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Jahr 2007

 

Orkus

  

 April 2007

 

Mysteriöser Minimalismus

 

Autor: Christop Kutzer

 

„Year Zero zeichnet ein Bild der Welt am Scheideweg. Ich habe versucht, einen möglichst umfassenden Einblick in dieses Szenario zu gewähren, indem ich mich ihm aus verschiedenen Perspektiven näherte.“

Auf With Teeth, dem letzten Release der Nine Inch Nails, widmete sich Trent Reznor intensiv seinem Ringen gegen Alkoholismus und Drogenmissbrauch. So betrachtet, glich das Album einem psychischen Großreinemachen. Gute Voraussetzungen für einen Neustart also, für den Druck auf die „Reset“ -Taste der „Pretty Hate Machine‘, die noch immer auf dem Grund der „Downward Spiral“ vor sich hinrattert. Dem Titel nach könnte das für April angekündigte frische Oeuvre der Neun-Inch-Nägel tatsächlich Aufbruch und Abschluss sein: Year Zero, das klingt nach dem Beginn einer neuen Ära. Zugleich aber schwingt spürbar die Apokalypse mit. Anfang und Ende liegen hier - das spiegeln auch Songnamen wie The Beginning Of The End wider - nah beieinander. Ganz dem oft ambivalenten Status entsprechend, welche die Null in der Geschichte der Mathematik einnahm: Noch im 15 Jahrhundert galt sie als „umbre et encombre“, als dunkel und unklar Als Signum, das selbst nichts bedeutet, dem Folgenden und Vorausgehenden hingegen seinen Wert zumisst.

Wessen Bedarf an Mysterium mit diesen Vorbemerkungen bereits befriedigt ist, der wird mit Reznors jüngster Kreation seine liebe Not haben. Year Zero, das zeichnet sich schon vor der Veröffentlichung ab, ist weit mehr als ein Tonträger. Eher ähnelt die Art und Weise, wie sich die Platte Schritt für Schritt manifestiert, einem Multimedia- Projekt, dessen Ausmaß bis dato nur zu erahnen ist, da sich Trent momentan bewusst bedeckt hält, Er versuche, zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht allzu viele Details preiszugeben, lässt der NIN-Kopf verlauten. Das aktuelle Werk sei Teil eines größeren Gesamtbildes, das sich aus einer Reihe von Dingen zusammensetze, an denen er gerade arbeite. Sein für verschiedenste Spekulationen offenes Fazit: „Ich habe den Soundtrack zu einem Film geschrieben, den es nicht gibt.“ Year Zero, so kann man Reznor schließlich doch noch entlocken, basiere auf einem Tagtraum vom Untergang der Welt. Später hätten sich persönliche Erfahrungen in das Konzept eingefügt. Lebenswirklichkeit und Kunst seien stärker und stärker verschmolzen und zunehmend schwieriger zu trennen gewesen. Es dürfte diese Erkenntnis der Relativität unseres Realitätsbegriffs gewesen sein, die den Mastermind dazu bewog, sich mit 42 Entertainment zusammenzutun, einem Marketingdienstleister, der seine Innovationskraft mit einer erfolgreichen Kampagne für Steven Spielbergs A.I. demonstriert hatte. Dank dieser fruchtbaren Kooperation gleicht das Forschen nach Informationen zum fünften Studioalbum der vor rund zwei Dekaden ins leben gerufenen Ausnahmeband einer multimedialen Schnitzeljagd. Beispiel Tourshirt: Mitte Februar entdeckte ein findiger Fan, dass die auf dem Textil hervorgehobenen Buchstaben den Satz „I am trying to believe“ ergaben. Mehr noch. Es stellte sich heraus, dass sich unter www.iamtryingtobelieve.com eine mysteriöse Website öffnete, die sich mit der Droge Parepin befasst, einer Substanz, mit der es in Reznors futuristischem Year Zero, dem Jahre 0000 (das inzwischen als Chiffre für das Jahr 2022 enttarnt wurde), folgende Bewandtnis hat: Parepin wurde auf Befehl von Regierungskreisen dem Trinkwasser der Bevölkerung beigemischt, angeblich, um Krankheiten zu bekämpfen und das Risiko eines biologischen Angriffs zu reduzieren. Stoppt man den Parepinkonsum, so sieht man wieder klarer. Offiziell wird dieser Zustand dann allerdings als paranoid eingestuft. Illustriert wird die düstere Zukunftsvision von Bildern einer schemenhaften, überdimensionalen Hand, die sich aus dem Himmel herabstreckt. NIN Kenner denken da eventuell rasch an The Wretched vom 1999 erschienenen Longplayer The Fragile, wo es heißt “The clouds will part, and the sky cracks open and God himself will reach his fucking arm through.” Kein Zweifel: IAmTryingtoBelieve ist eine Netzpräsenz, die zum Year Zero Projekt gehört. Zeit für ein weiteres Haschen nach den Wortkrumen von Trent Reznors Tisch „Year Zero zeichnet ein Bild der Welt am Scheideweg konkretisiert er, „sowohl politisch als auch ökologisch oder spirituell. Ich habe versucht, einen möglichst umfassenden Einblick in dieses Szenario zu gewähren, indem ich mich ihm aus verschiedenen Perspektiven näherte. Entsprechend breit ist die Skala der Themen und Einstellungen, die dem Neugierigen auf diversen Year Zero Webseiten begegnen von militanten kirchlichen Vereinigungen bis zum patriotischen Slogan „America is born again‘, hinter dem sich passend zum Liedtitel Another Version Of Truth  - eine völlig andere Wahrheit verbirgt. So weit zur Einbindung des Releases in einen Gesamtrahmen Was jedoch ist mit der Musik?

