Daran, dass er überhaupt eine weitere NIN Platte machen
würde, hat Reznor wohl selbst lange nicht geglaubt. Die Bürde der eigenen
Erwartungen und der Druck Meisterwerke wie "Pretty Hate Machine oder ‚The
Downward Spiral zu übertreffen, lasteten schwer auf den Schultern des inzwischen
40-jährigen Amerikaners. Der wahre Grund für die lange Funkstille war allerdings
ein anderer, und ganz offensichtlich ist es Reznor ein Bedürfnis, darüber zu
sprechen. Beim Interview in seiner Kölner Hotelsuite, bei dem er sich unerwartet
zugänglich zeigt, sich lässig in die Kissen seines Sofas fläzt, erstaunlich oft
lacht und trotzdem pro Gesprächspartner nur knappe 25 Minuten seiner Zeit
opfert, verschwendet er jedenfalls nicht viel Zeit mit Höflichkeiten und kommt
- ungefragt wohlgemerkt - gleich zu Beginn auf den Auslöser seiner langen
Abwesenheit zu sprechen.
"Was soll ich sagen? Vermutlich wirst du mich eh danach
fragen, also können wir auch gleich zum Punkt kommen: Ich habe in den
vergangenen Jahren sehr lange mit meiner Sucht gekämpft. Deshalb hat es so lange
gedauert, bis ich die neue Platte machen konnte. Selbst das Album davor war
davon nicht unberührt, denn meine Probleme begannen eigentlich schon auf der
‚Downward Spiral'-Tour. ‚The Fragile' brauchte eine lange Zeit, weil ich mir
nicht eingestand, wie schlecht es um mich bestellt war. Die Aufnahmen für diese
neue Platte dauerten zwar nicht sehr lange, aber, als die letzte Tour kurz vor
dem Jahreswechsel 2001 endete, war ich völlig am Ende. Ich hatte nur zwei
Möglichkeiten: Den Weg in den sicheren Tod einschlagen oder mein Leben komplett
umkrempeln. Das ist keine Übertreibung, genauso war's! Zu dem Zeitpunkt war
nicht viel von mir übrig, und ich hasste mich selbst dafür. Irgendwie gelang es
mir, all meinen Mut zusammenzunehmen und mich zu ändern. Als ich das tat,
lernte ich eine ganze Reihe Dinge. Erstens, dass ich nicht allwissend bin und
dass ich auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen bin, und zweitens, dass es
nicht schadet, auch mal einen Rat von jemand anzunehmen."
Der ebensrettend Erkenntnis folgte 2001 eine echte Auszeit.
Nachdem Reznor eine Gutteil der fünf Jahre, die zwischen dem Meilenstein ‚The
Downward Spiral von 1994 und dem 1999er Nachfolger ‚The Fragile' lagen, auf
Tournee verbracht hatte, verschwand er nach Abschluss der für NIN-Verhältnisse
recht kurzen Fragility-Tour völlig in der Versenkung.
"2001 und 2002 legte ich mein Hauptaugenmerk darauf, einfach
nur am Leben zu bleiben, den ich wollte alles, nur nicht wieder dorthin zurück,
wo ich mich zuvor befunden hatte. Nichts war wichtiger als dieses Ziel. Das
Songwriting habe ich während dieser Zeit einfach verdrängt. Ich war mir nicht
sicher, ob ich es überhaupt noch draufhätte oder ob ich überhaupt noch etwas
zusagen hätte. Ich wusste auch nicht, ob dieser Selbstzerstörungsfeldzug, auf
den ich mich zuvor begeben hatte, vielleicht auch mein Gehirn angegriffen hatte.
Es gibt ja viele Beispiele von Menschen, die einfach nicht mehr die Kurve
gekriegt haben. Falls das auch bei mir der Fall gewesen sein sollte, wollte ich
das nicht sofort wissen. Es ging mir gut, und dieses Gefühl wollte ich so lange
wie möglich konservieren. Im Januar 2004 kam dann der an dem es dennoch Zeit
wurde diese Frage zu beantworten. Ich fing wieder an zu schreiben und stellte
fest, dass ich viele Ideen hatte, die zuvor fest gesteckt hatten und die jetzt
ihren Weg an die Oberfläche fanden. Das war eine unglaubliche
Erleichterung!"
Rückblick betrachtet wurde Reznor auch klar, dass ihn seine
gesundheitlichen Probleme bei seinem letzten Album vor sechs Jahren in seiner
kreativen Entfaltung gehemmt hatten.
"Jetzt sehe ich "The Fragile" in einem ganz anderen Licht.
