spannend wie der
unsinnige Versuch, Scooter als avancierten Techno zu hören. Dass Nine Inch
Nails vielen Hörern so ungleich viel mehr bedeuten als ihre Weggefährten von
Ministry, liegt nicht zuletzt daran, dass sie weitestgehend frei von jeglicher
Ironie sind und in bestechender Ernsthaftigkeit auf die ungebrochen
authentische Gültigkeit ihrer künstlerischen und inhaltlichen Anliegen pochen.
Und genau das ist wohl auch der Grund dafür, dass man sich sehr wohl um Trent
Reznor hätte sorgen können.
Denn in den
letzten sechs Jahren, seit dem Erscheinen von “The Fragile“, rutschte Trent Reznor
immer tiefer in einen Sumpf aus Drogen — in erster Linie Alkohol und Kokain.
Das, was er immer in seinen Texten beschrieben hatte, was seine Musik
ausdrückte, wurde Wirklichkeit. Den kaputten Kerl, den man in seiner Musik
darstellt, zu ernst zu nehmen und eben nicht mehr als ein Zerrbild der
Gesellschaft darzustellen, sondern ein Abziehbild seiner eigenen Kunst zu
werden, ist ja überhaupt eine der Lieblingsverfehlungen stilprägender Musiker.
Als Reznor jedenfalls bemerkte, dass sich sein Manager und engster Vertrauter
jahrelang auf unschöne Art an ihm bereicherte, begab er sich in Therapie.
Nachdem er mit sich ins Reine gekommen war und seinen Manager gefeuert hatte,
begann er an neuen Songs zu arbeiten. Zum ersten Mal clean und nüchtern.
«WITH TEETH« ENTSTAND UNTER FÜR DICH NEUEN
KÖRPERLICHEN BEDIN GUNGEN. WELCHE SCHWIERIGKEITEN GAB ES DADURCH?
Es fühlte
sich an, als wäre ich reaktiviert. Ich wusste nicht, ob ich überhaupt noch was
zu sagen hatte, ob ich mich nicht bereits selbst zerstört hatte. Ich wusste
nicht, ob ich noch kreativ sein konnte. Es war die Hölle. Als ich für mich
entschieden hatte, clean zu werden, wollte ich unbedingt herausfinden, wer ich
eigentlich bin, was mich überhaupt antreibt. Ich merkte sehr schnell, dass das
Wichtigste in meinem Leben die Musik ist. Musik bedeutete mir immer mehr als
nur Texte und Melodien.
WIE GESTALTETE SICH DIE ARBEIT ZU «WITH
TEETH?
Ich begann
Anfang 2004. Rick Rubin war zunächst eine große Hilfe, eine Art Mentor. Ich
entschied mich, sehr zurückgezogen Songs zu schreiben, nur mit einem Laptop und
einem Minimum an Instrumenten, hauptsächlich auf dem Klavier. In der
Vergangenheit hatte ich das immer im Studio gemacht, was unheimlich viel Zeit
kostete. Es begann immer mit einem Bild, das ich in meinem Kopf hatte und dort
auch weiterentwickelte. Ich setzte mich hin, bastelte an einem Sound, dann an
noch einem, und setzte dann aus vielen Teilen die Stücke zusammen. Dieses Mal
fing ich mit den Songs bzw. den Texten an und zwang mich, zwei davon in zehn
Tagen fertig zu machen.
Solche
Äußerungen sind schon erst mal zum Fürchten. Selbstfindungsalben geläuterter
Musiker bilden ein Genre, das fast durchweg grauenvoll ist. Wie soll das auch
funktionieren, dass sich jemand, der den überbordenden Exzess zu seinem Thema gemacht
hatte, sich einfach auf seine Liebe zur Musik besinnt, und das wird dann gut?
Mal sehen: Natürlich ist es einfach, darüber zu schmunzeln, wie sehr Reznor
nach Michael Hutchence klingt, wenn er »With Teeth« singt. Oder darüber, dass
die bedeutungsschweren Klavierakkorde, mit denen die Platte nach drei Minuten
erst richtig losgeht, verdächtig nach “Praise You« von Fatboy Slim klingen.
