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Jahr 2005

 

Spex

 

Juni 2005

 

There is no you, there is only me"

 

Text: Jan Niklas Jansen

Interview: Jens Nave

 

 

 

Trent Reznors Nine Inch Nails haben mit “The Downward Spiral” einen der wichtigsten Beiträge zum Soundtrack der Teenage Angst der 90er geliefert. Während man vielerorts noch überlegte, was Nirvana auf lange Sicht bedeuten und bewegen würden, legte dieser erweiterte Depeche-Mode-Entwurf – der das Ende von dem was man bis dahin als Industrial kannte, einläutete und die Geburtstunde von Marilyn Manson war – den Grundstein für vieles, was und in den nächsten Jahren beschäftigen würde. Als Übersexualisierte Menschmaschine warf Trent Reznor so gekonnt mit Parolen um sich, dass man ihn bisweilen für das kommerzielle Alter Ego von Alec Empire halten wollte.

„KEINER HAT JE GESCHRIEBEN ODER GEMALT, GEFORMT, MODELLIERT, GEBAUT ODER ERFUNDEN, ES SEI DENN, UM DER HÖLLE ZU ENTKOMMEN.“

[ ANTON ARNAUD: „VAN GOGH, DER SELBSTMÖRDER DER GESELLSCHAFT“ 1947]

Die Jugendzimmer dieser Welt hörten zu. Das hat jetzt mal gar nichts mit Herablassung zu tun. Die Jugendzimmer dieser Welt sind die Weihestätten von beinahe allem, was Rock‘n‘Roll im eigentlichen Sinne ist. Nur kam es so, dass sich der Held unserer Geschichte infolge seines Erfolges so dermaßen geweiht fühlte, dass er sich verpflichtet sah, fortan direkt in die bombastische Rockoperphase seiner Karriere überzugehen. «The Fragile« wurde eine Doppel- CD, auf der jeder einzelne Track mehr Spuren hatte als alle Alben der White Stripes zusammen. Ein großes, weit ausholendes, unhandliches Werk, das dem Künstler wenig Wege nach vorne offen ließ und die Hörer noch verstärkt vor das alte Problem stellte, dass man sich zum Genuss dieser Musik ziemlich bedingungslos von ihr überwältigen lassen musste. Trent Reznor hatte zum zweiten Mal versucht, die Wagneroper unter den Industrial Pop-Alben zu kreieren. So ernst dieses Anliegen von den Fans genommen wurde, so sehr wurde es in Zeitschriften wie dieser hier belächelt. Was Mark Sikora im April 1994 zu «The Downward Spiral« zu schreiben wusste, liest sich im Schnelldurchlauf so: «Tatsächlich glaube ich Reznor kein einziges Wort von dem großspurigen Geblubber, das er auf ‘The Downward Spiral‘ ablässt. (...) Seine brandharmlosen ketzerischen Mitsing-Slogans zwischen Salman Rushdie, Jello Biafra und Bud Spencer sind nicht von guten Eltern. (...) Zugegeben, ich liebe diesen fantastisch bombastisch peitschenden Schwachsinn, Da NIN seit Jahren Hunderttausende von Einheiten umsetzen, brauche ich mir um den XTC-Fan und Mondo-2000-Liebling Reznor sowieso keine Sorgen machen.«

Was eine solche Betrachtungsweise jedoch völlig außer Acht lässt, ist, dass Nine Inch Nails nie einen solchen Erfolg gehabt hätten, wenn es bloß ein cartoonhaftes Gebilde gewesen wäre. Klar, man konnte und kann diese Musik distanziert schmunzelnd als feschen Krawall hören — auch wenn das bei «The Fragile« schon schwieriger war — aber letztlich ist das etwa so erfüllend und spannend wie der unsinnige Versuch, Scooter als avancierten Techno zu hören. Dass Nine Inch Nails vielen Hörern so ungleich viel mehr bedeuten als ihre Weggefährten von Ministry, liegt nicht zuletzt daran, dass sie weitestgehend frei von jeglicher Ironie sind und in bestechender Ernsthaftigkeit auf die ungebrochen authentische Gültigkeit ihrer künstlerischen und inhaltlichen Anliegen pochen. Und genau das ist wohl auch der Grund dafür, dass man sich sehr wohl um Trent Reznor hätte sorgen können.

Denn in den letzten sechs Jahren, seit dem Erscheinen von “The Fragile“, rutschte Trent Reznor immer tiefer in einen Sumpf aus Drogen — in erster Linie Alkohol und Kokain. Das, was er immer in seinen Texten beschrieben hatte, was seine Musik ausdrückte, wurde Wirklichkeit. Den kaputten Kerl, den man in seiner Musik darstellt, zu ernst zu nehmen und eben nicht mehr als ein Zerrbild der Gesellschaft darzustellen, sondern ein Abziehbild seiner eigenen Kunst zu werden, ist ja überhaupt eine der Lieblingsverfehlungen stilprägender Musiker. Als Reznor jedenfalls bemerkte, dass sich sein Manager und engster Vertrauter jahrelang auf unschöne Art an ihm bereicherte, begab er sich in Therapie. Nachdem er mit sich ins Reine gekommen war und seinen Manager gefeuert hatte, begann er an neuen Songs zu arbeiten. Zum ersten Mal clean und nüchtern.

