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Jahr 2007

 

 

Slam

 

Mai 2007

 

 Another Version Of The Truth

 

 Text: Norbert Specht

 

 

Seit dem 12. Februar geistern Ausläufer des neuen NINE INCH NAILS Album „Year Zero“ und dem dystopischen Konzept dahinter durch das Internet. Durch eine Vielzahl von codierten Botschaften, die sich in Form von hervorgehobenen Buchstaben auf Band T-Shirts oder als weißes Rauschen zusammen mit neuen Songs auf verschiedenen USB-Sticks befanden, die vermeintlich auf Toiletten während Konzerten der laufenden Tour der Band gefunden wurden, ist der Vorhang für das fünfte NIN-Studio- Album gefallen. Nur knapp zwei Jahre nach „With Teeth“ kommt Trent Reznor ungewöhnlich schnell mit neuen Songs plus einer detaillierten Zukunftsvision im Stil von 1984 daher. Und wie seine Art ist, gestaltet er den Zugang zu seiner Vorstellung von einer möglichen und nicht so unwahrscheinlichen Zukunft nicht gerade leicht. Schnipsel für Schnipsel tauchen ständig neue Hinweise im Internet auf und führen zu immer neuen Seite die wiederum neue Details über den Zustand der Welt in fünfzehn Jahren, dem Jahr „0000“, offenbaren. Was am Anfang wirkt wie eine gut ausgeklügelte Marketing—Strategie, erweist sich beim genaueren Hinsehen doch als schlüssiges Konzept und irgendwie auch als multimediales Gesamtkunstwerk, von dem „Year Zero“ nur der erste Teil und der Ausgang nach wie vor unbekannt ist.

Also zurück auf Anfang. Der erste Hinweis waren hervorgehobene Buchstaben auf dem Rückenaufdruck eines T-Shirts, das zu Beginn der gerade abgelaufenen Europa-Tour am Merchandise-Stand zu haben war. Die hervorgehobenen Buchstaben zusammen ergaben den Satz „ i am trying to believe“ (iamtryingtobelieve) welcher mit einem „.com“ versehen zu der ersten von einigen Webseiten führte, auf denen man einen Einblick in die Zustände der Welt bekommt, wie sie laut Trent Reznor in fünfzehn Jahren aussehen könnten. Inhalt dieser Seite ist die Berichterstattung über eine Substanz, die Parepin heißt, halb Anti-Depressiva und halb Anti-Biotikum ist und von der Regierung der Vereinigten Staaten ins Trinkwasser der USA gemischt wird. Angeblich, um einer Gefahr durch Bio-Terrorismus vorzubeugen, da Parepin die Bevölkerung resistent gegen solche Anschläge machen soll. Jedoch wird durch die Beschreibung der Wirkung von Parepin deutlich, dass dieses Argument nur vorgeschoben ist, und die Droge eher dazu dient, die Bevölkerung ruhig zu stellen. Gefühle wie Trauer, Wut und Unzufriedenheit, aber auch Freude, Verlangen und Glück werden eingedämmt und die Menschen laufen in einer „Egal“-Stimmung umher, machen was ihnen gesagt wird und stellen keine Fragen.

Stück für Stück tauchten weitere Seiten im Netz auf, die ein immer deutlicheres Bild der politischen und gesellschaftlichen Situation im Jahr „0000“ zeichnen. Die Regierung der USA ist keine gewählte, demokratisch legitimierte Regierung, sondern autoritär. In alle Belange des Alltags wird durch staatliche Institutionen eingegriffen. Persönliche Freiheit ist nur noch eine Worthülse, und freie Entfaltung steht unter Strafe, solange sie nicht in den vorgegebenen, engen Bahnen verläuft. Überwachung und Propaganda ist Normalität und Polizei-Gewalt nicht fremd. Die Bevölkerung wird ständig in Angst gehalten vor Terroristen und subversiven Kräften, und grundsätzlich gilt.,, Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.“

