Ein totalitäres
Regime regiert Amerika. Wahlen sind eine Farce. Es wurden Kriege im Nahen Osten
geführt. Ein atomarer Krieg steht vielleicht unmittelbar bevor: NINE INCH
NAILS-Chef TRENT REZNOR zieht auf YEAR ZERO der Zukunft als Heile-Welt-Mythos
die Haut ab.
Untergrund-Aktivisten stoßen durch Zufall auf eine
Audiodatei, untersuchen sie und finden einen Hinweis auf eine Internet- Seite.
Der Inhalt: das verstörende Transkript eines Verhörs und die Aufzeichnung eines
Telefonanrufs. Eine panische Frau weiht darin in atemlos aneinander gereihten
Sätzen jemanden ein, dass die Polizei sie und ihren Mann umbringen will. Nichts
Ungewöhnliches in einem totalitären Staat, der politische Gegner systematisch ausschaltet.
Trauriger Alltag im Jahr 2022- dem Jahr 0. Dem Zeitpunkt. an dem es geschehen
wird. Dem Jahr, in dem das neue Nine Inch Nails-Album YEAR ZERO spielt. Es ist
ein Konzeptalbum, das die Grenzen von Raum und Zeit, Erzähler und Zuhörer,
Trent Reznor und Fan auflöst. Die erwähnten Entdecker der Homepage sind daher
auch kein erfundener Teil des Konzeptes und entspringen nicht der Fantasie der
Industrial-Ikone: Es sind seine Fans, die schon Monate vor
Album-Veröffentlichung in die Handlung eintauchen konnten (siehe Kasten).
DAS ZWEITBESTE IST
NICHT GENUG
Im bisher ausgeklügeltesten Fall von sogenanntem „Viral
Marketing“ lässt Sänger und Mastermind Trent Reznor seine Fans zum Teil des Gesamtkunstwerkes
werden. „Das Konzept alleine war für ein reguläres Album schon viel zu
detailliert“, erzählt er. „Außer dem wollte ich die Handlung aus der Fiktion
und der Zukunft ins Hier und Jetzt transportieren und die Fans direkt
ansprechen - sie also aus ihrer konsumierender, Passivität lösen,“ Es sollte
der Effekt rekreiert werden, den Pink Floyd 1979 mit THE WALL schafften. Liner
Notes und ein aufklappbares Booklet stellten damals eine über die Musik
hinausreichende Dimension dar. Heutzutage ist dieser Weg aber sinnlos - Platten
sind nicht mehr wichtig. Musik ist nur noch MP3.“
Diese Veränderung bekommen Plattenfirmen mit ihren alten
Strukturen ständig und schmerzhaft zu spüren. Doch das ist Reznor ziemlich
egal: Er betrachtet YEAR ZERO als Kunstwerk, das nicht allein auf die
Musikindustrie beschränkt ist. Fasziniert von der Viral Marketing-Kampagne, die
für den Steven Spielberg-Film „A.I“ gemacht wurde, dachte er über ähnliche
Möglichkeiten für sein Werk nach. Er wollte aber mehr, als für den Film
geleistet wurde. Er wollte das Beste, das momentan möglich ist. Eine Verschmelzung
des fiktiven Zukunftskonzeptes mit der virtuellen Realität des Internets und
der physischen Realität des Jetzt. Das Konzept sollte Grenzen überschreiten und
auf vier Dimensionen ausgebreitet werden.“
KUNST ALS WIDERSTAND
Doch selbst das ist Trent noch nicht genug, denn sein Ziel
ist nicht die Unterhaltung. Dazu reflektieren seine Alben zu sehr auch seine
eigene Geisteswelt, was auch auf YEAR ZERO zutrifft. Dabei ist der früher manchmal
als Egomane dargestellte Musiker deutlich erwachsener geworden: Er konfrontiert
seine Fans nicht mehr mit einem klassischen Seelenstriptease wie noch auf THE
DOWNWARD SPIRAL (1994) oder THE FRAGILE (1999). „YEAR ZERO ist geworden, wovor
ich eigentlich immer Angst hatte: Ein direkter Kommentar zu Amerika und der
Richtung, in die die amerikanische Politik momentan geht“, überlegt Trent. Es
spiegelt meine Ängste und Sorgen über das wider, was speziell nach dem 11.
