„Year Zero zeichnet ein Bild der
Welt am Scheideweg. Ich habe versucht, einen möglichst umfassenden Einblick in
dieses Szenario zu gewähren, indem ich mich ihm aus verschiedenen Perspektiven
näherte.“
Auf With Teeth, dem letzten Release der Nine Inch Nails, widmete sich
Trent Reznor intensiv seinem Ringen gegen Alkoholismus und Drogenmissbrauch. So
betrachtet, glich das Album einem psychischen Großreinemachen. Gute
Voraussetzungen für einen Neustart also, für den Druck auf die „Reset“ -Taste
der „Pretty Hate Machine‘, die noch immer auf dem Grund der „Downward Spiral“
vor sich hinrattert. Dem Titel nach könnte das für April angekündigte frische
Oeuvre der Neun-Inch-Nägel tatsächlich Aufbruch und Abschluss sein: Year Zero,
das klingt nach dem Beginn einer
neuen Ära. Zugleich aber schwingt spürbar die Apokalypse mit. Anfang und Ende
liegen hier - das spiegeln auch Songnamen wie The Beginning Of The End wider - nah beieinander. Ganz dem oft
ambivalenten Status entsprechend, welche die Null in der Geschichte der
Mathematik einnahm: Noch im 15 Jahrhundert galt sie als „umbre et encombre“,
als dunkel und unklar Als Signum, das selbst nichts bedeutet, dem Folgenden und
Vorausgehenden hingegen seinen Wert zumisst.
Wessen Bedarf an Mysterium mit
diesen Vorbemerkungen bereits befriedigt ist, der wird mit Reznors jüngster
Kreation seine liebe Not haben. Year Zero, das zeichnet sich schon vor der
Veröffentlichung ab, ist weit mehr als ein Tonträger. Eher ähnelt die Art und
Weise, wie sich die Platte Schritt für Schritt manifestiert, einem Multimedia-
Projekt, dessen Ausmaß bis dato nur zu erahnen ist, da sich Trent momentan bewusst
bedeckt hält, Er versuche, zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht allzu viele
Details preiszugeben, lässt der NIN-Kopf verlauten. Das aktuelle Werk sei Teil
eines größeren Gesamtbildes, das sich aus einer Reihe von Dingen zusammensetze,
an denen er gerade arbeite. Sein für verschiedenste Spekulationen offenes
Fazit: „Ich habe den Soundtrack zu einem Film geschrieben, den es nicht gibt.“ Year
Zero, so kann man Reznor schließlich doch noch entlocken, basiere auf einem
Tagtraum vom Untergang der Welt. Später hätten sich persönliche Erfahrungen in das
Konzept eingefügt. Lebenswirklichkeit und Kunst seien stärker und stärker
verschmolzen und zunehmend schwieriger zu trennen gewesen. Es dürfte diese
Erkenntnis der Relativität unseres Realitätsbegriffs gewesen sein, die den
Mastermind dazu bewog, sich mit 42 Entertainment zusammenzutun, einem
Marketingdienstleister, der seine Innovationskraft mit einer erfolgreichen
Kampagne für Steven Spielbergs A.I. demonstriert hatte. Dank dieser fruchtbaren
Kooperation gleicht das Forschen nach Informationen zum fünften Studioalbum der
vor rund zwei Dekaden ins leben gerufenen Ausnahmeband einer multimedialen
Schnitzeljagd. Beispiel Tourshirt: Mitte Februar entdeckte ein findiger Fan,
dass die auf dem Textil hervorgehobenen Buchstaben den Satz „I am trying to believe“
ergaben. Mehr noch. Es stellte sich heraus, dass sich unter www.iamtryingtobelieve.com
eine mysteriöse Website öffnete, die sich mit der Droge Parepin befasst, einer
Substanz, mit der es in Reznors futuristischem Year Zero, dem Jahre 0000 (das
inzwischen als Chiffre für das Jahr 2022 enttarnt wurde), folgende Bewandtnis
hat: Parepin wurde auf Befehl von Regierungskreisen dem Trinkwasser der Bevölkerung
beigemischt, angeblich, um Krankheiten zu bekämpfen und das Risiko eines
biologischen Angriffs zu reduzieren. Stoppt man den Parepinkonsum, so sieht man
wieder klarer. Offiziell wird dieser Zustand dann allerdings als paranoid
eingestuft. Illustriert wird die düstere Zukunftsvision von Bildern einer
schemenhaften, überdimensionalen Hand, die sich aus dem Himmel herabstreckt. NIN Kenner denken da eventuell rasch
an The Wretched vom 1999 erschienenen
Longplayer The Fragile, wo es heißt “The
clouds will part, and the sky cracks open and God himself will reach his
fucking arm through.” Kein Zweifel: IAmTryingtoBelieve ist eine
Netzpräsenz, die zum Year Zero Projekt gehört. Zeit für ein weiteres Haschen
nach den Wortkrumen von Trent Reznors Tisch „Year Zero zeichnet ein Bild der
Welt am Scheideweg konkretisiert er, „sowohl politisch als auch ökologisch oder
spirituell. Ich habe versucht, einen möglichst umfassenden Einblick in dieses
Szenario zu gewähren, indem ich mich ihm aus verschiedenen Perspektiven näherte.