«WITH TEETH« ENTSTAND UNTER FÜR DICH NEUEN KÖRPERLICHEN BEDIN GUNGEN. WELCHE SCHWIERIGKEITEN GAB ES DADURCH?

Es fühlte sich an, als wäre ich reaktiviert. Ich wusste nicht, ob ich überhaupt noch was zu sagen hatte, ob ich mich nicht bereits selbst zerstört hatte. Ich wusste nicht, ob ich noch kreativ sein konnte. Es war die Hölle. Als ich für mich entschieden hatte, clean zu werden, wollte ich unbedingt herausfinden, wer ich eigentlich bin, was mich überhaupt antreibt. Ich merkte sehr schnell, dass das Wichtigste in meinem Leben die Musik ist. Musik bedeutete mir immer mehr als nur Texte und Melodien.

WIE GESTALTETE SICH DIE ARBEIT ZU «WITH TEETH?

Ich begann Anfang 2004. Rick Rubin war zunächst eine große Hilfe, eine Art Mentor. Ich entschied mich, sehr zurückgezogen Songs zu schreiben, nur mit einem Laptop und einem Minimum an Instrumenten, hauptsächlich auf dem Klavier. In der Vergangenheit hatte ich das immer im Studio gemacht, was unheimlich viel Zeit kostete. Es begann immer mit einem Bild, das ich in meinem Kopf hatte und dort auch weiterentwickelte. Ich setzte mich hin, bastelte an einem Sound, dann an noch einem, und setzte dann aus vielen Teilen die Stücke zusammen. Dieses Mal fing ich mit den Songs bzw. den Texten an und zwang mich, zwei davon in zehn Tagen fertig zu machen.

Solche Äußerungen sind schon erst mal zum Fürchten. Selbstfindungsalben geläuterter Musiker bilden ein Genre, das fast durchweg grauenvoll ist. Wie soll das auch funktionieren, dass sich jemand, der den überbordenden Exzess zu seinem Thema gemacht hatte, sich einfach auf seine Liebe zur Musik besinnt, und das wird dann gut? Mal sehen: Natürlich ist es einfach, darüber zu schmunzeln, wie sehr Reznor nach Michael Hutchence klingt, wenn er »With Teeth« singt. Oder darüber, dass die bedeutungsschweren Klavierakkorde, mit denen die Platte nach drei Minuten erst richtig losgeht, verdächtig nach “Praise You« von Fatboy Slim klingen. Aber trotzdem funktionieren diese Songs. Dort, wo »The Fragile« unter dem eigenen Bombast zu zerbrechen drohte, ist hier das meiste so weit reduziert, dass man sieht: Es hat tatsächlich Zähne.

DU HAST DICH NIE POLITISCH GEÄUSSERT. MIT «THE HAND THAT FEEDS«, SO KÖNNTE MAN MEINEN, REAGIERST DU AUF DIE DERZEITIGE POLITISCHE SITUATION IN DEN USA. AUSSERDEM KURSIERT DAS GERÜCHT, DASS ES ZU DIESEM SONG EIN ZWEITES VIDEO GIBT.

Okay, ich habe bisher noch nicht darüber gesprochen (kurze Pause) ... aber ich werde es. Natürlich bekomme ich die Entwicklung mit. Amerikaner lieben es, teilnahmslos zu sein. Der Durchschnittsamerikaner scheint zu denken, dass die Welt an der Landesgrenze endet und alles andere uninteressant ist. Du tendierst auch dazu zu glauben, wenn du relativ intelligent bist, dass dir die Wahrheit verschwiegen wird. Wahlen sind nur eine Fassade. Du hast die Wahl zwischen zwei Kandidaten, die genau dasselbe darstellen. Die Medien werden sowieso nur für Propaganda-Zwecke missbraucht. Als Bush an die Macht kam, schien es, als wäre er die ultimative Puppe. Er kann ja noch nicht mal sprechen. Ich meine, diese Kriege, die unglaublich vielen Menschenleben, die unfassbaren Lügen. Und Bush wurde noch nicht mal gewählt. Aber was passiert? Wir wählen ihn ein zweites Mal. Und das zeigte wieder einmal, wie gut die Republikaner die Kunst der Propaganda beherrschen. Denn was viele Gebildete und rational Denkende nicht gesehen haben, waren die Köder der religiösen Schwachsinnigen. Bush versteckt sich hinter der Bibel. Also stellt er die Homosexuellen als Problem dar. Wenn ihr John Kerry wählt, stimmt ihr für Sodomie, und Schwule werden neben euch einziehen. Und auf einmal kommen diese ganzen Idioten aus ihren Häusern und wählen den Falschen. Ich hatte das Bedürfnis, darüber einen Text zu schreiben, denn ich hasse George Bush dafür, dass ich die amerikanische Grenze übertrete und solche Sachen erzählen muss. Um auf deine Frage zurückzukommen ... es gibt ein zweites Video (von GNN, die haben auch das Video zu Eminems «Mosh« gedreht, Anm. d. A.). Es sollte ein Low-Budget-Video sein, und sie hatten ein gutes Script. Es sollte die religiösen Rechten treffen, doch es ging von Anfang an schief. Das Drehbuch tauchte im Internet auf, genauso wie der Song. Ich sah mir den fertigen Schnitt an, aber das Video ist scheiße. Das war’s.

