Nur Zwei Jahre nach
der Veröffentlichung des Comeback-Albums „With Teeth“ meldet sich
Industrial-Pionier Trent Reznor mit der experimentellsten und mutigsten Platte
seiner Karriere zurück. „Year Zero“ ist der erste Teil einer verstörenden
Zukunftsvision, die auf einem albtraumhaften Soundtrack und einer mit realen
Bezügen verschmelzenden, interaktiven Story basiert. Nine Inch Nails laden ein
zu einem multimedialen Kunstwerk, das eine totalitären Regierungen, verschwörerischen
Untergrund-Bewegungen, Hightech-Drogen, surrealen Gesellschaften und
despotischen Glaubensbewegungen diktierte Welt im 2022 zeigt.
Trent im Zuge der Veröffentlichung von „With Teeth“ hast
du dein Leben ziemlich umgekrempelt. Du bist ins sonnige Kalifornien gezogen,
trenntest dich von der Last eines eigenen Plattenstudios sowie falschen
Freunden und hast - befreit von der jahrelangen Drogensucht - einen Neustart
gewagt. Wie kommt es, dass das Konzept von „Year Zero“ trotz der positiven persönlichen
Ausgangsbasis so düster und pessimistisch ausgefallen ist?
«Wenn ich ein Album schreibe, thematisiere ich immer
Dinge, die mich sehr berühren und von Herzen kommen. Dieses Mal musste ich nur
die Tageszeitungen aufschlagen, und schon hatte ich kreative Vorlagen für meine
Texte. Was mich in letzter Zeit am meisten bewegt hat, sind die wachsenden
Gefühle von Verzweiflung, Ernüchterung und Traurigkeit, mit denen US-Amerikaner
momentan täglich konfrontiert werden. Ich schreibe aus der Sicht einer Person,
die nur noch ungern die Nachrichten verfolgt, aus Angst, es könnte wieder eine
Meldung geben, bei der sie sich schämen muss, Bürger der Vereinigten Staaten zu
sein. Die Person fragt sich, ob dieses Land überhaupt noch irgendwas Positives
tut.
Ich weiß nicht, ob die Welt in den letzten fünf bis zehn
Jahren verrückter geworden ist - oder ob ich dem globalen Geschehen einfach
mehr Aufmerksamkeit schenke. Vielleicht trifft beides zu. Fakt ist, dass nicht
alle Amerikaner gleich sind. Es gibt viele vernünftig denkende US-Bürger, die
angeekelt sind von der Politik der Bush-Regierung, unserem arroganten Verhalten
gegenüber anderen Nationen, unserer Gier, die Welt so zu diktieren, wie sie
unserer Meinung nach sein soll, und dem Militär-Wahnsinn. Es ist erschreckend,
wie sich das internationale Ansehen der Staaten innerhalb weniger Jahre rapide
verschlechtert hat. Nach dem 11. September schwappte uns noch eine Welle von
weltweitem Mitgefühl entgegen, und heute ist unser Image peinlich und
beschämend. Unsere Regierung ist aus reiner Gier und unter dem Vorwand einer
dreisten Lüge in ein Land gezogen, das nichts mit den Terrorattacken zu tun
hatte, um den Daumen auf das Öl des Nahen Ostens halten und neue militärische
Knotenpunkte aufbauen zu können. Wie viele unschuldige Bürger wurden im Irak
getötet, um die sich keiner kümmert, weil ihr Schicksal vertuscht wurde? Unsere
Selbstherrlichkeit ist kaum zu ertragen.
Unsere Regierung ist verdammt clever, wenn es darum geht,
Menschen zu manipulieren. Sie biedert sich religiösen Bewegungen an und
verurteilt Abtreibungen oder homosexuelle Beziehungen, um gläubige Bürger auf
die eigene Seite zu ziehen. Ich hatte das Bedürfnis, all diese Dinge zu
kommentieren. Allerdings wollte ich das nicht stumpf und einfallslos tun, indem
ich den Namen Bush an den Pranger stelle. Mir gefiel es, den Gedanken
fortzuspinnen, wie unsere Welt ins Jahren aussehen könnte, wenn wir so weiter
machen wie bisher. Vielleicht wird eines Tages alles wirklich so sein.«
Gab es ein
Schlüsselerlebnis, mit dem das Konzept ins Rollen kam?
