"NINE INCH NAILS is Trent Reznor". So stand es auf der
ersten Platte dieses Genies der offenen Klänge und harschen Ästhetik, dieses
Künstlers mit der Lust am radikalen Zerstören Von Dogmen und Hörgewohnheiten.
Programmatisch wie diese Zeile fielen alle seine Titel aus, ob Alben oder Songs.
Wer seine Platten kennt, kennt sein Leben, Von der jungen "Pretty Hate Machine"
über die selbstzerstörende "Downward Spiral" zu dem labilen inneren
Gleichgewicht Von "The Fragile". "With Teeth" zeigt nun: Der ‚Dark Prince' hat
noch Zähne. Ein Leben.
Living In The Streets
Am 17. Mai 1965, morgens um 7.30 Uhr, bekommt die Hausfrau
Nancy Clark in dem beschaulichen Mercer, Pennsylvania, ihren ersten Sohn Michael
Trent. Grüne Augen, dunkelbraune Haare, ein hübsches Kind. Mit Vater Mike
Reznor, einem Innenausstatter und Hobbymusiker in einer Bluegrass-Band, sind sie
eine normale Familie - in jeder Hinsicht: Es gibt schöne Tage und schlechte,
kleine Freuden und heftige Streits der Eltern. Jene eskalieren, und Michael -
der sich, um Verwechslungen mit seinem Dad zu vermeiden, schon bald für seinen
zweiten Namen als Rufnamen entscheidet - verbringt immer mehr Zeit bei den
Eltern der Mutter, einer Hausfrau und einem Möbelverkäufer.
Stimpy, wie sie ihn damals rufen, baut Flugzeug-Modelle, geht
zu den Pfadfindern und ist ein Riesenfan vom frisch erfundenen Skateboard. Mit
fünf beginnt er, Klavierstunden zu nehmen, schon bald wagt er sich ins Reich der
Improvisationen. Seine Klavierlehrerin Rita Beglin wird sein Spiel später mit
dem von Loungejazzer Harry Connick Jr. vergleichen. 1971 erblickt seine
Schwester Tera das Licht der Welt, kurz darauf lassen sich die Eltern scheiden.
Tera bleibt bei der Mutter, Trent zieht ganz zu seinen Großeltern, wo er, wie er
immer wieder betont, "eine glückliche, ganz normale Kindheit" verbringt.
In der High School hat der umgängliche, schneidige und
populäre Trent nur zwei echte Interessen: Musik und Schau spiel. Er gibt den
Judas in einer Schulaufführung von Jesus Christ Superstor" und wird von seinen
Klassenkameraden zum Schulbesten im Fach ‚Drama' gekürt. Die Marching Band der
Schule sucht nach Interessierten, er nimmt an und bringt sich selbst das
Saxofon- und Tubaspielen bei. Parallel spielt er in der schuleigenen Jazzband,
probiert es in einer Beat-Combo, vertieft sich weiter in die Piano-Etüden
klassischer Musik und wird bekennender Riss-Fan.
"Als ich 15 war, gab es bestimmte Songs, die mir das Gefühl
gaben, nicht allein zu sein, die ausdrücken konnten, was ich nicht fähig war
auszudrücken", erzählt er. "Darum hatte Musik immer einen besonderen Stellenwert
in meinem Leben. Es war nie nur Sound, nie nur Wörter. Es war viel mehr." Kaum
der High School entronnen, zieht es ihn 1983 nach Pennsylvania. wo er am
Allegheny College einen Studiengang in Musik und Computer-Aufnahmetechnik
beginnt.
Nicht mal ein Jahr hält es ihn dort; die Lehrmethoden sind
ihm zu statisch, er will schneller erfahren, wie Musik entsteht und wie man sie
konservieren kann. Seine damalige Freundin Andrea Mulrain erinnert sich. , Er
war schon damals der fokussierteste und getriebenste Mensch, den ich je kennen
gelernt habe. Ein sehr innovativer Geist." Zudem feiert er die ersten lokalen
Erfolge mit seiner Band Option Thirty, die mindestens drei Abende pro Woche auf
Konzertbühnen verbringt.
Gemeinsam mit Chris Vrenna, einem alten High-School Kumpel
aus Mercer, packt er seine Sachen und zieht nach Cleveland, um der Enge der
bislang in seinem Leben vorherrschenden Kleinstädte zu entfliehen. Er absolviert
erfolgreich ein Casting für die als Mainstream-Projekt angelegte Band The
Innocent und nimmt mit ihr das Album "Living In The Streets" auf - inzwischen
ein begehrtes Sammlerstück. Nach drei Monaten verlässt er die Band wieder, denn
er hat ein neues Interesse entdeckt: Industrial. Als bekennenden
Synthie-Wave-Popper faszinieren Reznor die Wucht und die Härte, die sich mit
Computern und Keyboards erzeugen lässt. Er ist überwältigt von Bands wie
Throbbing Gristle und Skinny Puppy, die neuerdings aus dem Untergrund heraus
Hörgewohnheiten brechen. Trotz allem braucht er Geld zum Leben; er jobbt in
einem Musikladen, verdingt sich als Mietmusiker bei Top 40-Coverbands und fällt
dabei einem jungen Typen auf, der einige lokale Bands betreut: John Malm Jr.
entdeckt Trents Potenzial und bietet sich als Manager an - lange bevor Reznor
selber überhaupt über eine Band und eigene Musik nachdenkt. Eine geschäftliche
und enge freundschaftliche Verbindung entsteht, die über 15 Jahre halten
wird.