Das klingt zuerst einmal wie die übliche Rede, die liberale Künstler aus den USA gerne vor der europäischen Presse halten. Wenn dazu noch frei eingestanden wird, dass ein explizit politisches Video dann doch zurückgehalten wurde, kommt man leicht in Versuchung, den textlichen Minimalismus des betreffenden Stückes doch wieder für leere Parolenschwingerei zu halten. Und in seiner Rolle als Pop-Single funktioniert »The Hand That Feeds« viel leicht tatsächlich so, dass es ein prima Radau fürs Auto oder das Festivalgelände ist. Aber Trent Reznor würde nicht in einem solchen Ausmaß als Ausnahmekünstler verehrt, wenn die Kerngruppe der Fans bei dieser Art von Betrachtung stehen bleiben würde. Für ein solides Gepolter werden in einem Magazin wie Visions eher keine zehn Seiten freigemacht. Welches Musikverständnis ist es aber, um das es hier geht?

»WITH TEETH» WIRKT NICHT SO KOMPRIMIERT WIE DIE VORANGEGANGENEN ALBEN. DIESES MAL SCHEINT NICHT DAS GESAMTKONZEPT IM VORDERGRUND ZU STEHEN, SONDERN DER EINZELNE SONG. MÜSSEN WIR ANGST HABEN, DASS AUS NIN EINE SINGLE-BAND WIRD?

Ich habe mir nie Singles oder »Greatest Hits«-Alben gekauft. Für mich sind einzelne Songs nie so stark wie ein Gesamtkunstwerk. Wenn ich mich ganz besonders auf ein neues Album freue, dann gehe ich damit nach Hause, lege den Hörer neben das Telefon, setze mich hin und höre auf die Musik und die Texte, Aber wenn wir ehrlich sind ... Ich weiß, dass die Leute nicht sagen:

“Trent, bring ein Album raus, das zwei Stunden dauert, das ich konzentriert fünf- oder sechsmal hören muss, bevor ich es verstehe und auch jede Soundspur entdeckt habe.«

Vielleicht stecken sowohl in der Frage als auch in der Antwort einige Missverständnisse. Vor der Verweigerung von »The Fragile“ waren NIN schließlich mindestens zu der Zeit, in der 14-Jährige auf Klassenfahrt »I want to fuck you like an animal» sangen, eine astreine Single-Band. Der Erfolg der Band basiert doch wirklich darauf, dass die Musik in den besten Momenten ganz unmittelbar Popmusik ist, die aber einen überdurchschnittlichen Mehrwert anbietet. Die Wirkung dieses Mehrwertes scheint wiederum Reznor selbst zu unterschätzen. Es wird genügend Leute geben, die auch gegen ein dreistündiges Album nicht viel einzuwenden gehabt hätten.

Die Geschichte dieser Band bleibt aber deswegen interessant, weil »With Teeth« für ein neues NIN-Album geradezu minimalistisch wirkt. Natürlich gibt es immer noch reichlich feinstes, peitschendes Geknüppel. Darüber und drum herum geht die Rechenleistung einer gut sortierten Computersammlung jedoch eine dermaßen organische Verbindung ein, dass man irgendwo im Hinterzimmer The Notwist vermutet. Oder, anders gesagt: Das Beachtliche an den neuen Nine lnch Nails ist, dass die Dichte der hohlen Gesten drastisch reduziert wird und an den freien Stellen etwas passiert, was das z.B. in der Motherboard-Kolumne dieses Heftes musikalisch Verhandelte nicht einfach einkauft, sondern aus dem eigenen Wissen und Erfahrungsschatz heraus aufbaut. Trent Reznor schaut den musikalischen Entwicklungen noch immer nicht hinterher, sondern bleibt gewillt, sie mitzugestalten. Und ungemein erfolgreich damit zu bleiben. Das kann man durchaus einfach genießen. Wenn man dazu jedoch nicht bereit ist, und wenn schon Johnny Cash nicht mehr lebt, um den Zweiflern zu beweisen, was für ein toller Song etwa »Everything Where lt Belongs« ist, dann wird die Entwicklung dieses Künstlers angesichts der kultischen Verehrung, die ihm bislang zuteil geworden ist, nichtsdestotrotz spannend zu beobachten sein, während er älter wird.

„With Teeth“ von Nine Inch Nails ist bereits bei Interscope/Universal erschienen. David Fincher („Fight Club“, „Sieben“) hat bereits Ende April das Video zur zweiten Single „Only“ abgedreht. Neben den Dresden Dolls wird auch Saul Williams bei einigen Konzerten der NIN-Europa-Tour das Vorprogramm bestreiten.

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