Entsprechend breit ist die Skala der Themen und Einstellungen, die dem
Neugierigen auf diversen Year Zero Webseiten begegnen von militanten kirchlichen
Vereinigungen bis zum patriotischen Slogan „America is born again‘, hinter dem
sich passend zum Liedtitel Another Version
Of Truth - eine völlig andere
Wahrheit verbirgt. So weit zur Einbindung des Releases in einen Gesamtrahmen
Was jedoch ist mit der Musik?
Kurz nach der Entzifferung des
ersten Tourshirtcodes wurde am Rande eines Nine Inch Nails Gigs in Lissabon ein
USB-Stick auf der Toilette gefunden. Enthaltenes Material: das zwischen ruhigen
Passagen und mächtigen, tanzbaren Beats wechselnde Violent Heart. Ein Häppchen vom kommenden Opus! Hatte Trent verkündet,
Year Zero habe seinen Ausgangspunkt in Geräuschexperimenten gehabt, so kam nun
ans Licht, dass sich die eigenwilligen Sounds zumindest teilweise zu absolut schlüssigen
und, je nach Hörgewohnheiten, hochgradig eingängigen Stücken gruppiert haben. Me, Im Not, das im Sanitärbereich eines
Konzerthauses in Barcelona auftauchte, bestätigt diese Beobachtung mit einer
ausgewogenen Mixtur aus summenden und brummenden Klangschleifen, hypnotischem
Beat und dezenter, aber sehr effektiv platzierter Melodik. Dasselbe gilt für
die rasant inszenierte erste Single Survivalism,
die in Ausschnitten zunächst von all jenen genossen werden konnte, die
verstanden, dass sich aus einem NIN-Shirt eine Zahlenkombination herauslesen ließ,
welche sich als existierende Telefonnummer entpuppte. Auch hier kann bei aller
Brachialität keine Rede von ungefiltertem Lärmen sein. Offenbar haben Trent,
Mitproduzent und Sounddesigner Atticus Ross sowie Engineer Alan Moulder alles
daran gesetzt, die anfangs ungehemmten Klangspielereien bis zum Äußersten zu
verfeinern. Die ersten Höreindrücke jedenfalls weisen auf ein trotz aller
innovativen Ansätze sehr kompaktes und auf das Wesentliche konzentriertes Werk
hin. Die Songs fegen jeglichen Verdacht fort, die groß angelegte
Marketingkampagne im Vorfeld solle dazu dienen, heiße Luft aufwändig zu
verpacken. Year Zero - das zeigen die
bisherigen Reaktionen - bietet ausreichend Stoff für Diskussionen. Künstlerisch
wie inhaltlich. Ein schöneres Kompliment kann man einer Platte im Grunde kaum
machen. Nein. Eine Nullnummer ist dieses Album gewiss nicht. Vielleicht aber
ein mit eigener Bedeutung aufgeladenes Bindeglied zwischen Vergangenheit und
Zukunft der Nine Inch Nails. Das hängt nicht zuletzt davon ab, wie Trent Reznor
sein mit den frischen 16 Tracks etabliertes Konzept ausbauen und den eingeschlagenen
Weg der Grenzüberschreitung zwischen Fiktion und Realität weiterverfolgen wird.
www nin.com
Christoph Kutzer
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