Down In lt
Zu den ersten eigenen Songs und Aufnahmen kommt es, als
Reznor einen Job als Engineer für die Nachtschicht in den ‚Right Track Studios'
in Cleveland annimmt. Mit der Genehmigung des Studio-Eigners Bart Koster darf er
die Morgenstunden, nachdem die aufnehmenden Bands gegangen sind, dazu nutzen,
sich selber die Studio- und Computertechnik beizubringen und an seinen ersten
Demos zu basteln. Schon hier manifestiert sich sein Gefühl, dass er am besten im
Studio arbeiten kann, wenn er alleine ist. "Ursprünglich war der Grund für mein
einsames Studio-Dasein, dass ich einfach niemanden finden konnte, der mit mir
Musik machen wollte. Früher war das schlimm für mich, weil ich immer so gerne
eine richtige Band gehabt hätte. Aber ich bin einfach nicht mit den Musikern
klar gekommen, die ich kannte. Mit der Zeit hat sich das dann auch als positiv
heraus gestellt, denn ich habe bemerkt, dass ich alleine viel effizienter und
präziser arbeiten kann. Wenn ich im Studio bin, habe ich immer einen ganzen Berg
voller Ideen, die ich gleichzeitig angehen will. Und da geht es einfach
schneller, wenn ich alles selber spiele, als wenn ich lang und breit jedem
klären muss, was er zu spielen hat."
1987 steuert er mit seiner Teilzeit-Kapelle Exotic Birds
einen Song zu dem Soundtrack des Michael J. Fox-Films "Ligt Of Day" bei. Die
Produzenten des Films sind beeindruckt von seiner Ausstrahlung und bieten ihm
eine Rolle im Film an - während einer Bar-Szene kann man ihn an den Keyboards
der Filmband The Problems sehen. Und: Er erhält seine ersten Album-Credits; auf
zwei Songs des Albums "Communique", einer Platte des Folksängers Lucky Pierre,
singt und spielt Saxofon.
Doch was ihn wirklich interessiert, ist seine eigene Musik.
Über ein Jahr sitzt der Autodidakt an diversen Versionen erster Songs. Dabei
geht ihm zunächst nur um die Musik: "Als ich anfing, wollte ich etwas
Bedeutsames tun. Für mich war es am Anfang wie ein Fluch, Texte zu schreiben. Es
schien mir alles so unwichtig. Also ging ich mit meiner Musik zu ein paar
Journalisten. Ich dachte, dass die zu meiner Musik die Texte liefern könnten.
Aber sie haben mich davon überzeugt, es selbst zu tun. Sie haben eine Kraft
entdeckt, der ich mir selbst nicht bewusst war. Rückblickend betrachtet zeigte
mir das auch, dass ich nicht in eine Rolle schlüpfen darf, hinter der ich mich
verstecken kann, sondern dass ich mein Innerstes nach außen kehren musste.
Damals fiel die Entscheidung, ich war fähig, etwas von Bedeutung, etwas
Künstlerisches zu tun. Ich dachte damals: Niemand wird je meine Musik hören. Und
dann waren es doch ein paar. Jenen hat es etwas bedeutet."
Auf der Suche nach einem Label stolpert Reznor über eine
Offerte der New Yorker Plattenfirma ‚TVT Records', die sonst auf TV-Musik
spezialisiert ist. Ein komisches Heim für seine Musik, aber zumindest überhaupt
eines. Reznor unterschreibt - und braucht einen Namen. "Es ist ein verdammter
Fluch, sich einen guten Bandnamen einfallen zu lassen. Du denkst, du hast einen
richtig coolen, schläfst eine Nacht drüber, und am nächsten Tag fällt dir auf,
wie dämlich er ist. Ich hatte etwa 200 solcher Namen. Der Name Nine Inch Nails
hingegen überstand den Zwei-Wochen-Test, er sah geschrieben und in der Kurzform
gut aus, man konnte sich ihn einfach einprägen. Eine wirklich tiefere Bedeutung
hat er aber nicht. Es sollte etwas sein, das einerseits etwas Unangenehmes
impliziert, andererseits auch etwas Verführerisches. Nine Inch Nails beinhaltet
Subversion und Gefahr. Es lässt einen zurückzucken und doch zugreifen."
I Just Want Something I Could Never Have
Kaum ist die Tinte unter dem Vertrag trocken, geht es los:
Anstatt die rund ein Dutzend fertigen Songs, die er in Nacht-und-Nebel-Aktionen
in den ‚Right Track Studios' zusammengebaut hat, neu aufzunehmen, entscheidet
sich Reznor dafür, die Demos lediglich noch einmal von Profis überarbeiten und
polieren zu lassen. Man bringt ihn zusammen mit dem Produzenten Mark Ellis, der
unter dem Pseudonym Flood bereits für U2 und Depeche Mode gearbeitet hat. Dieser
gibt den Synthie-dominierten Rohversionen einen satteren, farbenreicheren
Anstrich und involviert zudem - um den Klangrahmen breiter zu fächern - die
Dub-Spezialisten Keith Leblanc und Adrian Sherwood aus dem ‚On-U-Sound-Zirkel.