September passiert ist. Er sah sich die aktuelle Politik und das Tempo an, mit
der Freiheit und Gerechtigkeit eingeschränkt wurden und projizierte diese
Aussichten in die Zukunft. Der klassische Weg. mit dem schon Autoren wie George
Orwell (‘1984‘) oder Aldous Huxley (‘Brave New World‘) nachdrücklich auf
aktuelle Missstände hinwiesen. „George W. Bush hat seine Wahl erschwindelt. Wir
sind aufgrund einer Lüge im Irak einmarschiert, haben dort unschuldige Menschen
umgebracht. Jetzt steht wahrscheinlich ein Militärschlag gegen den Iran bevor -
da war es nicht schwer, ein paar weitere Kriege. Attentate und politische
Veränderungen für meine Geschichte zu erfinde“, erklärt Trent die Entstehung
der YEAR ZERO-Welt.
Vor dieser dunklen Leinwand breitet sich ein Spiel aus, in
dem es diverse Charaktere, eine Handlung und auch Reznor selber als
Nebendarsteller gibt. Doch was würde der Sänger selbst in einer solchen
totalitären Welt tun? „Wahrscheinlich untertauchen und versuchen Widerstand zu
leisten und die Leute aufzurütteln“, glaubt er. Er würde also genau das Ziel
verfolgen, das YEAR ZERO jetzt schon hat: Aufmerksamkeit und Verständnis für
Zusammenhänge wecken. „In einer Welt, in der es keine freien Wahlen gibt,
öffentliche Plätze und das Internet überwacht und Menschen bespitzelt werden,
ist Kunst eine der wenigen Möglichkeiten. mit denen man etwas bewirken kann. Wenn
ich mit diesem Album also ein paar Menschen dazu bringen kann, zum Beispiel
über die wirklichen Hintergründe des Patriot Acts (US-amerikanisches Gesetz vom
26. Oktober 2001 - Anm.d.A.) nachzudenken, bin ich froh. Wären die Zeiten noch
schlimmer, wären seine Alben noch offensiver politisch - da ist Trent sicher.
GEALTERT UND GELÄUTFRT
Es ist ungewohnt, den Sänger so politisch engagiert zu
erleben. Vom dürren Industrial-Pionier, der mit langen Haaren und schwarzen
Lederklamotten zwischen musikalischem Genie und Drogen umnebeltem Wahnsinn hin
und herpendelt, scheint im Jahr 2007 wenig übrig zu sein. Aufgeräumt sitzt er
mit verwaschener Jeans, engem Shirt und kurzen Haaren im Fünf-Sterne-Hotel. Vor
ihm stehen Kaffee und O-Saft. Er redet sehr bewusst, ist durchtrainiert und
deutlich in die Jahre gekommen - Falten graben sich in die Stirn des bald
42-Jährigen, die mittellangen Koteletten sind scharf getrimmt. Er wirkt
konzentriert. Seit er clean ist, sucht er sogar wieder die Nähe zu Menschen.
Das Album hat er aber - konträre Entwicklung - komplett alleine geschrieben und
eingespielt. Es gibt also keine lange Gästeliste wie bei THE FRAGILE (1999)
oder WITH TEETH (2005). „Ich habe während der letzten Tour ständig an Songs
gearbeitet: Das Album ist quasi in diversen Hotels auf meinem Laptop
entstanden, was sich als sehr inspirierend herausstellte.“ Also arbeitete er
nach der Tour mit dem gleichen Muster weiter und kann das erste Mal nach nur
zwei Jahren ein neues Album veröffentlichen.