Kurz nach der Entzifferung des ersten Tourshirtcodes wurde am Rande eines Nine Inch Nails Gigs in Lissabon ein USB-Stick auf der Toilette gefunden. Enthaltenes Material: das zwischen ruhigen Passagen und mächtigen, tanzbaren Beats wechselnde Violent Heart. Ein Häppchen vom kommenden Opus! Hatte Trent verkündet, Year Zero habe seinen Ausgangspunkt in Geräuschexperimenten gehabt, so kam nun ans Licht, dass sich die eigenwilligen Sounds zumindest teilweise zu absolut schlüssigen und, je nach Hörgewohnheiten, hochgradig eingängigen Stücken gruppiert haben. Me, Im Not, das im Sanitärbereich eines Konzerthauses in Barcelona auftauchte, bestätigt diese Beobachtung mit einer ausgewogenen Mixtur aus summenden und brummenden Klangschleifen, hypnotischem Beat und dezenter, aber sehr effektiv platzierter Melodik. Dasselbe gilt für die rasant inszenierte erste Single Survivalism, die in Ausschnitten zunächst von all jenen genossen werden konnte, die verstanden, dass sich aus einem NIN-Shirt eine Zahlenkombination herauslesen ließ, welche sich als existierende Telefonnummer entpuppte. Auch hier kann bei aller Brachialität keine Rede von ungefiltertem Lärmen sein. Offenbar haben Trent, Mitproduzent und Sounddesigner Atticus Ross sowie Engineer Alan Moulder alles daran gesetzt, die anfangs ungehemmten Klangspielereien bis zum Äußersten zu verfeinern. Die ersten Höreindrücke jedenfalls weisen auf ein trotz aller innovativen Ansätze sehr kompaktes und auf das Wesentliche konzentriertes Werk hin. Die Songs fegen jeglichen Verdacht fort, die groß angelegte Marketingkampagne im Vorfeld solle dazu dienen, heiße Luft aufwändig zu verpacken. Year Zero - das zeigen die bisherigen Reaktionen - bietet ausreichend Stoff für Diskussionen. Künstlerisch wie inhaltlich. Ein schöneres Kompliment kann man einer Platte im Grunde kaum machen. Nein. Eine Nullnummer ist dieses Album gewiss nicht. Vielleicht aber ein mit eigener Bedeutung aufgeladenes Bindeglied zwischen Vergangenheit und Zukunft der Nine Inch Nails. Das hängt nicht zuletzt davon ab, wie Trent Reznor sein mit den frischen 16 Tracks etabliertes Konzept ausbauen und den eingeschlagenen Weg der Grenzüberschreitung zwischen Fiktion und Realität weiterverfolgen wird.

www nin.com

Christoph Kutzer

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