Bei den Aufnahmen hilft Reznor lediglich Langzeit-Freund Chris Vrenna sowie an
der Gitarre auf einigen Tracks ein gewisser Richard Patrick, den Vrenna gut
kennt.
Am 15. September 1989 erscheint in den USA die erste Single
"Down In lt' und löst umgehend Kontroversen aus. Es ist ein heftiger, textlich
kryptischer Song über das Gefühl absoluten Scheiterns; man streitet darüber, ob
es nun um Tod, Selbstmord oder Sex geht, und auch Reznor trägt zu der Aufklärung
nicht bei - bis heute umgeht er es, explizit die Inhalte seiner Lyrics zu
erklären. Gut einen Monat später folgt das Album "Pretty Hate Machine", das sich
nur in der Rückschau als Meilenstein darstellt. Damals ist es eher eine Platte,
über die man sich in eingeweihten Zirkeln unterhält, weil sie so provokant
ist.
Und sie bringt einige innovative Elemente in das Genre: In
seiner Verbindung aus stark Synthesizer-getriebener Klanggestaltung und harschen
Gitarren stellt "Pretty Hate Machine" etwas Neues dar. Reznor personifiziert mit
seiner inneren Zerrissenheit, dem dunklen Sex und der Selbst-Obsession eine
menschliche Stimme, einen Verbindungspunkt zwischen den bis dahin rein
maschinellen Darstellungsweisen der Industrial- und Synthiepop-Musik. Ihm
gelingt ein neuer Soundtrack adoleszenter Angst, der neben Härte und Coolness
auch Platz findet für aufbrechende Melodramatik und eine fühlbare emotionale
Extravaganz nachhörbar in für dieses Genre bisher völlig undenkbaren Balladen
wie "Something I Could Never Have".
Neue Nahrung für Diskussionen erlangt man durch die Videos.
Der Clip zur dritten Single "Sin" wird von MTV aufgrund der expliziten
Darstellung gepiercter Genitalien und eines vollzogenen homosexuellen Akts
niemals gezeigt (seit 1997 wieder nachzusehen auf der VHS-Sammlung "Closure").
Die Folge: Verwirrung innerhalb der Szene, außerhalb sowieso.
Reznor dazu: "Wenn du versuchst, etwas anders zu machen,
wirst du dafür bestraft. Wenn du aber auf den Konsumenten zugeschnittene,
kategorisierbare, sogenannte ‚Musik' machst, die eigentlich nur ein Produkt ist,
dann wirst du über alle Maßen belohnt. Da ich aber so etwas wie Stolz in mir
habe, kann ich entweder aufgeben und schmollend in meinem Schlafzimmer Musik
machen, von der es mir egal ist, ob sie jemals jemand hört. Oder ich kann einen
Versuch starten, in den Grenzen des guten Geschmacks etwas zu promoten, woran
ich hart gearbeitet habe. Etwas, das ich liebe und von dem ich denke, dass es
gut ist, dass es zurecht das Gehirn der Menschen in Anspruch nimmt. Es gibt
nämlich ein anderes Level als das unterste. Musik kann Tiefe haben, Musik kann
ehrliche Kunst sein, nicht nur Fahrstuhlhintergrundmusik oder der Soundtrack für
Teenager-Partys."
Reznor wird es schnell leid, auf die Industrial-Szene
festgelegt zu werden. Nach einer kurzen Solo-Tour im Vorprogramm von Skinny
Puppy stellt Reznor seine erste Liveband zusammen:
Vrenna an den Drums, James Woolley an den Keyboards und
Richard Patrick an der Gitarre. Nach einer kurzen Probephase geht es auf Tour -
mal alleine durch shitty Clubs, dann wieder im Vorprogramm solch gegensätzlicher
Künstler wie Jesus & Mary Chain, Jane's Addiction, Guns N'Roses und Peter
Murphy. Mit dem Indie- und College Radio-Hit "Head Like' A Hole", dem erneut
kontrovers düsteren Video und der Einladung, 1991 an der Lollapalooza-Tour
teilzunehmen, ist der Schritt aus dem Untergrund getan; Nine Inch Nails sind -
zumindest in den Staaten - verankert als eine feste neue Größe in der
alternativen Musik.
Help Me I Am In Hell
Nach fast drei Jahren auf der Straße platzt Reznor fast vor
Ideen. Inspiriert durch die Härte und Kompromisslosigkeit seiner Liveband, will
er Musik machen, "die beim Hören Schmerzen bereitet." Das Ergebnis, wieder unter
produktioneller Mithilfe von Flood in Studios zwischen New Orleans, New York,
L.A. und Miami entstanden, heißt "Broken" und ist in seiner unmittelbaren
klanglichen Brutalität das wohl am schwersten verdauliche Stück NIN-Musik. Sechs
Songs plus zwei Bonustracks (einer davon ein Cover des Adam Ant-Stückes
"Physical", mit dem er zwinkernd auf seine Nähe zur New Wave hinweist (als eine
Wiedergabe musikalischer und textlicher Endzeitstimmung.