Aber trotzdem funktionieren diese Songs. Dort, wo »The Fragile« unter dem
eigenen Bombast zu zerbrechen drohte, ist hier das meiste so weit reduziert,
dass man sieht: Es hat tatsächlich Zähne.
DU HAST DICH NIE POLITISCH GEÄUSSERT. MIT
«THE HAND THAT FEEDS«, SO KÖNNTE MAN MEINEN, REAGIERST DU AUF DIE DERZEITIGE
POLITISCHE SITUATION IN DEN USA. AUSSERDEM KURSIERT DAS GERÜCHT, DASS ES ZU
DIESEM SONG EIN ZWEITES VIDEO GIBT.
Okay, ich
habe bisher noch nicht darüber gesprochen (kurze Pause) ... aber ich werde es.
Natürlich bekomme ich die Entwicklung mit. Amerikaner lieben es, teilnahmslos
zu sein. Der Durchschnittsamerikaner scheint zu denken, dass die Welt an der
Landesgrenze endet und alles andere uninteressant ist. Du tendierst auch dazu
zu glauben, wenn du relativ intelligent bist, dass dir die Wahrheit
verschwiegen wird. Wahlen sind nur eine Fassade. Du hast die Wahl zwischen zwei
Kandidaten, die genau dasselbe darstellen. Die Medien werden sowieso nur für
Propaganda-Zwecke missbraucht. Als Bush an die Macht kam, schien es, als wäre
er die ultimative Puppe. Er kann ja noch nicht mal sprechen. Ich meine, diese
Kriege, die unglaublich vielen Menschenleben, die unfassbaren Lügen. Und Bush
wurde noch nicht mal gewählt. Aber was passiert? Wir wählen ihn ein zweites
Mal. Und das zeigte wieder einmal, wie gut die Republikaner die Kunst der
Propaganda beherrschen. Denn was viele Gebildete und rational Denkende nicht
gesehen haben, waren die Köder der religiösen Schwachsinnigen. Bush versteckt
sich hinter der Bibel. Also stellt er die Homosexuellen als Problem dar. Wenn
ihr John Kerry wählt, stimmt ihr für Sodomie, und Schwule werden neben euch
einziehen. Und auf einmal kommen diese ganzen Idioten aus ihren Häusern und
wählen den Falschen. Ich hatte das Bedürfnis, darüber einen Text zu schreiben,
denn ich hasse George Bush dafür, dass ich die amerikanische Grenze übertrete
und solche Sachen erzählen muss. Um auf deine Frage zurückzukommen ... es gibt
ein zweites Video (von GNN, die haben auch das Video zu Eminems «Mosh« gedreht,
Anm. d. A.). Es sollte ein Low-Budget-Video sein, und sie hatten ein gutes
Script. Es sollte die religiösen Rechten treffen, doch es ging von Anfang an
schief. Das Drehbuch tauchte im Internet auf, genauso wie der Song. Ich sah mir
den fertigen Schnitt an, aber das Video ist scheiße. Das war’s.
Das klingt
zuerst einmal wie die übliche Rede, die liberale Künstler aus den USA gerne vor
der europäischen Presse halten. Wenn dazu noch frei eingestanden wird, dass ein
explizit politisches Video dann doch zurückgehalten wurde, kommt man leicht in
Versuchung, den textlichen Minimalismus des betreffenden Stückes doch wieder
für leere Parolenschwingerei zu halten. Und in seiner Rolle als Pop-Single
funktioniert »The Hand That Feeds« viel leicht tatsächlich so, dass es ein
prima Radau fürs Auto oder das Festivalgelände ist. Aber Trent Reznor würde
nicht in einem solchen Ausmaß als Ausnahmekünstler verehrt, wenn die Kerngruppe
der Fans bei dieser Art von Betrachtung stehen bleiben würde. Für ein solides
Gepolter werden in einem Magazin wie Visions eher keine zehn Seiten
freigemacht. Welches Musikverständnis ist es aber, um das es hier geht?