Damals konnte ich einfach nicht klar denken, denn ich stand Todesängste aus. Ich
konnte lediglich ohne Ende im Studio improvisieren und mir diese abgefahrenen
Klanglandschaften ausdenken. Also nutze ich das, was ich tun konnte, als
Kompensation für das, was ich nicht machen konnte. Diese Mal war es so, als
hätte ich eine Gehirntransplantation hinter mir. Ich war viel Selbstbewusster
und hatte dennoch eine ganze Reihe brandneuer Katastrophen, über die ich
schreiben konnte. Der Unterschied war nur, dass ich alles viel klarer sah und
mich mit diesen Situationen wirklich detailliert auseinandersetzen konnte,
anstatt die Probleme nur anzureißen. Mein neu gewonnenes Selbstvertrauen macht
sich in so ziemlich allen Aspekten des neuen Albums bemerkbar."
Schon kurz nach Beginn der Aufnahmen war Reznors Ego übrigens
so weit wieder aufpoliert, dass er nicht nur den depressiven Arbeitstitel
"Bleeding Through" zu den Akten legte, sondern auch auf die zu nächst angedachte
Kollaboration mit Produzent Rick Rubin verzichtete.
"Mir wurde klar, dass ich ihn eigentlich nur dabeihaben
wollte, weil ich glaubte, es nicht alleine zu schaffen. Allerdings merkte ich
schnell, dass ich so viele Ideen hatte, dass ich gar keinen Beistand brauchte.
Vielleicht war die Entscheidung, nicht weiter mit Rick zu arbeiten, falsch aber
jede Faser meines Körpers sagte mir: ‚Mach's alleine, selbst wenn es schief
geht!' Also tat ich das, und ich fühlte mich gut dabei. Ich habe eine Platte
gemacht, auf die ich sehr stolz bin und mit der ich mir bewiesen habe, dass
ich's noch kann. Es wäre sogar okay, wenn die Welt mir nun sagen würde: ‚Fuck
you, das ist eine grottenschlechte Platte'. Besser wäre natürlich, wenn das
nicht passiert, aber es würde mich nicht umbringen."
Angst macht ihm heute höchstens die Tatsache, dass es für ihn
und seine neu formierte Liveband - Aaron North, Jeordie White, Jerome Dillon und
Alessandra Cortini - so glänzend läuft. Die US-Tournee durch mittelgroße Säle
verkaufte sich jedenfalls vielerorts in Windeseile aus, auch für die beiden
Europa-Showcases in London Ende März waren die Tickets in Rekordzeit vergriffen.
Doch auch wenn Reznor sichtbar glücklich ist, das vielleicht dunkelste Kapitel
seines Lebens hinter sich gelassen zu haben, ist längst noch nicht alles eitel
Sonnenschein. Und vielleicht ist das auch gut so, schließlich braucht Reznor
Inspiration für seine Texte.
"In der Zwischenzeit sind eine Menge schlimmer Dinge
passiert. Zum Beispiel ist die längste Beziehung, die ich je zu einem Menschen
hatte, die zu meinem Manager, den Bach runter gegangen. Das passierte als ein
direktes Resultat meiner Rekonvaleszenz. Die ganze Sache hat mich eine Menge
Geld gekostet, ganz abgesehen von dem Scham den du spürst, wenn du heraus
findest, dass jemand, der dir seit den ganz frühen Anfangstagen zur Seite
gestanden hat, womöglich nicht immer in deinem Interesse gehandelt hat. Das ist
ein bisschen so, als würde dich ein Familienmitglied über den Tisch ziehen.
Trotzdem bin ich froh, überhaupt heute hier sitzen zu können und in halbwegs
vollständigen Sätzen darüber sprechen zu können. Ich bin noch hier, ich habe
mich nicht umgebracht."
So selbstbewusst sich Reznor nun auch geben mag - zu Beginn
der Aufnahmen zum neuen Werk galt es, sich erst einmal wieder vorsichtig
heranzutasten.
"Ich war mir nicht sicher, was ich bei dieser Platte in der
Lage sein würde zu leisten. Ich habe einfach ein wenig im Nebel gestochert, und
dabei ist viel Gutes entstanden. Ich habe den Dingen einfach ihren Lauf gelassen
ohne mich von vorneherein zu sehr zu beschränken. Von einigen Songs glaubte ich
zunächst nicht, dass sie auf diese Platte - oder überhaupt eine Nine-lnch-Nails
Platte - passen würden. ‚The Hand That Feeds' zum Beispiel. Es klang einfach zu
offensichtlich, und es war zu eingängig. Ich wurde richtig paranoid und dachte,
es würde zu sehr nach einer Single klingen, doch ich mochte die Nummer, und
letzten Endes sagte ich mir: ‚Warum eigentlich nicht?' Beim ersten und letzten
Song des Albums fühlte ich mich auch etwas unwohl, weil sie sehr sanft sind und
sich in eine Richtung bewegen, von der man sagen könnte, dass sich Nine Inch
Nails besser nicht dorthin begeben sollten. Allerdings bekam ich eine Gänsehaut,
als ich an den beiden Songs arbeitete, also landeten sie auf der Platte."