"Broken" ist exakt die richtige Veröffentlichung zum
passenden Zeitpunkt: neuer Stoff für die darbenden Fans, härter als alles, was
man bis dahin gekannt hat, und auch in seinem EP-Format optimal. Denn ein ganzes
Album in dieser kühlen, abstoßenden Fleischwolf-Asthetik, verpackt in einen
massiven Berg aus Verzerrung, wäre alles Mögliche gewesen, doch vor allem: Musik
an der Grenze zur Selbstparodie.
Auch optisch gibt es wieder derben Spaß für Nachwuchs-Kranke:
Das Video zu "Happiness In Slavery" gedreht von dem Coil-Musiker Peter
Christopherson, landet umgehend auf den Index. Die Darstellung des
S/M-Performance-Künstlers Roh Flanagan, wie er von einer Maschine missbraucht,
gefoltert und schlussendlich getötet wird, ist schlicht zu heftig. Nicht anders
ergeht es dem Video zu "Pinion" - zwei Mal gezeigt, dann für immer verbannt. Als
Gegenreaktion dreht Reznor gemeinsam mit Christopherson einen leider niemals
veröffentlichten, längeren Film zur gesamten "Broken"-EP, der, so Reznor,
"Happiness In Slavery" aussehen lässt wie einen Disney-Film."
Mit "Broken" hat Reznor seine Idee des perfekten Artworks zur
Musik gefunden: artifiziell, deutungsreich, abstrakt und ohne jede Abbildung
seines Konterfeis. Gab es auf "Pretty Hate Machine" noch ein - wenn auch stark
verschwommenes - Foto, gilt ab jetzt: Reduktion ohne Kompromisse. Er erklärt:
"Ich will mit meiner Persönlichkeit nicht die Musik und ihre Mystik
überschatten. Wenn man zuviel sieht, geht zuviel verloren. Das absolut
Wichtigste ist die Musik. Ich bin nicht der Typ, der sich mit Supermodels
trifft. Ich wollte Nine Inch Nails immer so darstellen, dass man nicht den Mann
hinter dem Vorhang sieht, der die Fäden zieht."
Begleitet von den Skandälchen und dem Umstand, dass der Song
"Wish" trotz des an zentraler Stelle untergebrachten Wörtchens ‚fist fuck' einen
Grammy erhält, steigt "Broken" bis auf Platz 5 der Billboard Album Charts; auch
die später veröffentlichte Remix-Platte "Fixed" wird, obschon noch radikaler,
begeistert aufgenommen. Reznor hat bewiesen, dass er auch mit völlig
unkommerzieller, ja unzugänglicher Musik Erfolge feiern kann. Anbiedern nicht
notwendig. Expect everything.
Closer (To God)
Bereit, ein richtiges neues Album aufzunehmen, kauft Reznor
1992 im kalifornischen Promi-Pfuhl Bel Air ein Haus und richtet sich ein Studio
ein. Die Adresse, 10050 Cielo Drive, ist Satanisten und Freaks schon lange ein
Begriff: In diesem Haus ermordeten 1969 Anhänger von Charles Manson die
Schauspielerin Sharon Tate. Reznor behauptet bis heute, davon erst später
erfahren zu haben, "was nur wieder ein Beweis dafür ist: Ich ziehe diese dunklen
Sachen einfach an. Es ist wie ein Omen." (Was ihn später nicht daran hinderte,
die Eingangstür des Hauses in seine ‚Nothing'-Studios in New Orleans einbauen zu
lassen.)
Apropos ‚Nothing': Schon nach dem Release des Debüts erweist
sich die Wahl von ‚TVT' als falsch. Das Label zeigt sich nach "Broken" irritiert
aufgrund der musikalischen Richtung und will stärkeren künstlerischen Einfluss
nehmen - ein völlig unhaltbarer Zustand für Reznor. Mit Hilfe von ‚Interscope'
gelingt es, ihn aus dem ‚TVT' Vertrag herauszulösen. Mit dem mit Manager MaIm
gegründeten eigenen Label ‚Nothing' im Gepäck wird ein für ihn sinnvoller, weil
künstlerisch autonomer Deal mit ‚Interscope' abgeschlossen. Die von Beginn an
mit dem Gaga-Zusatz ‚Halo' durchnummerierten Veröffentlichungen erscheinen nun
unter eigenem Regiment.
Doch zurück zur Musik: Zur Übung versucht sich Reznor
zunächst an ein paar Remixen für Machines Of Loving Grace, Queen, Curve,
Butthole Surfers und Megadeth, bevor er in die Arbeit einsteigt. "Die Vision für
dieses Album war absolut klar - es war schon komplett in meinem Kopf, bevor ich
überhaupt einen einzigen Ton aufgenommen hatte." Es soll ein Konzeptalbum werden
über das Ausloten menschlicher Degenerierung durch Sex, Drogen, Gewalt,
Depression und den abschließenden Selbstmord kulminierend in "Hurt", dem
vielleicht intensivsten Stück aus seiner Feder: "I hurt myself today / to see if
I still feel /I focus on the pain / the only thing that's real".,,The Downward
Spiral" ist geboren.