Ausgangspunkt ist eine Reihe von islamistisch motivierten Anschlägen auf die Oskar-Verleihung im Jahr 2009, die dann auf ganz L.A. ausgeweitet wird, bei der Terroristen so genannte „ Dirty Bombs“ zünden (also mit radioaktiven Material versetzte Bomben) und L.A. aufgrund dessen letztendlich evakuiert werden muss. Die weiterhin herrschenden Konflikte im Nahen Osten und wahrscheinlich die Vergeltung für die Anschläge in L.A. werden mit einem Atom-Bomben Abwurf auf Teheran gelöst. Es herrscht eine aufgeheizte religiöse Stimmung, die von der christlichen Rechten und der Regierung der USA geschürt und geleitet wird, und die christliche Religion und die darin enthaltenen Werte, die es zu schützen und durchzusetzen gilt, dienen als Legitimation, um Gewalt auszuüben. Übernatürliche Erfahrungen durch das erscheinen der „ Presence“ sind allgemein akzeptiert, und es ist offensichtlich, dass Armageddon vor der Tür steht. So das Szenario grob umrissen.

Trotz des offensichtlich fiktiven Charakters dieser Zukunftsvision sind Parallelen zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Zuständen in der westlichen Welt im Allgemeinen und der USA im Besonderen schwer von der Hand zu weisen. Und so düster diese Beschreibung der Zukunft auch gemalt sein mag, so unwahrscheinlich klingt es nicht. Man muss nur mal die Nachrichten anmachen, zuhören und weiter denken. So ähnlich begann auch die Idee zu „Year Zero“:

„Als ich mich hinsetzte und meine größten Zukunftsängste auflistete, habe ich gemerkt, dass etwas Neues auf dieser Liste aufgetaucht ist, und zwar viel weiter oben als andere Sachen, die wohl auf dieser Liste vor fünf oder zehn Jahren gestanden hätten. Es war irgendwie immer mein Problem, dass ich mich selbst bekämpft habe, und das war eine strikt innere Angelegenheit und auch die Grundlage zu diesem ‘lch-alleine-gegen-die-Welt‘-Zustand und dem Gefühl, nirgendwo richtig hinzugehören. Was jetzt aber an dessen Stelle getreten wat ist eine reale Zukunftsangst. Als US-Bürger habe ich mich natürlich mit der Frage auseinandergesetzt, wo das alles hinführen soll. Wie konnte so ein Typ ins Präsidentenamt gewählt werden? Ich bin auch beschämt durch das Verhalten, das unser Land gegenüber der Welt an den Tag legt. Die Missachtung der Ökologie, der Menschen auf der Welt, menschlichen Lebens im Allgemeinen und dazu unsere arroganten Haltung, die ausdrückt: ‘Es läuft so, wie wir es wollen, oder es läuft gar nicht!‘ Einfach dieser Zustand von Wahnsinn, auf den wir zusteuern. Das ständige Verringern von persönlichen Freiheiten und das Installieren einer Propaganda- Maschinerie. Ich meine, erst hieß das Ziel Irak. Die hatten zwar nichts mit 9/11 zu tun, aber ‚die holen wir uns ‘ Und auf einmal heißt das Ziel Iran. Es ist einfach offensichtlich, dass es keine gesunde Zukunft ist, auf die wir zusteuern, wenn das so weitergeht.“

Mit diesen Worten beschreibt NIN-Mastermind Trent Reznor im Interview mit dem SLAM die Motivation für das neue Album und das multimediale Konstrukt dazu. Nachdem er bisher hauptsächlich den Kampf mit seinen inneren Dämonen vertont hat, scheint es, als sei nun die Zeit gekommen, den Fokus von innen nach außen zu verlegen. Das hat wahrscheinlich auch viel damit zu tun, dass er 2001 endlich seine Suchterkrankungen in den Griff gekriegt hat und auf „With Teeth“ mit dieser abschließen konnte. Außerdem hat ihm das Arbeiten an der letzten Platte wirklich gut getan und sein Selbstbewusst sein als Künstler gestärkt:

„Mein Gehirn war eine ganze Zeit lang ausgeschaltet. Aber 2001 bin ich clean geworden und genesen. Mein erster Vorstoß zurück in die Musik nach dieser Zeit war,, With Teeth“, und auf einmal waren die Schalter umgelegt. Gleich nach der Veröffentlichung gingen wir auf Tout und ich habe versucht, mir die Möglichkeiten zu schaffen, während der Tour an neuer Musik zu arbeiten. Ich habe das vorher nie hinbekommen, weil ich entweder abgelenkt oder wahrscheinlich zugedröhnt war Außerdem ist es mittlerweile möglich, dass ich meinen Laptop so einrichte, dass ich damit arbeiten kann, wie ich es gewohnt bin, und er nicht mehr nur eine beschissene Version meines Studios ist. Diesmal konnte ich alles umsetzen wie ich es wollte, egal, ob ich im Hotelzimmer wat hinten im Bus gesessen oder auf den Soundcheck gewartet habe. So hat es auch Spaß gemacht, an einem Beat zu basteln oder irgendwas zu konstruieren.“