Reznor hat nur wenige Monate nach dem Abschluss der Aufnahmen
für "With Teeth" bereits damit begonnen ein weiteres NIN-Album vorzubereiten -
weshalb er ein Remixalbum das bei den Vorgängerwerken mitunter obligatorisch
war, dieses Mal ausschließt. Das lässt den Schluss zu, dass es ihm dieses Mal
leichter gefallen sein müsste, aus dem Wust an Songs, der ihm für das neue Album
zur Verfügung stand, die passenden 13 Nummern auszusuchen, nachdem er in der
Vergangenheit zugegeben hat, gerade die Auswahl der Stücke für "The Fragile" sei
ihm sehr schwer gefallen und die 1999er Platte sei nicht zuletzt deshalb ein
Doppellalbum geworden. ‚ Fragile' war ein großer Klumpen, an dem ich instinktiv
einfach immer weiter arbeitete. Als dann der Punkt kam, an dem ich realistisch
werden und das Material sichten musste -und das passierte ungefähr ein Jahr zu
spät! -, hatte sich so viel Kram angesammelt, dass ich zu der Überzeugung kam,
es würde sich daraus kein gutes Einzelalbum zusammenstellen lassen, das genauso
gut gewesen wäre wie ein gutes Doppelalbum. Rückblickend war das vielleicht eine
Fehleinschätzung. Vielleicht hätte man die Platte wirklich besser zweiteilen
sollen. Nicht, um den doppelten Reibach zu haben, sondern einfach, weil sie dann
besser zu verdauen gewesen wäre."
Für einen Fehler hält Reznor "The Fragile" deshalb noch lange
nicht. Das beweist er auf der aktuellen Tournee auch auf der Bühne, wo einige
versteckte Songperlen des oft geschmähten Werkes in ganz neuem Glanz erstrahlen.
"Als wir jetzt Songs für das neue Liveset aussuchten, wurde
mir bewusst, dass meine Lieblingstücke auf ‚The Fragile' tief in der Platte
vergraben sind. Ich habe nie jemanden je auch nur die Songtitel erwähnen hören -
vielleicht ja deshalb weil es niemand geschafft hat, sich die Platte so weit
anzuhören? Das ist sehr schade, obwohl ich es verstehe. Die Platte ist nicht nur
schwierig sondern auch sehr lang und deshalb sehr schwer zu verarbeiten. Da ist
es sicher einfacher, sie komplett abzuschreiben. Deshalb war es mir dieses Mal
auch so wichtig, eine kraftvolle, aber gemäßigte Platte zu machen, die energisch
und konzis ist. In dieser Hinsicht ist das neue Album sicher eine Reaktion auf
‚The Fragile."
Um einen ausfransenden Arbeitsprozess wie beim Vorgängeralbum
von Anfang an zu vermeiden, traf Reznor einige wichtige Entscheidungen. Zum
Beispiel die, zunächst einmal mit spartanischen Mitteln Demos aufzunehmen.
Letzten Endes stellte sich heraus, dass die einfachen Vier- Spuraufnahmen schon
ziemlich genau das einfingen, was Reznor vorschwebte. Zwar wurden die Songs
später überarbeitet und ausstaffiert, im Kern aber blieben die rohen Aufnahmen
für das fertige Album erhalten.
"Ich bin die neue Platte völlig anders angegangen als die
vorherigen. Mir wurde bewusst dass viele der alten Regeln, die ich aufgestellt
hatte, und viele meiner früheren Denkweisen nun einfach keine Gültigkeit mehr
besaßen. Ich habe mich von vielen meiner früheren Ängste frei gemacht. Ich habe
aufgehört mir zu sagen, dass ich dieses oder jenes nicht machen kann, denn
zumeist gab es Reihe vernünftige Begründung dafür."
Das klingt so, als sei Reznor an die Sessions für das neue
Album wesentlich relaxter als in der Vergangenheit herangegangen. Nicht, was die
allgemeine Qualität angeht, wohl aber, was die strikten Vorstellungen davon
anbelangt, was stilistisch auf einer NIN-Platte machbar ist und was nicht.
"Ich bin ein anderer Mensch als zu der Zeit, als ich
'Downward Spiral' gemacht habe, und was ich jetzt für angemessen halte, ist auch
etwas völlig anderes als damals. Ich bin davon überzeugt, dass viele der Dinge,
die passiert sind, deshalb passierten, weil ich Angst hatte, mich zu weit von
dem wegzubewegen, von dem ich glaubte, es sei für Nine lnch Nails das Richtige.
