Die Gesellschaft von morgen wird eine totalitäre sein, orakeln Nine
Inch Nails. Im Gespräch legt der wieder zum Industrial bekehrte Trent Reznor
dar, dass schon fleißig an dieser Zukunft gewerkelt wird.
In den vergangenen Monaten war
YEAR ZERO vor allem etwas für Leute mit viel Zeit - viel mehr als nur die
nächste Platte von Nine Inch Nails. Ein wild verschlungenes Labyrinth
miteinander verlinkter Webseiten hielt für die Sherlock-Holmes-Fraktion unter
den Fans scheibchenweise Informationen zum inhaltlichen Konzept des Albums
parat. Es gab mysteriöse Hinweise auf T-Shirts, auf Toiletten von Konzertsälen
versteckte USB-Sticks mit ersten Songs, ominöse Telefonnummern und zahlreiche
kryptische Texte im Internet.
Die Möglichkeit, das Werk
jenseits derart wohlfeil durchdachter Strategien zu hören - man spricht hier
bereits von „viralem Marketing“ - ,bietet sich MUSIKEXPRESS an einem Samstag
Ende März. Schnell steht fest: YEAR ZERO fordert den ganzen Mann! Ein
unheilvoll dräuendes Gewummer und Geschepper, das insbesondere morgens um zehn
mit all seiner an den Nerven zerrenden Collagenhaftigkeit vor allem eins ist:
anstrengend.
Nach dem deutlich zugänglicheren
WITH TEETH vor zwei Jahren macht Trent Reznor also wieder in Industrial. Weil
das apokalyptische Schreckensszenario eines im Jahre 2022 von einem totalitären
Regime an den Rand des Abgrunds gebrachten Amerika, das er auf YEAR ZERO
entwirft, nach einer entsprechenden klanglichen Untermalung verlangt. Aber wohl
auch, weil er „es damals anderen Leuten
erlaubte, Einfluss auf meine Musik zu nehmen, deren Ansichten mir sonst egal
gewesen wären“, wie er sagt. Auch ohne Namen zu nennen, ist klar, dass
Reznor Rick Rubin meint. Dessen Einflüsterungen hätten bei WITH TEETH dafür
gesorgt, dass er entgegen seiner sonstigen Gewohnheiten „auf fast Beatle’eske Art mit Gitarre und Klavier“ komponierte.
Inzwischen hat er die Instrumente wieder gegen seinen Laptop eingetauscht und
auch sonst zu alter Radikalität zurückgefunden: „Ich höre kein Radio, also ist es mir scheißegal, ob diese Musik im
Radio gespielt werden kann. Mich interessiert weder die Meinung von MTV noch
die der Plattenfirma. YEAR ZERO entspringt absolut unverfälscht meiner Seele.“
Wir sitzen im Berliner
Ritz-Carlton-Hotel. Ein besserer Rahmen fürs Gespräch über YEAR ZERO ist kaum
vorstellbar: Das Hotel wird umlagert von zahlreichen martialisch auftretenden
Polizisten. Die sind freilich nicht wegen Reznor hier - so wichtig ist der 42-Jährige trotz Millionen
verkaufter Alben nicht - ,sondern um das zeitgleich stattfindende Treffen der
europäischen Regierungschefs zu beschützen.
Entgegen anders lautender
Gerüchte ist das einzige ständige Mitglied der „Band“ Nine Inch Nails übrigens
alles andere als mürrisch und verschlossen, sondern ein ernsthafter, aufgeräumter,
reflektierter Gesprächspartner, der seine Antworten in erschöpfenden Monologen
offeriert. Nach der Aufarbeitung seiner langjährigen Drogenirrfahrt ist Reznor
offenbar so klar im Kopf wie nie zuvor und räumt demzufolge zunehmend universal
gültigen Themen Raum ein. „Ich schäme
mich mittlerweile regelrecht für meine Herkunft. Darüber wollte ich schreiben, fürchtete
aber, nicht die geeignete Form zu finden. Niemand will schließlich eine weitere
Platte mit platten Anti-Bush-Phrasen hören. Damit erreicht man immer nur Leute,
deren politisches Weltbild bereits gefestigt ist.“ Zur Lösung dieses
Dilemmas bediente er sich eines Kunstgriffs: „Ich kam auf die Idee, das wahrscheinliche Resultat der von Gier,
Kurzsichtigkeit und dem Mangel an Mitgefühl geprägten Politik der
Bush-Administration mit einer in der nahen Zukunft spielenden Parabel
abzubilden. So viel gehört ja nicht dazu, sich die Konsequenzen unseres
gegenwärtigen Handelns auszurechnen.“
Wie diese Konsequenz letztlich
aussehen wird, lässt indes auch YEAR ZERO im Dunklen. Der letzte Song, „Zero
Sum“, deutet zwar die ultimative Katastrophe an, lässt aber auch Hoffnung
aufglimmen. Wie optimistisch ist der Misanthrop? „Was bleibt uns anderes übrig als Optimismus? Die auf YEAR ZERO
beschriebene Welt ist ein dunkler und ungemütlicher Ort, an dem wohl keiner
leben wollte. Allerdings fürchte ich, dass dieses Bild in großen Teilen bereits
der realen Welt entspricht. Um das Schicksal umzukehren, ist es zunächst
wichtig, die Leute aufzuwecken. Viele sind ja immer noch zu sehr damit
beschäftigt, zur Kirche zu gehen, die Raten für ihre Häuser abzubezahlen und sich
um ihre eigene kleine Welt zu kümmern.“ Fürwahr.
|