Und eben auf Tour begann auch die Arbeit an „Year Zero“. Ausgestattet mit allem Spielzeug, das ein Perfektionist wie Trent Reznor zu brauchen scheint. Und ohne Drogen gab es keine Ablenkung auf Tour und auch nichts Besseres zu tun, als sich gleich wieder an neuen Dingen auszuprobieren. Dabei war es gar nicht die Absicht, sich an die Arbeit für ein neues Album zu machen. Die Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten an sich, war das eigentliche Ziel. Aber manchmal ist die Inspiration eben schneller als die Planung:

„Wenn ich ein neues Album angehe, funktioniert das normalerweise so, dass ich einen unbestimmten Zeitraum — das kann eine Woche sein oder auch Monate- damit verbringe, dass ich einfach rumprobiere, um herauszufinden, was mich gerade inspiriert. Zum Beispiel, als ich mit „Downward Spiral“ angefangen habe, dachte ich, dass es ein Gitarren-Album wird, also habe ich mit meiner Gitarre und echtem Schlagzeug angefangen und einfach losgelegt. Aber dann habe ich neue Sampler bekommen, und die waren viel besser als die, die ich bis dahin hatte. Also habe ich sie ausprobiert und gemerkt, was damit möglich war; und das hat mir gefallen — und auf einmal dachte ich „Scheiß auf Gitarren, wen interessieren Gitarren?“ und die Platte ist komplett anders geworden, als ich es mir am Anfang vorgestellt habe. Bei dieser Platte wusste ich nicht einmal, dass ich eine Platte mache, ich wollte nur Zeit totschlagen. Und mit Möglichkeiten, die ich durch meinen Laptop hatte, war ich in der Lage, Sounds zu erschaffen, die ziemlich Rhythmus-orientiert und im Grunde Collagen aus Loops sind. Und ich habe einen Weg gefunden, diese Loops und Sounds nicht sezieren zu müssen und sie dann wie in einem Labor wieder neu zusammensetzen, sondern sie praktisch während des Spielens mit einbauen zu können. Damit ist es mir gelungen, Beats so zu erschaffen, wie ich bisher nicht konnte und es auch vorher noch nicht gehört habe. Darauf habe ich mich dann konzentriert. Als dann letzten Sommer die Tour zu Ende ging, hatte ich eine große Sammlung von Bruchstücken, die potentielle Songs abgaben. Dazu hatte ich eine Idee davon, in welche Richtung die Platte textlich gehen sollte. Als ich dann versuchte, die einzelnen Teile und Ideen zueinander in Beziehung zu setzen, merkte ich, dass sie sich sehr gut ergänzen. Der Fokus bei „ Year Zero“ ist klar der Rhythmus. Auf jeden Fall mehr als auf „Fragile“ und mit Sicherheit auch mehr als bei,, With Teeth “, das ja ein sehr an den Rock angelehntes Album ist. Das hat mich diesmal gar nicht gereizt. Ich hatte aus der „With Teeth “-Phase noch Songs übrig, von denen ich gedacht habe, dass ich sie nutzen müsste, aber ich habe sie dann gar nicht angerührt. Mit den neuen Sachen zu arbeiten, war einfach viel aufregender.“

Und der Rhythmus ist auf „Year Zero“ wirklich bestimmend. Aber das wird nicht etwa durch fette Bässe oder vertrackte Drum-Loops gemacht, sondern eher durch sorgfältiges Schichten und Loopen vielfältigster Sounds, die dem Album eine eigenartige organische Stimmung geben. Fast so, als würde es in den verschiedensten Varianten atmen. Diese Stimmung belebt auf eine subtile Art die Beklommenheit der Texte, ohne sie dramatisch zu unterstreichen, was laut Reznor auch so gewollt war:

„Die Idee dahinter; Rhythmus als solchen auf „Year Zero“ zu einem so vordergründigen Bestandteil zu machen, war auch, die Message ein bisschen genießbarer werden zu lassen. Ich spiele mit der Tatsache, dass alles im Radio ein Club-Song ist. Alles ist okay und alle sind im Club und so weiter Und ich wollte einfach diese subversiven Ideen in etwas verstecken, zu dem man mit dem Kopf wackeln kann. Sozusagen die Verbindung von etwas Verführerischem, Verlockendem und dieser tieferen, dunklen und auch hässlichen Message Letztendlich bleibt es Unterhaltung, und wenn ich für ein paar Sekunden lang meine Reden schwinge, dann mit der Hoffnung, dass eine Handvoll Leute verstehen, worum es geht, ein paar Ideen durchdenken und hoffentlich besser darauf achten, was eigentlich passiert.“

Soweit, wie Herr Reznor hier geht, und die Musik als verführerisch und verlockend zu beschreiben, würde ich mich zwar nicht vorwagen, und die von ihm beschriebene Club-Atmosphäre stelle ich mir im Klang ebenfalls anders vor doch nichtsdestotrotz werden gewisse strukturelle Parallelen mit Songs erkennbar, die im Radio hoch und runter laufen. Denn ähnlich wie momentan sehr erfolgreiche, an den Hip-Hop angelehnte Mainstream-Produktionen (die üblichen Verdächtigen wie Gwen Stefanie oder Justin Timberlake), tragen die verwendeten Sounds nicht wirklich zur Melodieführung bei, sondern überlassen diesen Raum der Stimme. Was auch der inhaltlichen Ebene nicht schadet. Also könnte der Plan durchaus aufgehen, auch wenn oder gerade weil Trent Reznor sich nicht entblödet, zu jodeln. Musikalisch gehen NINE INCH NAILS damit in eine neue Richtung, die zwar keinen Bruch zu ihrem vorherigen Schaffen darstellt, aber dennoch beweist, dass sie nichts von ihrem Drang eingebüßt haben, neue klangliche Ideen auszuloten. Und alle, die „With Teeth“ im NINE INCH NAILS-Kontext nicht wirklich überzeugend fanden, können beruhigt sein: „Year Zero“ macht wieder deutlich, wieso Trent Reznor als Ausnahme-Künstler gehandelt wird. Über die textliche Subversivität kann ich mir an dieser Stelle kein Urteil erlauben, da ich dazu die Texte noch nicht gut genug kenne, denn so sehr er das Internet als Verbreitungsmedium für seine Ideen schätzt, so wenig will er, dass das Album vor der eigentlichen Veröffentlichung dort landet. Deshalb gab es eine Vorab-Kopie auch nur direkt im Plattenfirmen-Büro zu hören. Aber die Texte werden schon deutlich genug ausgefallen sein. Was dennoch auffiel und dann auch im Interview bestätigt wurde, war dass sich die Texte im Gegensatz zum Großteil der Internet-Seiten nicht mit der Darstellung der äußeren gesellschaftlichen und politischen Zustände auseinandersetzen, sondern eher die persönlichen Standpunkte und Gefühlswelten von verschiedenen Personen innerhalb dieses Systems beleuchten und widerspiegeln. Interessant ist, wer dabei wie zu Wort kommt.

Neben Leuten, die das totalitäre System durchschauen und die Unterdrückung unerträglich finden, bis hin zum fanatisch-religiösen und obrigkeitshörigen Christen, der nur darauf wartet, dass Armargeddon über die Welt hereinbricht und Gott endlich wieder Ordnung schafft, geht die textliche Spannweite.