«Ich kann immer noch nicht fassen, wie schnell das Konzept
im Endeffekt fertig geworden ist. Schon während unserer fast anderthalb Jahre
dauernden „With Teeth“-Tour arbeitete ich ständig an Kompositionen und spielte
mit ersten inhaltlichen Ideen. Am Ende der Konzertreise im Sommer 2006 wusste
ich, wie das Album aussehen sollte, und schrieb eine Zusammenfassung meiner
Entwürfe. In den folgenden Monaten begann ich, richtige Songs zu komponieren
und mich in eine düstere Zukunftsvision zu vertiefen. Plötzlich schossen die
mir Einfälle regelrecht aus dem Kopf, und das Gesamtkonzept stand innerhalb
kurzer Zeit. Vielleicht war das rückblickend eine schlechte Idee, die
unfreiwillig meine Karriere beenden könnte, aber mir gefällt einfach der
Gedanke, dass NINE INCH NAILS zum ersten Mal mehr als reine Fiktion sein könnten.
Er macht mir auf eine positive Art Angst. Ich mag es nicht, auf Nummer sicher
zu gehen, wie ich es bei „With Teeth“ getan habe. „Year Zero“ ist anders, und
mir ist egal, ob das Album im Radio gespielt wird, gute Singles
abwirft oder unmodern klingt.«
Du hast um „Year Zero“ ein komplexes und unheimlich detailreiches
Konzept gewoben, das sich deine Fans im Internet regelrecht erarbeiten müssen.
Parallel wurden bewusst schon vor der Veröffentlichung des Albums erste Songs
ins Netz gestellt. Kapitulierst du damit vor dem nicht zu stoppenden
Filesharing-Problem und zeigst gleichzeitig den Plattenfirmen, wie man eine
neue Scheibe heutzutage clever bewerben sollte?
«Ich will die Plattenfirmen nicht verteufeln, weil ich
selber bei einer unter Vertrag bin. Aber dennoch weiß ich, dass viele Probleme
der Branche hausgemacht sind. Zunächst mal macht es mich rasend, wenn ich sehe,
wie meine eigene Arbeit ungefragt im Internet erscheint. Gleichzeitig weiß ich,
dass unter anderem die Gier der Labels und das Festhalten an veralteten
Geschäftsmodellen für diese Misere verantwortlich sind. Meiner Meinung nach
kommt es darauf an, wie man ein Produkt verkauft. Mir war klar, dass mein Album
noch vor dem Veröffentlichungstermin im Internet stehen wurde. Deswegen habe
ich die Fans schon vorab Songs hören lassen - in der Reihenfolge, die mir
richtig erschien.«
Vor ein paar Jahren hast du dich sehr negativ über
Videoclips geäußert. Du kritisiertest, dass sie die Aufmerksamkeit der Konsumenten von der Musik ablenken und
die Möglichkeit unter drücken, eigene Fantasien zu einem Song zu entwickeln.
Aber jetzt lieferst du selber ein Album ab, dessen Hintergrundstory so
mitreißend ist, dass in den NINE INCH NAILS-Foren kaum über die Musik an sich
diskutiert wird. Somit hast du genau das erreicht, was du vor einiger Zeit
bemängelt hast.