Entgegen immer wieder aufkommender Gerüchte, dieses Album sei
ein einziger Drogentrip, meint Reznor: "Auf jede andere Platte trifft das eher
zu als auf diese. Ich war die gesamte Arbeit über sehr fokussiert, ich habe wie
ein Besessener gearbeitet. Es gab keine Ablenkung, durch nichts - anders hätte
ich dieses Album auch nicht machen können." Nicht minder irrig ist die Annahme,
es handele sich bei "The Down ward Spiral" um die Aufarbeitung einer verkorksten
Jugend, frühen Missbrauchs und fortwährender Suizid-Gedanken - all das gab es in
Reznors Leben bis dahin nicht. Es schien ihm schlicht ein interessantes
Thema.
Unter der erneuten Mithilfe von Flood entsteht das, was für
viele bis heute das ultimative NIN-Album ist: Eine Wall of Sound in Krach-Moll.
Ein stilistisch völlig offener Bastard zwischen Pop und Noise, Hirnfick und
Genialität, Intensität und Offenheit, komplexen Synthesizer-Texturen und purer,
direkter Gitarren-Wut. Entstanden aus Hunderten Klangschichten, ist es die
Blaupause für alles, was in dieser Richtung folgen soll. Trotz seiner
einzigartigen Sperrigkeit debütiert "The Downward Spiral" auf Platz 2 der
amerikanischen Charts; die anschließende, zwei jährige Tournee rund um den
Globus - nun mit Danny Lohner am Bass und Robin Finck an der Gitarre, der den
Richtung Filter abgebogenen Richard Patrick ersetzt gleicht einem Triumphzug und
wird gekrönt durch den Headliner-Auftritt auf der Woodstock-Neuauflage. Dort
spielen sie dank des ununterbrochenen Regens in gegenseitig auf die Haut
geklatschten Cat Suits aus fünf Zentimetern Matsch.
"Ich will von einem der schönsten Gefühle erzählen, die ich
je in meinem Leben hatte: Ich sitze da und schreibe einen Song. Ich schreibe
ihn, um aus mir herauszukommen, vielleicht, um zu entkommen. Ich fühle mich
besser, wenn ich Gefühle herausgelassen habe und der Song eine gewisse Schönheit
hat. Und dann komme ich viel später in einem fremden Land auf die Bühne und die
Leute singen mir diesen Song entgegen, ohne dass ich irgend etwas getan habe.
Wichtig ist, dass die Leute etwas haben, das sie dann verbindet, egal, ob sie
verstehen, was ich gemeint habe. Es hat ihnen etwas gebracht. Das ist das
schönste Gefühl - die Menge sehen und begreifen: Das ist der Grund, weshalb ich
hier bin. Das gibt dem Ganzen seinen Wert." Ein unnachahmliches Gefühl, aber
eines, das zermürbt. Denn die Leere, die man nach einem solch erhebenden Moment
in abgewrackten Backstage-Räumen fühlt, lässt sich - wie schon so oft in der
Rockhistorie - nur mit Drogen füllen. Nine Inch Nails sind auf ihrem Zenit.
Trent Reznor ist am Ende.
Somewhat Demaged
Schon während der Aufnahmen zu "The Down ward Spiral" wendet
sich Reznor verstärkt Filmsoundtracks zu. Er produziert den Score zu Oliver
Stones "Natoral Born Killers" und vermischt darauf Musik, Soundscapes und
Dialog-Schnipsel zu einer innovativen Collage. Nach der Tour, die
bezeichnenderweise den Titel ‚Self Destruct' trägt, ist er am Boden: Drogen,
Alkohol und der Touralltag haben ihn ausgelaugt, er ist zugleich überwältigt und
desorientiert vom Erfolg des letzten Albums. Reznor singt als Gast auf Platten
von Josh Wink und Ton Amos (,‚Past The Mission"), ansonsten gibt es mehr als
fünf Jahre lang kaum Meldung von ihm. Bis auf: Filmmusik. Er arrangiert ein
Cover des Joy Division-Klassikers "Dead Souls" für den "The Crow"-Soundtrack und
schreibt 1997 den Song "A Perfect Drug" für den ebenfalls von ihm produzierten
Soundtrack zu David Lynchs "Lost Highway". Das einzig neue Lebenszeichen für
einen langen Zeitraum, und zudem, wie er später befindet, auch noch "ein
ziemlich schwacher Song. Ich mag ihn nicht."
Stattdessen widmet sich Reznor anderen Projekten: Er zieht
nach New Orleans, um sich abzukapseln von der Hysterie der Branche und des
Lebens in L.A., um sich eine Welt zu schaffen, die einem eigenen Tempo folgt.