Diese Frische ist dabei schon fast eine Rückkehr zum
Anfang seiner Karriere. Kein Wunder, dass YEAR ZERO eine gewisse Nähe zum Debüt
PRETTY HATE MACHINE (1989) pflegt. „Ich hatte am Laptop keinen Zugang zu Drums
oder Gitarren, wodurch die Effekte und Elektronik wieder mehr in den Vordergrund
rückten. Außerdem habe ich fast keinen Gedanken mehr an Planung verschwendet,
sondern schlicht gemacht, was sich richtig anfühlte.“ Genau diese unverkopfte
Frische fehlte bei THE FRAGILE und machte das Album schwer zugänglich. WITH
TEETH brachte sie ihm vor zwei Jahren zurück: Er lernte wieder, sich nicht um
Erwartungen oder äußeren Druck zu kümmern.
DAS ENDE DER
GESCHICHTE
YEAR ZERO muss also als ein über die CD hinausreichendes
Kunst werk begriffen werden - als Portrait bisher unbekannter Seiten von Trent
Reznor. Wer es wirklich verstehen will, muss sich das Drumherum erarbeiten oder
zumindest die Zusammenhänge über diverse Webpages recherchieren (siehe Kasten).
Und natürlich auf Teil zwei warten: Der ist grob für 2008 geplant. Reznor
arbeitet schon an ersten Ideen. „Das aktuelle Album endet an einem für mich
logischen Punkt - obwohl es ein ziemlicher Cliffhanger ist. Es wird also wohl
einen zweiten Teil geben. in dem dann passiert. was sich jetzt auf YEAR ZERO
angebahnt hat.“ Denn was genau im Jahre 0 geschehen wird, wird nicht verraten.
TOBIAS
GERBER
Kasten1
VIRTUAL REALITY Á LA
REZNOR
2007 ist anders als alles, was Nine Inch Nails‘ Fans
bisher erlebt haben: Schon Monate vor der Veröffentlichung des Albums dringen
Gerüchte über den Inhalt des lyrischen Konzeptes ins Internet vor. Besonders
raffinierte Fans finden einen Code auf T-Shirts der zeitgleich laufenden Tour.
Er ergibt „i am trying to believe“ (übersetzt: Ich versuche, zu glauben) und
führt direkt zur Homepage iamtryingtobelieve.com, auf der das fiktive
Medikament Parepin erwähnt wird. Es ist genauso Teil des düsteren Science wie
churchofplano.com, anotherversionofthetruth.com oder 105theairbornecrusaders.com.
Doch an diesem Punkt macht das Gurilla-Marketing noch nicht Halt: „Zufällig“
wurde nach einem Konzert in Lissabon ein USB-Datenträger gefunden, auf dem der
Song ‘My Violent Heart‘ gespeichert war. Gleiches geschah mit ‘Me, Im Not‘, der
in Barcelona auftauchte. Anbei war eine weitere Datei, die nach einer Analyse
zur Nummer 1-216-333-1810 führte, einer Telefonnummer in den Vereinigten
Staaten. Dort gab es einen Morse-Code zu hören, der wieder zu einer weiteren
Homepage führte. Auf diese Weise sind mittlerweile unzählige Homepages entdeckt
worden und drei Songs, der erste visuelle Teaser und das Video zu ‘Survivalism‘
ins Netz gekommen. Stück für Stück setzt sich das YEAR ZERO-Puzzle zusammen—und
Fans verstricken sich immer tiefer in die dargestellte Zukunftswelt. Doch all
das ist nur ein kleiner Ausschnitt des ausgefuchsten Viral Marketing der genau
dafür bekannten Firma 42 Entertainment. In Zusammenarbeit mit Reznor haben sie -
vom künstlerischen Anspruch mal ganz abgesehen - viel mehr erreicht, als
klassische Werbung hätte schaffen können: Die Band war lange vor Album in aller Munde, hat ihre
Anhängerschaft über Wochen mit immer neuen Details gefesselt und so eine
riesige Erwartungshaltung geschürt. Diese geht sogar so weit, dass unter
ninwiki.com die Entdeckungen genauestens festgehalten werden und eine Timeline
für das fiktive Geschehen im Jahr 2022 zusammengestellt wurde.
