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Jahr 2007

 

 

Rolling Stone

 

Mai 2007

 

 ARG umständlich

 

 Text: Brian Hiatt

 

 


Wie Trent Reznor das „Alternative Reality Gaming“ als Promotion-Werkzeug für das neue Nine Inch Nails-Album nutzt

Zuerst sieht es aus wie ein ganz gewöhnliches YouTube-Video: Jemand hält eine Kamera aus dem Autofenster, eine Wüstenlandschaft zieht vorbei. Aber dann donnert es plötzlich, und eine Art riesige Hand aus schwarzem Rauch greift aus dem Himmel nach unten.

Der einzige Verweis auf die Herkunft des Clips ist ein Straßenschild, das so schnell vor beisaust, dass man auf Pause klicken muss, um es lesen zu können: „i am trying to believe“. Keine Musik, keine Credits. Kein Hinweis darauf, dass dies ein Teaser für „Year Zero“ ist, das neue Album von Nine Inch Nails. Zusammen mit Dutzenden weiterer Online-Schnipsel ist dies das jüngste Beispiel für einen neuen Promotion-Dreh namens Alternative Reality Gaming (ARG). Halb Schnitzeljagd, halb Online-Game, werden diese ausgefuchsten Rätsel von einer im Hintergrund agierenden Startup-Firma namens „42 Entertainment“ kreiert. Das Ziel: Fiktion und Realität so zu verschmelzen, dass man eine neue Generation von Fans damit erreicht.

Aber sage bloß niemand „Marketing“ dazu. „Der Begriff ‚Marketing‘ frustriert mich ganz gewaltig“, hat NIN-Mastermind Trent Reznor kürzlich gebloggt. (‘Weder er noch Vertreter von „42 Entertainment“ wollten sich zu diesem Thema interviewen lassen.) „Was ihr hier neu erlebt, ist ‚year zero“, schrieb Reznor. „Das ist nicht irgendein Gimmick, der euch zum Plattenkauf be wegen soll - es ist die Kunstform. Und wir fangen gerade erst da mit an.“

„42 Entertainment“ sitzt in Pasadena und in der Bay Area, beides Kalifornien, und besteht aus einem All-Star-Team erfahrener Marketing- und Spiele- Fachleute, die früher neue Produktlinien von Procter & Gamble in den Markt gedrückt oder auch Fahrgeschäfte für Disney- land entworfen haben. ARG, glauben sie, ist der nächste Marketing-Level — und ihre wahn- witzigen Online-Kampagnen für Konzerne wie DreamWorks, Microsoft oder Disney sind bisweilen brillanter als die Produkte, um die es geht.

„Die Zielgruppe der 18- bis 35- Jährigen ist in einer Marketing- gesättigten Umgebung aufgewachsen und hat dabei wirksame Werkzeuge entwickelt, sich dem größten Teil der Marketing-Botschaften zu entziehen“, sagte 42-MitgründerJordan Weisman. „Als Faustregel gilt: Je größer das Neonschild, desto schneller rennen sie da von. Unsere Prämisse war des halb: Statt zu brüllen gehen wir den entgegengesetzten Weg und flüstern.“

Das seltsame Leben von „Year Zero“ begann im Februar, als ein Fan bemerkte, dass sich auf dem Rücken seines NIN-Konzert Shirts der Satz „i am trying to believe“ verbarg. Kurz gegoogelt, führte der Satz zu einer Website gleichen Namens. Die Site warnt vor Parepin, einer angeblich vom Staat ins Trinkwasser geleiteten Droge, die bewirken kann, dass man Dinge halluziniert. Etwa eine riesige Hand, die vom Himmel herabgreift. Schickt man eine  E-Mail an den Webmaster, bekommt man eine automatisch generier e Antwort mit der gegenteiligen Aussage: „Ich weiß inzwischen, dass Parepin ein völlig sicherer und effektiver Wirkstoff ist. Ich trinke das Wasser. Das sollten auch Sie.“

Eine nach der anderen tauchten immer mehr kryptische Websites auf, die sich mit der Verschwörung befassten. Mit Telefonnummern, die man anrufen soll, mit Abhörtranskripten, die es zu dechiffrieren gilt. Bei NIN-Konzerten in Portugal und England fanden Fans in den Toilettenkabinen USB-Speichersticks mit Songs aus „Year Zero“. So viel Neues erscheint ständig, dass es schon einen Wikipedia-Eintrag gibt und Foren, in denen sich NIN-Nerds zusammentun, um den Anschluss nicht zu verlieren.

„Die Fans werden in einem Maß mit- einbezogen, dass sie wirklich das Gefühl haben können, wichtiger Teil des Album Marketings zu sein“, sagt Mike Swindley, der 24-jährige Administrator der NIN Fansite „Echoing The Sound“. „Ich komme mir vor, als wär ich wieder 15.“

Für Reznor, schon sein Leben lang Computerspieler, ist genau das die Idee. Als Kind fand er Videospiele so faszinierend, dass er einmal die Rückwand einer Asteroids-Konsole aufstemmte, nur um einen Blick hineinzuwerfen. Seither hat er für das Spiel „Quake“ den Soundtrack komponiert - und die Aufnahmen zum NIN-Album „The Fragile“ unterbrochen, um „Halo“ gleich am Erscheinungstag zu spielen. „Es hat mich ein paar Tage zurückgeworfen“, sagte er damals. „Aber was sind schon ein paar Tage, wenn es was Wichtiges zu tun gibt?“

ARG, die neue Promo-Taktik, könnte aber auch ins allzu Esoterische abdriften, warnen einige seiner Pioniere. „Das Schwierigste ist, die Balance zwischen Zugänglichkeit und Kompliziertheit zu wahren“, sagt Mike Benson, stellvertretender Marketingchef des Senders ABC, der im vergangenen Jahr das Online Garne „The Lost Experience“ startete, um seine Erfolgsserie „Lost“ zu promoten.

„Ein ARG-Gesetz ist seit jeher, nicht jeden wissen zu lassen, dass man ARG einsetzt“, erklärt Jesse Alexander, einer der Produzenten der NBC-Serie „Heroes“, für die gerade ein Spiel entwickelt wird. „Ich glaube, das hält viele Leute vom Spielen ab. Von daher wollen wir die Zugangsschwelle bewusst senken und kein Geheimnis aus unserem Spiel machen - damit nicht nur die notorischen Spielefreaks mitmachen.“

Die Online-Hysteryum „Year Zero“ von Nine Inch Nails nimmt jedoch weiter zu. Trent Reznor hat bewiesen, dass es vielleicht schon Erfolg genug ist, die notorischen Musikfreaks zu aktivieren.

BRIAN HIATT

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