Wie Trent Reznor das „Alternative Reality Gaming“ als
Promotion-Werkzeug für das neue Nine Inch Nails-Album nutzt
Zuerst sieht es aus wie ein ganz
gewöhnliches YouTube-Video: Jemand hält eine Kamera aus dem Autofenster, eine
Wüstenlandschaft zieht vorbei. Aber dann donnert es plötzlich, und eine Art
riesige Hand aus schwarzem Rauch greift aus dem Himmel nach unten.
Der einzige Verweis auf die
Herkunft des Clips ist ein Straßenschild, das so schnell vor beisaust, dass man
auf Pause klicken muss, um es lesen zu können: „i am trying to believe“. Keine
Musik, keine Credits. Kein Hinweis darauf, dass dies ein Teaser für „Year Zero“
ist, das neue Album von Nine Inch Nails. Zusammen mit Dutzenden weiterer
Online-Schnipsel ist dies das jüngste Beispiel für einen neuen Promotion-Dreh
namens Alternative Reality Gaming (ARG). Halb Schnitzeljagd, halb Online-Game,
werden diese ausgefuchsten Rätsel von einer im Hintergrund agierenden
Startup-Firma namens „42 Entertainment“ kreiert. Das Ziel: Fiktion und Realität
so zu verschmelzen, dass man eine neue Generation von Fans damit erreicht.
Aber sage bloß niemand
„Marketing“ dazu. „Der Begriff ‚Marketing‘ frustriert mich ganz gewaltig“, hat
NIN-Mastermind Trent Reznor kürzlich gebloggt. (‘Weder er noch Vertreter von
„42 Entertainment“ wollten sich zu diesem Thema interviewen lassen.) „Was ihr
hier neu erlebt, ist ‚year zero“, schrieb Reznor. „Das ist nicht irgendein
Gimmick, der euch zum Plattenkauf be wegen soll - es ist die Kunstform. Und wir
fangen gerade erst da mit an.“
„42 Entertainment“ sitzt in
Pasadena und in der Bay Area, beides Kalifornien, und besteht aus einem
All-Star-Team erfahrener Marketing- und Spiele- Fachleute, die früher neue Produktlinien
von Procter & Gamble in den Markt gedrückt oder auch Fahrgeschäfte für
Disney- land entworfen haben. ARG, glauben sie, ist der nächste Marketing-Level
— und ihre wahn- witzigen Online-Kampagnen für Konzerne wie DreamWorks,
Microsoft oder Disney sind bisweilen brillanter als die Produkte, um die es
geht.
„Die Zielgruppe der 18- bis 35-
Jährigen ist in einer Marketing- gesättigten Umgebung aufgewachsen und hat
dabei wirksame Werkzeuge entwickelt, sich dem größten Teil der
Marketing-Botschaften zu entziehen“, sagte 42-MitgründerJordan Weisman. „Als
Faustregel gilt: Je größer das Neonschild, desto schneller rennen sie da von.
Unsere Prämisse war des halb: Statt zu brüllen gehen wir den entgegengesetzten
Weg und flüstern.“
Das seltsame Leben von „Year
Zero“ begann im Februar, als ein Fan bemerkte, dass sich auf dem Rücken seines
NIN-Konzert Shirts der Satz „i am trying to believe“ verbarg. Kurz gegoogelt,
führte der Satz zu einer Website gleichen Namens. Die Site warnt vor Parepin,
einer angeblich vom Staat ins Trinkwasser geleiteten Droge, die bewirken kann,
dass man Dinge halluziniert. Etwa eine riesige Hand, die vom Himmel
herabgreift. Schickt man eine E-Mail an
den Webmaster, bekommt man eine automatisch generier e Antwort mit der
gegenteiligen Aussage: „Ich weiß inzwischen, dass Parepin ein völlig sicherer
und effektiver Wirkstoff ist. Ich trinke das Wasser. Das sollten auch Sie.“
Eine nach der anderen tauchten
immer mehr kryptische Websites auf, die sich mit der Verschwörung befassten.
Mit Telefonnummern, die man anrufen soll, mit Abhörtranskripten, die es zu
dechiffrieren gilt. Bei NIN-Konzerten in Portugal und England fanden Fans in
den Toilettenkabinen USB-Speichersticks mit Songs aus „Year Zero“. So viel
Neues erscheint ständig, dass es schon einen Wikipedia-Eintrag gibt und Foren,
in denen sich NIN-Nerds zusammentun, um den Anschluss nicht zu verlieren.
„Die Fans werden in einem Maß
mit- einbezogen, dass sie wirklich das Gefühl haben können, wichtiger Teil des
Album Marketings zu sein“, sagt Mike Swindley, der 24-jährige Administrator der
NIN Fansite „Echoing The Sound“. „Ich komme mir vor, als wär ich wieder 15.“
Für Reznor, schon sein Leben lang
Computerspieler, ist genau das die Idee. Als Kind fand er Videospiele so
faszinierend, dass er einmal die Rückwand einer Asteroids-Konsole aufstemmte,
nur um einen Blick hineinzuwerfen. Seither hat er für das Spiel „Quake“ den
Soundtrack komponiert - und die Aufnahmen zum NIN-Album „The Fragile“
unterbrochen, um „Halo“ gleich am Erscheinungstag zu spielen. „Es hat mich ein
paar Tage zurückgeworfen“, sagte er damals. „Aber was sind schon ein paar Tage,
wenn es was Wichtiges zu tun gibt?“
ARG, die neue Promo-Taktik,
könnte aber auch ins allzu Esoterische abdriften, warnen einige seiner
Pioniere. „Das Schwierigste ist, die Balance zwischen Zugänglichkeit und
Kompliziertheit zu wahren“, sagt Mike Benson, stellvertretender Marketingchef
des Senders ABC, der im vergangenen Jahr das Online Garne „The Lost Experience“
startete, um seine Erfolgsserie „Lost“ zu promoten.
„Ein ARG-Gesetz ist seit jeher,
nicht jeden wissen zu lassen, dass man ARG einsetzt“, erklärt Jesse Alexander,
einer der Produzenten der NBC-Serie „Heroes“, für die gerade ein Spiel
entwickelt wird. „Ich glaube, das hält viele Leute vom Spielen ab. Von daher
wollen wir die Zugangsschwelle bewusst senken und kein Geheimnis aus unserem
Spiel machen - damit nicht nur die notorischen Spielefreaks mitmachen.“
Die Online-Hysteryum „Year Zero“ von
Nine Inch Nails nimmt jedoch weiter zu. Trent Reznor hat bewiesen, dass es
vielleicht schon Erfolg genug ist, die notorischen Musikfreaks zu aktivieren.
BRIAN HIATT
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