Kasten 2
DIE SONCS VON YEAR ZERO
Trent Reznor hat die
Neujustierung von WITH TEETH erfolgreich internalisiert. Er hat die Befreiung
mittels Pop-Songs genutzt, um sich mit YEAR ZERO wieder so frisch, inspiriert
und düster wie in seinen besten Zeiten zu zeigen. Das bedeutet allerdings
nicht, dass er es seinen Fans leicht macht: Wiederholt verzichtet der Meister
auf eingängige Refrains, zieht kaputte Beats als einzigen roten Faden durch
einen Song, ersetzt die herkömmliche Gitarrenlinie durch Effekte und
Sound-Collagen.
‘Hyperpower!‘
Das Intro der Platte. Wie der Anfang eines Filmes lässt es
erahnen, dass sich etwas Düsteres anbahnt.
‘The
Beginning Of The End‘
Kontrastierend zum Intro liebäugelt der Song fast schon
mit Indie Rock und hat als einziges Lied eine verzerrte Lead-Gitarre, die einer
defekten Übertragung ähneln.
‘Survivalism’
Die erste Single. Rockt, ohne zu hart zu sein, und überrascht
mit fast schon altmodischen Effekten im Hintergrund. Der Protagonist scheint
die wahre Finsternis noch nicht erkannt zu haben.
‘The Good Soldier‘
Die Geschichte wird dunkler, der Sound fast Trance-artig.
Eine an Filmmusik erinnernde Sound-Landschaft zieht hoch.
‘Vessel‘
Es wird verstörend. Gitarren gibt es kaum, dafür kalte Loops,
maschinelles Feeling und Textzeilen, die wie Parolen ausgestoßen werden.
‘Me, Im Not‘
Fiese Sound-Collagen fräsen sich langsam und mit viel Hall
nach vorne. Eine Mischung aus verzerrtem Trip-Hop und Sci-Fi-Soundtrack.
‘Capital G‘
Der Beat erinnert an Marilyn Manson, der Song ist klarer
und strukturierter als die Vorgänger. Der Gesang steht deutlich im Vordergrund,
die Stimmung wird leichter.
‘My Violeot Heart‘
„Spoken words“ im ruhigen Intro, danach wird es heftig.
Böse Effekte, ein wildes Durcheinander, man kann nur erahnen, welch fiese
Wendung die Geschichte hier nimmt. Für Fans harter Nine Inch Nails-Songs
ein Hit.
‘The
Warning‘
Eher typischer Rhythmus im Mid Tempo, über den sich eine
halb verzerrte Gitarre legt. Einen klaren Höhepunkt erhofft man vergebens.
‘God Given‘
Guter Song, der aufs Neue mit großen, aber kalten Gesten
ankommt. Braucht mehrere Durchläufe.
‘Meet Your Master‘
Ein Song ist bei den massiv ein gesetzten Effekten nur
schwer zu erkennen, bis sich die Atmosphäre irgendwann aufhellt und klare
Gesangslinien aus dem finsteren Labyrinth aufsteigen.
‘The Greater Good‘
Ein kaputtes Klavier eröffnet den Song, surreales Wispern
begleitet die beklemmende Stimmung. Dank der dichten Atmosphäre ein weiterer
Höhepunkte des Albums.
‘The Great Destroyer‘
Eine anfangs leichte Gitarrenlinie wird von einem schweren
Beat eingeholt und begleitet. Erneut unterlegen viele Samples und Effekte den
Song.
‘Another Version Of The Truth‘
Das Rauschen in Kombination mit dem Klavier erinnert an ‘The
Downward Spiral‘. Die Lethargie des Instrumentals kippt plötzlich ins
Freundliche und Akustische um.
‘In This Twilight‘
Wieder kein klassischer Song: Erinnert an eine langsame
Collage, die zum Schluss von der Gitarre getragen wird.
‘Zero Sum‘
Schwere Beats, Klaviertöne, Flüstern. Irgendwann sucht und
findet das Klavier seine Melodie. Das Ende der Platte bleibt düster und hätte
prima ans Ende eines Film Noir gepasst.
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