Eben: "Ein guter Ort, um sich zu verstecken und zu trinken." Er baut in einem
ehemaligen Beerdigungs-Institut seine ‚Nothing'-Studios, nimmt weiter Drogen und
verliert sich in den virtuellen Welten von Computerspielen.
Auf die Frage, was er geworden wäre, wenn nicht Musiker, sagt
er: "Was mich wirklich interessiert, ist Computerprogrammierung. Das kann eine
echte Kunstform sein. Aber es klingt nicht besonders sexy. Ich bin nur davon
angefixt, was in dieser Welt alles möglich ist. Außerdem beendest du etwas, und
es ist fertig. Mathematik, das Gegenteil von Songwriting. Es gibt ein
erreichbares Ziel, nicht wie in der Musik. ‚Ist das die beste Bassline?' -
‚Vielleicht.' - ‚Könnte sie besser sein?' - ‚Möglich.' Das ist der Feigling in
mir, der da spricht." So liegt es nahe, dass er vorübergehend ganz in die
Materie abtaucht: Er arbeitet mit den Spiele-Entwicklern von "Quake" zusammen,
dem Nachfolger von "Doom", das er nächtelang im Tourbus gespielt hat. Er
schreibt die Musik zum düsteren Ballerwahnsinn, die Programmierer integrieren
als Dank eine Waffe mit neun Inch langen Nägeln und schrieben ‚NIN' auf die im
Spiel einzusammelnden Munitionsboxen.
Zudem entwickelt sich sein ‚Nothing'-Label prächtig: Immer
mehr Bands und Künstler, die ihn selber über die Jahre beeinflusst und
inzwischen ihren Deal verloren haben, finden bei ihm ein Zuhause: Prick, Coil,
Meat Beat Manifesto, The The. Und da ist natürlich noch Marilyn Manson. Schon
seit dem Debüt protegiert Reznor Mansons damals noch verstörende Attitüde und
produziert dessen Musik.
Und so findet sich Reznor nach Abschluss der Tournee mit
Manson und Band in seinen frisch bezogenen ‚Nothing'-Studios wieder - und nimmt
nun das Drogentrip-Album auf, das viele zuvor in "The Downward Spiral" gesehen
hatten. "Es war krank. Eine einzige Selbstzerstörung. Du stehst auf, ziehst vor
dem Frühstück die erste Line, ballerst dich mit Alkohol voll, knallst dir einen
Acid-Streifen rein und machst Musik. So geht es bis tief in die Nacht, bis du
buchstäblich zusammenbrichst. Dann fällst du ein paar Stunden ins Koma, und es
geht wieder von vorne los", beschreibt er Jahre später die Entstehung von
Mansons durchschlagendem Erfolg "Antichrist Superstar", das er produziert und
zum Teil mit- schreibt.
Und Nine Inch Nails? Nicht wenige Fans mutmaßen, das Projekt
sei am Ende. Aussagen von Reznor, er wolle sich zurückziehen und nur noch Musik
anderer produzieren, heizen diese Befürchtungen an. Zudem zieht Chris Vrenna,
der musikalische Ur-Buddy, im Clinch von dannen, um sich seinem Projekt Tweaker
zu widmen. Reznor zerstreitet sich unter großem Mediengetöse mit seinem Freund
Manson, nach dem der Ungezogenes über Tour-Interna erzählt. Und als Clara, die
Großmutter, die ihn großgezogen hat, stirbt, ist der Nullpunkt erreicht. Reznor
beschäftigt sich erstmals in seinem Leben tatsächlich mit Gedanken, in denen der
Suizid nicht mehr abwegig erscheint.
"Als wir ‚The Downward Spiral' machten, hatte ich ein
vorgefertigtes Konzept im Kopf. Ich wollte eine Geschichte erzählen von einem
Abstieg zu einem bösen Ort - ziemlich fatalistisch. Und auf der Tour wurde das
plötzlich Wirklichkeit, wie eine ‚self fulfilling prophecy'. Mit ‚The Fragile'
habe ich angefangen, als ich ziemlich verzweifelt war, ich hatte nichts geplant.
Aber als ich endlich anfing zu arbeiten, sprudelte es nur so aus mir heraus. Der
einzige Rahmen, den ich dem Ganzen gesetzt habe, war der Titel ‚The Fragile'."
Heraus kam am Ende doch wieder ein Konzept. Ein großes."
We're In This Together
"Ich bin nicht eines Morgens aufgewacht, und alles war
anders. Nein, es war der Druck, eine neue Platte zu machen, die etwas bedeutet.
Mit wurde klar, wie sehr ich Musik liebe. Musik zu machen, zu hören und zu
erfahren. Musik war schon immer mein bester Freund, mein ganzes Leben lang. Als
Teenager gab es Momente, in denen eine Platte wirklich mein bester Freund war.
Jetzt habe ich die Möglichkeit, genau das für andere zu machen. Ich hatte das
total vergessen."