Doch auch ohne diese Angst ist auf der Platte nichts so Abwegiges drauf, dass es
gleich das Ende meiner Karriere bedeuten würde. Falls ich allerdings jemals
Songs über Blumen oder Sonnenschein schreiben sollte ich sie ganz sicher nicht
unter dem Namen Nine Inch Nails veröffentlichen. Vermutlich würde ich die Band
dann solange auf Eis legen, bis ich wieder depressiv wäre! Die Idee, das
Spektrum zu erweitern, will ich mir aber auch in Zukunft erhalten. Ich wäre als
Künstler tot, wenn ich das nicht täte."
Ein ähnliches Denken war es Wohl auch, das Country-Legende
Johnny Cash dazu brachte, für sein letztes Album vor seinem Tod, "American IV:
The Man comes Around" im Jahre 2003, den Nine-lnch-Nails Klassiker "Hurt" neu zu
interpretieren. Nun war diese Coverversion zwar längst nicht die erste, aber
dennoch eine ganz besondere für Reznor.
"Ja! Das war mit Abstand die größte, wichtigste und
schmeichelhafteste Coverversion von allen. Obwohl als ich hörte, dass Maroon 5
‚Closer' covern, konnte ich ein paar Nächte nicht schlafen!", sagt er breit
grinsend, um dann wieder wesentlich ernster zu erläutern warum Cashs Version so
viel Eindruck auf ihn gemacht hat. "Es wäre so oder so eine Ehre gewesen, aber
der Song erschien, als ich gerade die Phase durchmachte, in der ich meine
eigenen Fähigkeiten in Frage stellte - bevor ich wieder mit dem Schreiben
anfing. Ich hatte damals das Gefühl, mich einfach aufgelöst und mit einer Platte
verabschiedet zu haben, die das Publikum nicht richtig verstanden und die sich
deshalb auch nicht so gut verkauft hatte. Ich war in meine Drogensache
verstrickt und erwartete jeden Moment den Anruf von der ‚Where Are They
Now?-Show' (Fernsehsendung, die in der Versenkung verschwundene Ex-Prominente
aufspürt). Genau in dem Moment kam die Coverversion.
Übrigens, nicht ganz unvorbereitet, schließlich arbeitete
Cash für die berühmten vier "American"-Alben mit Rick Rubin als Produzent und
musikalischem Direktor zusammen.
"Rick rief mich an und fragte, ob ich was dagegen hätte, dass
sie den Song aufnehmen. Natürlich hatte ich nichts dagegen", erinnert sich
Reznor. "Allerdings wusste ich, dass sie Unmengen an Stücken aufnahmen, deshalb
dachte ich mir erst einmal nichts dabei. Einige Wochen später bekam ich dann
eine CD mit der Nummer, und sie hörte sich irgendwie seltsam an. Ich war zu der
Zeit ziemlich abgelenkt, und als ich die CD einlegte und den Song hörte,
irritierte er mich zunächst. Ich hatte das Gefühl, dass sich der Song nicht so
anhören sollte. Das war doch MEIN Song! Als ich dann später das Video sah, wurde
mir erst klar, was dort passiert war, ich hatte Gänsehaut, eine ganz zittrige
Stimme und Tränen in den Augen. Es hat mich völlig umgehauen, dass die Nummer
solch ein Power haben konnte - und dass ich sie geschrieben hatte! Es hat mir
sehr viel bedeutet, dass eine solche Ikone wie Johnny Cash, der ja selbst ein
hervorragender Songwriter ist, sich den Song nahm, ihm neues Leben einhauchte
das mein guter Freund, der Regisseur Mark Romanek ein so unglaublich
eindringliches Video machte, das ich für den wohl besten Clip aller Zeiten
halte, und das ich bei all dem involviert war. Da wurde mir wieder einmal klar,
was für eine Kraft in der Musik steckt."
Stellt sich zum Schluss die Frage, ob Reznor jemanden wie
Johnny Cash, der - sowohl als Künstler als auch privat - auch düstere Zeiten
durchgemacht hat und letzten Endes doch mit einer großen Geste abgetreten ist,
als Inspiration betrachtet. Er überlegt kurz und sagt dann:
"Ich würde mir schon wünschen dass mein Name in 30 Jahren
nicht nur eine Fußnote in der Musikgeschichte ist sondern dass er viel leicht
kursiv geschrieben wird - oder gar in fett gedruckt!"
Wenn er weiterhin Platten macht wie ‚With Teeth, sollte
dieser Wunsch eigentlich in Erfüllung gehen, oder?