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Jahr 2007

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Metal Hammer

 

Mai 2007

 

 Kunst in vier Dimensionen

 

 Text: Tobias Gerber

 

 

 

 

Ein totalitäres Regime regiert Amerika. Wahlen sind eine Farce. Es wurden Kriege im Nahen Osten geführt. Ein atomarer Krieg steht vielleicht unmittelbar bevor: NINE INCH NAILS-Chef TRENT REZNOR zieht auf YEAR ZERO der Zukunft als Heile-Welt-Mythos die Haut ab.

Untergrund-Aktivisten stoßen durch Zufall auf eine Audiodatei, untersuchen sie und finden einen Hinweis auf eine Internet- Seite. Der Inhalt: das verstörende Transkript eines Verhörs und die Aufzeichnung eines Telefonanrufs. Eine panische Frau weiht darin in atemlos aneinander gereihten Sätzen jemanden ein, dass die Polizei sie und ihren Mann umbringen will. Nichts Ungewöhnliches in einem totalitären Staat, der politische Gegner systematisch ausschaltet. Trauriger Alltag im Jahr 2022- dem Jahr 0. Dem Zeitpunkt. an dem es geschehen wird. Dem Jahr, in dem das neue Nine Inch Nails-Album YEAR ZERO spielt. Es ist ein Konzeptalbum, das die Grenzen von Raum und Zeit, Erzähler und Zuhörer, Trent Reznor und Fan auflöst. Die erwähnten Entdecker der Homepage sind daher auch kein erfundener Teil des Konzeptes und entspringen nicht der Fantasie der Industrial-Ikone: Es sind seine Fans, die schon Monate vor Album-Veröffentlichung in die Handlung eintauchen konnten (siehe Kasten).

DAS ZWEITBESTE IST NICHT GENUG

Im bisher ausgeklügeltesten Fall von sogenanntem „Viral Marketing“ lässt Sänger und Mastermind Trent Reznor seine Fans zum Teil des Gesamtkunstwerkes werden. „Das Konzept alleine war für ein reguläres Album schon viel zu detailliert“, erzählt er. „Außer dem wollte ich die Handlung aus der Fiktion und der Zukunft ins Hier und Jetzt transportieren und die Fans direkt ansprechen - sie also aus ihrer konsumierender, Passivität lösen,“ Es sollte der Effekt rekreiert werden, den Pink Floyd 1979 mit THE WALL schafften. Liner Notes und ein aufklappbares Booklet stellten damals eine über die Musik hinausreichende Dimension dar. Heutzutage ist dieser Weg aber sinnlos - Platten sind nicht mehr wichtig. Musik ist nur noch MP3.“

Diese Veränderung bekommen Plattenfirmen mit ihren alten Strukturen ständig und schmerzhaft zu spüren. Doch das ist Reznor ziemlich egal: Er betrachtet YEAR ZERO als Kunstwerk, das nicht allein auf die Musikindustrie beschränkt ist. Fasziniert von der Viral Marketing-Kampagne, die für den Steven Spielberg-Film „A.I“ gemacht wurde, dachte er über ähnliche Möglichkeiten für sein Werk nach. Er wollte aber mehr, als für den Film geleistet wurde. Er wollte das Beste, das momentan möglich ist. Eine Verschmelzung des fiktiven Zukunftskonzeptes mit der virtuellen Realität des Internets und der physischen Realität des Jetzt. Das Konzept sollte Grenzen überschreiten und auf vier Dimensionen ausgebreitet werden.“