Zunächst entstehen nur ambiente Flächen, fließende, dichte
Klänge ohne Halt und Härte. Dann folgen erste Songs wie "Im Looking Forward To
Joining You, Finally', eine eindringliche posthume Liebeserklärung an seine
Großmutter, die eine unmissverständliche Sehnsucht formuliert. Er spürt den Tod,
die Verzweiflung, die Depressionen, diese vollkommene innere Leere und Wut auf
das eigene Ich, über die er schon immer geschrieben hatte. Überhaupt ist dieses
Album pure Reinigung, Introspektive, Katharsis, Erlösung - glaubt Reznor
zumindest, "Ich wollte gezielt die Schwächen entdecken und ein Album machen, das
die Dinge wieder zusammensetzt, die auseinander gefallen waren. Ich habe ganz
unten angefangen und mich meinen Ängsten gestellt. Ich musste da durch. Ich habe
es einfach getan und gesehen, was dabei rauskommt. Ich habe zwei Jahre lang
nicht länger als vier Stunden pro Nacht geschlafen. Das ist natürlich nicht
gesund, aber die Platte gibt mir den Respekt vor mir selbst zurück."
In der Zwischenzeit ist der Sound, den er erfunden hat, zu
einem Massenphänomen geworden. Die Labels signen wie irre NIN-Klons wie Stabbing
Westward, Orgy und Static-X, die auf mal gekonnte, mal plumpe Weise Alternative,
Metal und die von Reznor modulierte Industrial-Asthetik adaptierten. Selbst Axl
Rose feuert die komplette Restband von Guns N'Roses, um sich für sein nächstes
Album (das bis heute nicht erschienene "Chinese Democracy") einen schärferen,
kantigeren Sound zuzulegen. Reznor lab riert derweil gemeinsam mit Tools Maynard
James Keenan und Atticus Ross von l2Rounds immer wieder an seinem Projekt
Tapeworm - seit zehn Jahren ohne Release.
Doch als "The Fragile" dann kommt, kommt es richtig: Von
ursprünglich 42 aufgenommenen Songs bleiben 23, die zusammen knapp zwei Stunden
dauern und nicht weniger als das neue Testament der neogotischen Studio-Technik
bilden. Armeen scharfschneidiger Gitarren. Voodooeskes Trommeln, trockenes
Wummern und technoides Bubbern. Gefiltertes Piano. Minimal dissonante Streicher.
Fast alle Instrumente (so auch das Mellotron von John Lennon) und definitiv alle
Effekte der Neuzeit. "The Fragile" verkauft in den USA allein in der ersten
Woche knapp 300.000 Einheiten, die Tour ist restlos ausverkauft. "We're In This
Together" ist nicht nur die Single zur Rückkehr, sondern auch das Statement zum
Zustand Nine Inch Nails.
Adrift And At Peace
Natürlich gerät die Tour überwältigend. So sehr, dass Reznor
sie mitfilmen lässt, um das erste Jahrzehnt seines ganz persönlichen Wahnsinns
zu konservieren und zu einem Abschluss zu bringen. Das Ergebnis heißt "And All
That Could Have Been", erscheint 2002 auf zwei DVDs und einer CD, die wiederum
mit einem Genuss ganz neuer Prägung überrascht: Der zusätzlichen "Still"-Platte,
auf der Reznor nur von Piano und wenigen diffusen und devoten Sounds begleitet
die großen Songs seiner Karriere mit überwältigend eindringlicher Stimme neu
aufnimmt. Als VISIONS ihn damals in seinem Studio in New Orleans besucht,
berichtet er.,, Die Sachen, an denen ich im Moment arbeite, sind wieder ganz
anders. Ich brauchte Abstand von diesem Höher, Schneller, Weiter. Ich wusste,
dass etwas Neues kommen muss. Stell dir vor, die alten Jesus And Mary Chain
treffen Bauhaus treffen Joy Division. Offener Minimalismus, könnte man sagen,
das Gegenteil dieser gewaltigen Texturen von ‚The Fragile'. Mir geht es im
Moment nicht darum, viele Dinge auf einem richtigen Pfad zusammen zu bringen.
Ich will vielmehr den Pfad frei räumen von allem überflüssigen Ballast."
Und das nicht nur in der Musik. Wie er später bekennen soll,
ist er noch lange nicht über den Berg und die "Fragile'-Tour ein einziger
schleichender Rückfall. Reznor muss erkennen, dass er ernsthaft suchtkrank ist,
getrieben von den falschen Dingen, weit weg von dem, was er im Herbst 2002 in
New Orleans sagt: "Ich hoffe, dass ich irgendwann eine Person bin, die sich in
jeder Situation des Lebens in seiner Haut wohl fühlt. Ich beneide Menschen, die
den Eindruck vermitteln, dass sie immer exakt das Richtige tun und sich wohl
dabei fühlen. Ich komme inzwischen sehr viel besser mit mir zurecht, aber ich
habe noch einen weiten Weg vor mir."
All The Love In The World
Ja, exakt das ist ein Titel auf seinem neuen Album "With
Teeth". Es scheint unglaublich, aber wahr - Reznor hat sich endlich, mit 39,
weitere fünf Jahre nach "The Fragile", gefunden. Beim Treffen in Berlin rauscht
er souverän und zackig in die Interview-Suite, nimmt sich einen Kaffee, schwarz,
den er beim Hinsetzen vor lauter Energie erst mal verschüttet. Er hat einige
Pfunde zugelegt, vor allem an den Armen - was wieder einmal belegt, dass
exzessive Menschen nach dem Absturz ihre neuen Süchte in der Fitness finden.