Was mir zudem aufgefallen ist, als ich begann, mich mit der Dystopie um das Jahr „0000“ zu beschäftigten, war, wie das Thema Widerstand behandelt wird. In den meisten Szenarios dieser Art gibt es ja meist nur jemanden, der durch persönliche Erfahrungen und/oder Erlebnisse durch die Maschen des Systems fällt und auf einmal das System von außen beobachten kann, aber mit seiner Beobachtung und dem daraus resultierenden Wissen erstmal alleine dasteht und dann mit der Situation irgendwie umgehen muss. Vielleicht gibt es noch eine nahe stehende Person, mit der das Wissen und das Erleben der eigenen Situation geteilt werden kann, aber das war es dann auch oft schon. Nur wie organisiert sich Widerstand in so einem totalitären System, und welche Wege werden genutzt, oder besser: sind legitim, um das System zu zerschlagen, die Masse wachzurütteln und die Regierung zu stürzen? Genau diese Fragen werden auch innerhalb der Präsentation von „Year Zero“ aufgeworfen, und wieder lässt Reznor die unterschiedlichsten Menschen zu Wort kommen, um ihre jeweilige Standpunkte deutlich zu machen. Der Kern der fiktiven, virtuell geführten Diskussion ist, ob Widerstand gewalttätig gegen Menschen sein darf und sich die Widerständler damit auf die gleiche Stufe stellen, wie die Regierung, gegen die sie vorgehen, oder ob sie genau das eigentlich tun müssen, um eine Chance zu haben, etwas zu verändern, weil sonst ihre Taten nicht laut genug sprechen würden, um überhaupt gehört werden zu können. Die vorgebrachten Argumente sind zwar nicht neu, aber das Auseinandersetzen mit Widerstand und der Art und Weise, in der Widerstand geleistet werden soll, ist trotzdem ein wichtiges Element des Gesamtkunstwerks „Year Zero“ und eine gute Grundlage für weitere Diskussionen. Gerade, weil es eben keine wirklich abstrakten und undenkbaren gesellschaftlichen Zustände sind, die diesen Widerstand nötig machen. Die Kunst an sich kommt innerhalb dieses Diskurses auch nicht zu kurz.

Die Fähigkeit von Kunst, Fragen aufzuwerfen, aber auch die Möglichkeit, durch das Nachaußen strahlen von Kunst Menschen das lähmende Gefühl von Machtlosigkeit zu nehmen, das einhergeht mit dem in totalitären Systemen geschaffenen Gefühl von der Isolation des Individuums und der damit fehlenden Plattform, sich zu artikulieren und damit Gleichgesinnte zu finden, wird thematisiert. Eine gute Gelegenheit, zu fragen, wie Herr Reznor sich in so einem System verhalten würde:

„Okay um den fiktiven Part wegzulassen: Lass uns annehmen, ich bin ich, so alt wie ich jetzt bin, 15 Jahre in der Zukunft in diesem Szenario. Wenn ich merke, dass meine Stimme nicht mehr zählt, ich mundtot gemacht werde und keine Möglichkeit mehr habe, mich auszudrücken, weil Kunst über wacht wird, bewilligt werden muss und zensiert wird, und wenn das Land, das auf Freiheit begründet wurde, nicht mehr frei ist, sondern von Leuten regiert wird, die diktieren, was passiert, würde ich trotzdem einen Weg finden, weiter zu machen. Wenn ich damit das Gesetz breche, breche ich eben das Gesetz. Aber ich würde weiter machen, und meine Musik würde politischer werden, und ich glaube, es wäre meine Pflicht, das zu tun.“

Aber vielleicht braucht man die Frage gar nicht unbedingt im Konjunktiv zu stellen. Angesichts der Richtung, die die politische und gesellschaftliche Situation gerade nimmt, kann man „Year Zero“ in seiner Komplexität und seinen Parallelen zu reell existierenden, politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten schon jetzt als Akt des Widerstandes verstehen. Natürlich vor dem Hintergrund, dass Kunst die Aufmerksamkeit der Menschen auf bestimmte Tatsachen lenken und nicht direkt Regierungen stürzen will.

„Es war ein ziemliches Risiko, in diese Richtung zu gehen, denn es ist eine ziemliche Veränderung zu dem, was ich vorher gemacht habe, und könnte sich auch als Fehler für NINE INCH NAILS herausstellen. Aber an dem Punkt, an dem ich jetzt mit meinem Leben bin, hat es sich für mich als das moralisch Richtige angefühlt. Das moralisch Richtige für mich als Künstler Und es hat sich ehrlich angefühlt, weil ich diese Ängste wirklich habe. Und wenn ich moralisch richtig sage, meine ich ... (stockt) Ich denke, ein wichtiger Aspekt oder gar der wichtigste Punkt, damit so etwas (das vorgestellte Zukunftsszenario; Anm. d. Verf.) nicht passiert, ist, dass mehr Menschen darauf achten, was gerade passiert. Ich sage nicht, wer gewählt werden soll und wer nicht. Niemand will belehrt werden, und ich möchte kein Prediger sein. Aber ich denke, dass viele der Details der Geschichte, die jetzt im Netz publik werden und von Leuten gefunden werden - z.B. Aufnahmen, die erschrecken, oder Web-Sites, die zeigen, dass diese Sachen wirklich passieren -‚ sich in der Realität bereits entwickeln, und es gibt nur ein paar Details, die wirklich nach Science-Fiction aussehen.

