Oder doch nur cleveres Marketing? Die Firma 42 Entertainment bewarb die
neue CD von Nine Inch Nails mit innovativen Mitteln.
Das „Googlen“ erfordert eine
Kernkompetenz: Man muss erkennen können - oder zumindest ein zuverlässiges
Bauchgefühl dafür entwickeln - welche Quellen glaubwürdig sind und welche
nicht. Doch die Grenzen dessen, was wahr und was erfunden ist, verschwimmen im
Internet zunehmend. Boots Riley von der politischen HipHop-Band The Coup veröffentlichte
Ende Juni auf www.myspace.com/thecoupmusic einen Blog, in dem er über den
vermeintlich brisanten Brief eines Kriegsgegners schrieb. Gut vier Stunden
später zog er den Eintrag zurück, da er feststellen musste, dass der Brief bereits
seit Monaten in mehrfacher Ausführung mit verschiedenen Datierungen durch das
Netz geisterte. „Wahrscheinlich steckt
ein reaktionäres Arschloch dahinter, das damit die Arbeit von Kriegsgegnern
entwerten will“, schrieb Riley. Wie soll man noch nachvollziehen, wer hinter
was steckt? Und warum? Welche Interessen werden mit welchen subversiv
verbreiteten „Nachrichten“ verfolgt? In Zeiten, in denen die amerikanische
Regierung überlegt, ob ihre Abteilung „Office Of Strategic Influence“ nicht
auch gezielt Falschinformationen streuen sollte, um die öffentliche Meinung im
In- und Ausland zu manipulieren, ist die Wahrheit ein kostbares Gut.
Diese Situation inspirierte Trent
Reznor zudem neuen Nine-Inch-Nails-Album YEAR ZERO - auf mehreren Ebenen. „Als Amerikaner finde ich ziemlich
beunruhigend, in welche Richtung sich dieses Land bewegt - die Erosion der
Freiheiten, die Art, wie wir den Rest der Welt behandeln…“ ‚ sagt Reznor. „Das wollte ich kommentieren, aber nicht mit
erhobenem Zeigefinger. Es sollte sich auch nicht auf das Jahr 2007 beziehen.
Also habe ich mir [...] vorzustellen versucht, wie unsere Welt in der Zukunft
aussieht - vielleicht in 15 Jahren.“
Seine düstere Vision hat Reznor
musikalisch verarbeitet - in der Welt von YEAR ZERO regiert ein totalitäres
Regime, das das Volk mit Medikamenten im Trinkwasser ruhig stellt -,aber nicht
nur: Für die Promotion-Kampagne für das Nine-Inch-Nails-Album hat Reznor mit
der Firma 42 Entertainment quasi sein eigenes „Office Of Strategic Influence“
engagiert. Das Unternehmen hat sich auf eine Form des „viral marketing“
spezialisiert, die sich Alternate-Reality Gaming (ARG) nennt: Wie in einem
Adventure-Game enthält der Fan nach und nach Hinweise, mit denen er in eine
Parallelwirklichkeit gelockt wird. „Die 18-
bis 35- Jährigen sind in einer marketingübersättigten Welt aufgewachsen “,
erklärt Jordan Weisman von 42. „Je größer
die Leuchtreklame, desto schneller laufen sie weg. Also lautete die Prämisse:
anstatt zu schreien, fiüstern wir.“
Und das ging so: Wie sich bei
www.ninwiki.com nachvollziehen lässt, begann alles mit einem NIN Tour-T-Shirt,
auf dem hervorgehobene Buchstaben zudem Slogan „I am trying to believe“
zusammengesetzt werden konnten. Bald schon fanden Fans eine zugehörige Website
www.iamtryingtobelieve.com. Nun war es nur eine Frage der Zeit, bis ein
komplizierter Irrgarten aus Informationen und Desinformationen entdeckt wurde,
in dem codierte Telefonnummern, bei Shows versteckte USB-Sticks, Graffitis in
London und Hollywood und gut 30 verschiedene Websites eine Rolle spielten. Auch
wenn noch unklar ist, wie effektiv die Kampagne war - ARG läutet vermutlich ein
neues Zeitalter des Marketings ein. „Mich
frustriert der Begriff Marketing“, schreibt Reznor in einem Blog. „Was ihr jetzt erlebt, ist ‚Year Zero‘. Das
ist kein Gimmick, damit ihr euch die Platte kauft— es ist eine Kunstform und
wir stehen erst am Anfang.“
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