»WITH TEETH» WIRKT NICHT SO KOMPRIMIERT WIE
DIE VORANGEGANGENEN ALBEN. DIESES MAL SCHEINT NICHT DAS GESAMTKONZEPT IM
VORDERGRUND ZU STEHEN, SONDERN DER EINZELNE SONG. MÜSSEN WIR ANGST HABEN, DASS
AUS NIN EINE SINGLE-BAND WIRD?
Ich habe mir
nie Singles oder »Greatest Hits«-Alben gekauft. Für mich sind einzelne Songs
nie so stark wie ein Gesamtkunstwerk. Wenn ich mich ganz besonders auf ein
neues Album freue, dann gehe ich damit nach Hause, lege den Hörer neben das
Telefon, setze mich hin und höre auf die Musik und die Texte, Aber wenn wir
ehrlich sind ... Ich weiß, dass die Leute nicht sagen:
“Trent, bring
ein Album raus, das zwei Stunden dauert, das ich konzentriert fünf- oder
sechsmal hören muss, bevor ich es verstehe und auch jede Soundspur entdeckt
habe.«
Vielleicht
stecken sowohl in der Frage als auch in der Antwort einige Missverständnisse.
Vor der Verweigerung von »The Fragile“ waren NIN schließlich mindestens zu der
Zeit, in der 14-Jährige auf Klassenfahrt »I want to fuck you like an animal»
sangen, eine astreine Single-Band. Der Erfolg der Band basiert doch wirklich
darauf, dass die Musik in den besten Momenten ganz unmittelbar Popmusik ist,
die aber einen überdurchschnittlichen Mehrwert anbietet. Die Wirkung dieses
Mehrwertes scheint wiederum Reznor selbst zu unterschätzen. Es wird genügend
Leute geben, die auch gegen ein dreistündiges Album nicht viel einzuwenden
gehabt hätten.
Die
Geschichte dieser Band bleibt aber deswegen interessant, weil »With Teeth« für
ein neues NIN-Album geradezu minimalistisch wirkt. Natürlich gibt es immer noch
reichlich feinstes, peitschendes Geknüppel. Darüber und drum herum geht die
Rechenleistung einer gut sortierten Computersammlung jedoch eine dermaßen
organische Verbindung ein, dass man irgendwo im Hinterzimmer The Notwist
vermutet. Oder, anders gesagt: Das Beachtliche an den neuen Nine lnch Nails
ist, dass die Dichte der hohlen Gesten drastisch reduziert wird und an den
freien Stellen etwas passiert, was das z.B. in der Motherboard-Kolumne dieses Heftes
musikalisch Verhandelte nicht einfach einkauft, sondern aus dem eigenen Wissen
und Erfahrungsschatz heraus aufbaut. Trent Reznor schaut den musikalischen
Entwicklungen noch immer nicht hinterher, sondern bleibt gewillt, sie
mitzugestalten. Und ungemein erfolgreich damit zu bleiben. Das kann man
durchaus einfach genießen. Wenn man dazu jedoch nicht bereit ist, und wenn
schon Johnny Cash nicht mehr lebt, um den Zweiflern zu beweisen, was für ein
toller Song etwa »Everything Where lt Belongs« ist, dann wird die Entwicklung
dieses Künstlers angesichts der kultischen Verehrung, die ihm bislang zuteil
geworden ist, nichtsdestotrotz spannend zu beobachten sein, während er älter
wird.
„With Teeth“
von Nine Inch Nails ist bereits bei Interscope/Universal erschienen. David
Fincher („Fight Club“, „Sieben“) hat bereits Ende April das Video zur zweiten
Single „Only“ abgedreht. Neben den Dresden Dolls wird auch Saul Williams bei
einigen Konzerten der NIN-Europa-Tour das Vorprogramm bestreiten.
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