KUNST ALS WIDERSTAND

Doch selbst das ist Trent noch nicht genug, denn sein Ziel ist nicht die Unterhaltung. Dazu reflektieren seine Alben zu sehr auch seine eigene Geisteswelt, was auch auf YEAR ZERO zutrifft. Dabei ist der früher manchmal als Egomane dargestellte Musiker deutlich erwachsener geworden: Er konfrontiert seine Fans nicht mehr mit einem klassischen Seelenstriptease wie noch auf THE DOWNWARD SPIRAL (1994) oder THE FRAGILE (1999). „YEAR ZERO ist geworden, wovor ich eigentlich immer Angst hatte: Ein direkter Kommentar zu Amerika und der Richtung, in die die amerikanische Politik momentan geht“, überlegt Trent. Es spiegelt meine Ängste und Sorgen über das wider, was speziell nach dem 11. September passiert ist. Er sah sich die aktuelle Politik und das Tempo an, mit der Freiheit und Gerechtigkeit eingeschränkt wurden und projizierte diese Aussichten in die Zukunft. Der klassische Weg. mit dem schon Autoren wie George Orwell (‘1984‘) oder Aldous Huxley (‘Brave New World‘) nachdrücklich auf aktuelle Missstände hinwiesen. „George W. Bush hat seine Wahl erschwindelt. Wir sind aufgrund einer Lüge im Irak einmarschiert, haben dort unschuldige Menschen umgebracht. Jetzt steht wahrscheinlich ein Militärschlag gegen den Iran bevor - da war es nicht schwer, ein paar weitere Kriege. Attentate und politische Veränderungen für meine Geschichte zu erfinde“, erklärt Trent die Entstehung der YEAR ZERO-Welt.

Vor dieser dunklen Leinwand breitet sich ein Spiel aus, in dem es diverse Charaktere, eine Handlung und auch Reznor selber als Nebendarsteller gibt. Doch was würde der Sänger selbst in einer solchen totalitären Welt tun? „Wahrscheinlich untertauchen und versuchen Widerstand zu leisten und die Leute aufzurütteln“, glaubt er. Er würde also genau das Ziel verfolgen, das YEAR ZERO jetzt schon hat: Aufmerksamkeit und Verständnis für Zusammenhänge wecken. „In einer Welt, in der es keine freien Wahlen gibt, öffentliche Plätze und das Internet überwacht und Menschen bespitzelt werden, ist Kunst eine der wenigen Möglichkeiten. mit denen man etwas bewirken kann. Wenn ich mit diesem Album also ein paar Menschen dazu bringen kann, zum Beispiel über die wirklichen Hintergründe des Patriot Acts (US-amerikanisches Gesetz vom 26. Oktober 2001 - Anm.d.A.) nachzudenken, bin ich froh. Wären die Zeiten noch schlimmer, wären seine Alben noch offensiver politisch - da ist Trent sicher.

GEALTERT UND GELÄUTFRT

Es ist ungewohnt, den Sänger so politisch engagiert zu erleben. Vom dürren Industrial-Pionier, der mit langen Haaren und schwarzen Lederklamotten zwischen musikalischem Genie und Drogen umnebeltem Wahnsinn hin und herpendelt, scheint im Jahr 2007 wenig übrig zu sein. Aufgeräumt sitzt er mit verwaschener Jeans, engem Shirt und kurzen Haaren im Fünf-Sterne-Hotel. Vor ihm stehen Kaffee und O-Saft. Er redet sehr bewusst, ist durchtrainiert und deutlich in die Jahre gekommen - Falten graben sich in die Stirn des bald 42-Jährigen, die mittellangen Koteletten sind scharf getrimmt. Er wirkt konzentriert. Seit er clean ist, sucht er sogar wieder die Nähe zu Menschen. Das Album hat er aber - konträre Entwicklung - komplett alleine geschrieben und eingespielt. Es gibt also keine lange Gästeliste wie bei THE FRAGILE (1999) oder WITH TEETH (2005). „Ich habe während der letzten Tour ständig an Songs gearbeitet: Das Album ist quasi in diversen Hotels auf meinem Laptop entstanden, was sich als sehr inspirierend herausstellte.“ Also arbeitete er nach der Tour mit dem gleichen Muster weiter und kann das erste Mal nach nur zwei Jahren ein neues Album veröffentlichen.