Richtig sexy sieht er aus - locker sitzen die Jeans, eng anliegendes, schwarzes
Muscle-Shirt und kunstvoll verlatschte Retro-Sneaker: seine noch immer im
Sechs-Wochen-Turnus blauschwarz gefärbten Haare lassen keine Rückschlüsse auf
graue Melierung zu. Er lächelt oft, lacht gar, ist aufgeräumt und sachlich, aber
nicht uncharmant. Ein saftiger Kerl, der über seine Vergangenheit, seine
Depressionen und Ängste doziert, als spräche er über die Fortpflanzung von
Fruchtfliegen. Die Sonne von Los Angeles, die seinen satten Teint wieder bräunt,
seit er New Orleans verließ, um sich ein hübsch verstecktes Haus in Beverly
Hills zu kaufen, scheint ihm ebenso gut zu tun wie die nunmehr fast komplett
ausgetauschte neue Liveband, mit der er wie besessen für die anstehende Tournee
probt. Wenn er von ihr erzählt, wird er wieder zu dem kleinen jungen, der immer
eine Band wollte. Mit dabei: Der bewährte Jerome Dillon, Jeordie White, bekannt
als Mansons Bassist Twiggy Ramirez, Keyboarder Alessandro Cortini und Ex-Icarus
Line-Gitarrist und Großmaul Aaron North, der den vorübergehend beteiligten
deutschen Gitarristen Ralf Dietel ersetzt.
Reznor sprüht vor Energie. In Kürze soll endlich die
gründlich aufgemotzte DVD-Version der Video-Sammlung "Closure" erscheinen,
außerdem überlegt er, auch von "Pretty Häte Machine" und "The Fragile" die schon
bei "The Downward Spiral" bewährte Surround-Version zu veröffentlichen. Und.,,
Ich habe eine weitere Platte in Arbeit, und ich hoffe, dass es ich sie etwas
zeitnäher veröffentlichen kann." Dazu gehören auch Songs, die zunächst für
dieses Album gedacht waren, als es noch "Bleedthrough" heißen sollte, nun aber
nicht mehr passten, weil sich die Atmosphäre des neuen Albums nach und nach
verschob.
Ja: Das neue Album. Halo 19. Was erwartet uns? Erst die
Fakten. Nach einer langen Phase des endgültigen Auskurierens seiner
Suchtkrankheit, nach Umzug und Neuorientierung, nach der Trennung von
Langzeit-Manager John Malm Jr. bricht es wieder aus: Manchmal zwei Songs die
Woche, Ideen wie irre, die aufs Neue entdeckte Lust an der Musik. Reznor allein
mit seinen Visionen und Co-Produzent Alan Moulder, sein Begleiter seit "Die
Fragile". Plus Gastrollen für Jerome Dillon und Foo Fighters-Mann Dave Grohl an
den Drums.
Was neu ist: Es gibt kein Konzept, keine grundsätzliche,
übergeordnete Vision. Stattdessen: "13 Songs, die für sich stehen und
miteinander gut befreundet sind. Auch wenn es Themen gibt Diese sind, wen
wundert's, oftmals angesiedelt in der eigenen jüngeren Vergangenheit. Aber
nicht, wie früher, in einer destruktiven und konsequent provokanten Weise,
sondern als abstraktes Thema, als Erinnerung an einen Lebensabschnitt, den man
weit weg wähnt. Musikalisch äußert sich das in einem zwar absolut typischen,
aber doch neuen Rahmen: Einerseits klanglich deutlich reduzierter, fast
minimalistisch (verglichen mit den multiplen Sound-Texturen von "Die Fragile"(,
andererseits stilistisch facettenreicher als je zuvor. Die erste Single "The
Hand That Feeds" ist lupenreiner Pop im NIN-Korsett, anderes scheppert wie zu
"Broken' Zeiten, es brausen Sounds aus der Club-Landschaft durch die Boxen, dann
klingt es wie eine sexy und subtil groovende Rap Version seiner Soundidee.
Was zählt: Trent Reznor gibt auf diesem Album wieder das
Song- und Sound-Genie, für das er dermaßen geliebt wird (dass er die erste
anstehende USA-Tour innerhalb von neun Minuten ausverkaufte). Noch immer
schreibt er Musik, die zugleich mitreißt, brüskiert, entlarvt und auf eine
perverse Art anzieht, ja fast glücklich macht. Noch immer ist er anders und
besser als jeder andere in dieser Spezialdisziplin populärer Musik. Und noch
immer ist das Dunkle, Verstörende bei ihm, dem ‚Dark Prince', es gehört zu
seiner künstlerischen Landkarte. Aber mehr im Sinne eines Flirts, eines
romantischen Augenblicks, wagt er einen so panischen wie verabscheuenden Blick
zurück. "Das Dunkle umarmen und wirklich tief eintauchen? Da möchte ich nie
wieder hinkommen. Ich war dort. Und es war nicht gut."
Sascha Krüger