«Ich stehe immer noch zu meiner Meinung von damals. Oft
verkauft sich das Image eines Videoclips besser als die Musik selbst. Ich sehe
ein, dass man die Black Eyed Peas mit hampelnden Idioten und billigen Motiven
an den Mann bringen muss. Ansonsten würde vermutlich niemand diesen Mist
kaufen. Aber „Year Zero“ spricht für sich. Man kann das Album verstehen, ohne
das Konzept zu kennen. Ich weiß allerdings, dass ich alles andere als leichte
Kost abgeliefert habe – und dass man mindestens fünf Hördurchgänge benötigt, um
im Geräuschchaos Songs zu erkennen. Dennoch machen die Lieder mehr Sinn, wenn
man die Hintergrundstory kennt. Mit ihrer Hilfe wird das übergeordnete Konzept
verständlich, bei dem ich anfangs nicht wusste, wie ich es den Leuten näher
bringen sollte. Ich dachte über Linernotes, eine Art Kurzgeschichte und einen
Film nach, für den mir aber die nötigen Mittel fehlten. Mein Problem war, dass
ich mit „Year Zero“ den Soundtrack zu einem imaginären Film hatte, für den mir
aber die realen Bilder fehlten, um ihn den Leuten zu erklären. Als Nächstes
dachte ich über eine Hintergrundstory nach, die inhaltliche Tiefe in das Thema
bringen könnte und die helfen sollte, den Wahnsinn und die Paranoia der
Zukunftsvision real nachzuempfinden. Eine Gemeinschaft sollte die Zusammenhänge
der Story in einer Art Puzzle erarbeiten.
Das Internet-Konzept wurde nicht aus Marketing- Gründen entwickelt,
sondern mit der Ausgangsidee, dass das Album und die Geschichte eine zusammen
gehörige Einheit sind. Im Grunde ist es der Film zum Soundtrack, der auf „Year
Zero“ zu hören ist. Ausgehend von dem Gedanken, dass die Verfilmung von Büchern
oft enttäuschend ist, weil der Zuschauer bereits vorher als Leser eigene
Fantasiebilder entwickelt hat, verstreuten wir nur hier und da kleine Details
des Konzepts, die zueinander einen Bezug hatten. Die Internet Community sollte
das Puzzle ihren eigenen Vorstellungen nach zusammensetzen. Mich faszinierte
der Gedanke, die weltpolitischen Geschehnisse so zu thematisieren, dass es sich
real anfühlt. Am Ende dieses dynamischen Konzepts steht eine klare Zukunftsvision,
die einen engen Bezug zum Album hat. Momentan wird der Geschichte einfach nur
deswegen mehr Aufmerksamkeit geschenkt, weil „Year Zero“ noch nicht auf dem
Markt ist. (Zum Zeitpunkt des Interviews dauert es noch einen Monat bis zum
Release der Platte. – cs)“
Dennoch lasst sich nicht von der Hand weisen, dass dieses
Konzept auch einen pragmatischen Werbeeffekt mit sich bringt.
“Mir ist klar, dass die Geschichte wie ein
Marketing-Instrument funktioniert, aber unter diesem Gesichtspunkt habe ich sie
nicht entwickelt. Die für das Konzept verantwortliche Agentur habe ich selber
angeheuert und mit meinem eigenen Geld bezahlt. Die Story ist ein Teil des
Kunstwerks, wie bei „Taxi Driver“, wo Soundtrack und Film miteinander verbunden
sind. Nachdem ich das Konzept mit der Agentur angeleiert hatte, versuchte ich,
es meiner Plattenfirma zu erklären. Es gab Meetings, bei denen ich innerhalb kürzester
Zeit vor lauter fragenden Gesichtern stand. Genau das finde ich spannend. Es
ist toll, wenn man sich in der Story verliert und das Gesamtwerk kaum greifbar
ist.«
Schon im nächsten Jahr soll der zweite Teil des Konzepts
mit einem weiteren Album folgen. Sind die Songs schon geschrieben? Wenn ja, was
können wir erwarten?
«Die Platte ist noch nicht geschrieben. Das Schicksal
liegt quasi noch in meinen Händen. Momentan arbeite ich an ein paar Ideen.
„Year Zero“ bringt noch nicht die Auflösung. Am Ende bleiben viele Fragen
offen, aber mit dem nächsten Album möchte ich eine Lösung liefern. Wie sie
aussehen könnte und was das Endergebnis sein wird, weiß ich noch nicht. Darüber
zerbreche ich mir zurzeit den Kopf. To be continued!“
Conny Schiffbauer
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