Diese Frische ist dabei schon fast eine Rückkehr zum Anfang seiner Karriere. Kein Wunder, dass YEAR ZERO eine gewisse Nähe zum Debüt PRETTY HATE MACHINE (1989) pflegt. „Ich hatte am Laptop keinen Zugang zu Drums oder Gitarren, wodurch die Effekte und Elektronik wieder mehr in den Vordergrund rückten. Außerdem habe ich fast keinen Gedanken mehr an Planung verschwendet, sondern schlicht gemacht, was sich richtig anfühlte.“ Genau diese unverkopfte Frische fehlte bei THE FRAGILE und machte das Album schwer zugänglich. WITH TEETH brachte sie ihm vor zwei Jahren zurück: Er lernte wieder, sich nicht um Erwartungen oder äußeren Druck zu kümmern.

DAS ENDE DER GESCHICHTE

YEAR ZERO muss also als ein über die CD hinausreichendes Kunst werk begriffen werden - als Portrait bisher unbekannter Seiten von Trent Reznor. Wer es wirklich verstehen will, muss sich das Drumherum erarbeiten oder zumindest die Zusammenhänge über diverse Webpages recherchieren (siehe Kasten). Und natürlich auf Teil zwei warten: Der ist grob für 2008 geplant. Reznor arbeitet schon an ersten Ideen. „Das aktuelle Album endet an einem für mich logischen Punkt - obwohl es ein ziemlicher Cliffhanger ist. Es wird also wohl einen zweiten Teil geben. in dem dann passiert. was sich jetzt auf YEAR ZERO angebahnt hat.“ Denn was genau im Jahre 0 geschehen wird, wird nicht verraten.

TOBIAS GERBER

 

 

Kasten1

 

VIRTUAL REALITY Á LA REZNOR

 

2007 ist anders als alles, was Nine Inch Nails‘ Fans bisher erlebt haben: Schon Monate vor der Veröffentlichung des Albums dringen Gerüchte über den Inhalt des lyrischen Konzeptes ins Internet vor. Besonders raffinierte Fans finden einen Code auf T-Shirts der zeitgleich laufenden Tour. Er ergibt „i am trying to believe“ (übersetzt: Ich versuche, zu glauben) und führt direkt zur Homepage iamtryingtobelieve.com, auf der das fiktive Medikament Parepin erwähnt wird. Es ist genauso Teil des düsteren Science wie churchofplano.com, anotherversionofthetruth.com oder 105theairbornecrusaders.com. Doch an diesem Punkt macht das Gurilla-Marketing noch nicht Halt: „Zufällig“ wurde nach einem Konzert in Lissabon ein USB-Datenträger gefunden, auf dem der Song ‘My Violent Heart‘ gespeichert war. Gleiches geschah mit ‘Me, Im Not‘, der in Barcelona auftauchte. Anbei war eine weitere Datei, die nach einer Analyse zur Nummer 1-216-333-1810 führte, einer Telefonnummer in den Vereinigten Staaten. Dort gab es einen Morse-Code zu hören, der wieder zu einer weiteren Homepage führte. Auf diese Weise sind mittlerweile unzählige Homepages entdeckt worden und drei Songs, der erste visuelle Teaser und das Video zu ‘Survivalism‘ ins Netz gekommen. Stück für Stück setzt sich das YEAR ZERO-Puzzle zusammen—und Fans verstricken sich immer tiefer in die dargestellte Zukunftswelt. Doch all das ist nur ein kleiner Ausschnitt des ausgefuchsten Viral Marketing der genau dafür bekannten Firma 42 Entertainment. In Zusammenarbeit mit Reznor haben sie - vom künstlerischen Anspruch mal ganz abgesehen - viel mehr erreicht, als klassische Werbung hätte schaffen können: Die Band war lange vor Album in aller Munde, hat ihre Anhängerschaft über Wochen mit immer neuen Details gefesselt und so eine riesige Erwartungshaltung geschürt. Diese geht sogar so weit, dass unter ninwiki.com die Entdeckungen genauestens festgehalten werden und eine Timeline für das fiktive Geschehen im Jahr 2022 zusammengestellt wurde.

 

Kasten 2

DIE SONCS VON YEAR ZERO

Trent Reznor hat die Neujustierung von WITH TEETH erfolgreich internalisiert. Er hat die Befreiung mittels Pop-Songs genutzt, um sich mit YEAR ZERO wieder so frisch, inspiriert und düster wie in seinen besten Zeiten zu zeigen. Das bedeutet allerdings nicht, dass er es seinen Fans leicht macht: Wiederholt verzichtet der Meister auf eingängige Refrains, zieht kaputte Beats als einzigen roten Faden durch einen Song, ersetzt die herkömmliche Gitarrenlinie durch Effekte und Sound-Collagen.

 

‘Hyperpower!‘

Das Intro der Platte. Wie der Anfang eines Filmes lässt es erahnen, dass sich etwas Düsteres anbahnt.

 

‘The Beginning Of The End‘

Kontrastierend zum Intro liebäugelt der Song fast schon mit Indie Rock und hat als einziges Lied eine verzerrte Lead-Gitarre, die einer defekten Übertragung ähneln.

 

‘Survivalism’

Die erste Single. Rockt, ohne zu hart zu sein, und überrascht mit fast schon altmodischen Effekten im Hintergrund. Der Protagonist scheint die wahre Finsternis noch nicht erkannt zu haben.

 

‘The Good Soldier‘

Die Geschichte wird dunkler, der Sound fast Trance-artig. Eine an Filmmusik erinnernde Sound-Landschaft zieht hoch.

 

‘Vessel‘

Es wird verstörend. Gitarren gibt es kaum, dafür kalte Loops, maschinelles Feeling und Textzeilen, die wie Parolen ausgestoßen werden.

 

‘Me, Im Not‘

Fiese Sound-Collagen fräsen sich langsam und mit viel Hall nach vorne. Eine Mischung aus verzerrtem Trip-Hop und Sci-Fi-Soundtrack.

 

‘Capital G‘

Der Beat erinnert an Marilyn Manson, der Song ist klarer und strukturierter als die Vorgänger. Der Gesang steht deutlich im Vordergrund, die Stimmung wird leichter.

 

‘My Violeot Heart‘

„Spoken words“ im ruhigen Intro, danach wird es heftig. Böse Effekte, ein wildes Durcheinander, man kann nur erahnen, welch fiese Wendung die Geschichte hier nimmt. Für Fans harter Nine Inch Nails-Songs ein Hit.

 

‘The Warning‘

Eher typischer Rhythmus im Mid Tempo, über den sich eine halb verzerrte Gitarre legt. Einen klaren Höhepunkt erhofft man vergebens.

 

‘God Given‘

Guter Song, der aufs Neue mit großen, aber kalten Gesten ankommt. Braucht mehrere Durchläufe.

 

‘Meet Your Master‘

Ein Song ist bei den massiv ein gesetzten Effekten nur schwer zu erkennen, bis sich die Atmosphäre irgendwann aufhellt und klare Gesangslinien aus dem finsteren Labyrinth aufsteigen.

 

‘The Greater Good‘

Ein kaputtes Klavier eröffnet den Song, surreales Wispern begleitet die beklemmende Stimmung. Dank der dichten Atmosphäre ein weiterer Höhepunkte des Albums.

 

‘The Great Destroyer‘

Eine anfangs leichte Gitarrenlinie wird von einem schweren Beat eingeholt und begleitet. Erneut unterlegen viele Samples und Effekte den Song.

 

‘Another Version Of The Truth‘

Das Rauschen in Kombination mit dem Klavier erinnert an ‘The Downward Spiral‘. Die Lethargie des Instrumentals kippt plötzlich ins Freundliche und Akustische um.

 

‘In This Twilight‘

Wieder kein klassischer Song: Erinnert an eine langsame Collage, die zum Schluss von der Gitarre getragen wird.

 

‘Zero Sum‘

Schwere Beats, Klaviertöne, Flüstern. Irgendwann sucht und findet das Klavier seine Melodie. Das Ende der Platte bleibt düster und hätte prima ans Ende eines Film Noir gepasst.

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