Als Amerikanet aber sicherlich auch in der westlichen Welt außerhalb Amerikas, wird man darauf abgerichtet, sich mit den Gegebenheiten nicht wirklich auseinanderzusetzen, sondern zu tun, was einem gesagt wird. Wenn die Regierung sagt, dass man am Flughafen die Schuhe ausziehen soll, weil man ja sonst durch eine Schuhbombe in die Luft gesprengt werden kann, zieht man halt seine Schuhe aus. Oder wenn man aufgefordert wird, die eigenen Truppen zu unterstützen, wenn die ausrücken, um irgendein Land zu besetzen ... - mit der Argumentation, dadurch für mehr Sicherheit zu sorgen: „Du willst doch in Sicherheit leben?“; „Klar will ich“; „Dann unterstütze deine Armee!“ Besonders aber: „Stimmt für mich, denn wenn ihr nicht für mich stimmt, dann stimmt ihr für die Terroristen, und die Terroristen hassen die Freiheit!“ Das ist eine meiner Lieblingszitate: „Die Terroristen hassen Freiheit!“ Was für ein absurdes Argument...“

Gerade die Frage nach der gesellschaftlichen Rolle und die angesprochene moralische Verpflichtung des Künstlers an sich scheint Trent Reznor sehr am Herzen zu liegen. Das wird zu nicht zuletzt dadurch deutlich, dass er nicht müde wird, aktuelle Musiktrends zu kritisieren. Auch der Strukturen hinter den Trends ist er sich mehr als bewusst, und einmal darauf angesprochen, fällt es ihm schwer, sich zu zügeln:

„Für mich sieht es so aus ... und das ist etwas, mit dem ich Probleme habe - aber ich sage dir was: Ich bin jetzt 41, ich habe keine Ahnung, wie ich so alt geworden bin. Ich bin halt eines Tages aufgewacht und war älter; als ich dachte, dass ich wäre. (lacht) Es ist schwer für mich, objektiv zu sein, wenn es um mich geht, denn ich stecke nun mal in mir drin, und wenn ich nach draußen sehe, bin ich mir bewusst, dass mein Blick auf das Außen verzerrt ist. Aber verglichen mit den Neunzigern, in denen ich bekannt geworden bin, hat sich an der Rolle eines Rockmusikers eine Menge verändert. Wenn Budweiser 1990 gefragt hätte, ob sie einen Song für ihre Werbung verwenden dürfen, hätte niemand darüber nachgedacht. Es war ein Tabu, und wenn es trotzdem jemand gemacht hätte, wäre er einfach nur ausgelacht worden. 1999 sah die Sache ganz anders aus; wenn da Budweiser gekommen wäre; kein Problem. Besser noch, man hätte gefragt, ob sie nicht noch die Tour sponsern wollen oder ob man in ihrem Werbe-Spot auftreten darf oder ob sie das Musik-Video bezahlen, dafür würde im Video nur Budweiser getrunken. Irgendwann war das okay Die SONIC YOUTHS dieser Welt sind still geworden, und die MOBYS dieser Welt wurden akzeptiert. Das alles hängt damit zusammen, und ich versuche, das kurz zu halten, denn ich könnte noch stundenlang weitermachen, dass Plattenfirmen nicht mehr nur Plattenfirmen sind. Die kleinen, unabhängigen Labels wurden von großen Plattenfirmen gekauft, und die gehören mittlerweile Konzernen, die von Aktionären geleitet werden. Daraus resultiert, dass die Mitarbeiter in diesen Plattenfirmen nur noch Bands unter Vertrag nehmen, mit denen wirklich Geld verdient werden kann. Das bedeutet, dass BRITNEY SPEARS wichtiger wird als NINE INCH NAILS, weil sie im laufenden Quartal mehr Geld eingebracht hat. Das führt dazu, dass Bands sich immer weniger von einander unterscheiden. Irgendwie hat sich auch die Wertung verschoben. Es interessiert nicht mehr; ob du eine gute Platte gemacht hast, sondern nur ob sie sich gut verkauft. Eine Platte, die sich gut verkauft, ist in so einem Wertsystem eine gute Platte, selbst wenn sie Scheiße klingt. Und wenn eine Band eine interessante Platte raus bringt, die sich aber nicht so gut verkauft, werden sie dafür bestraft. Die Labels, die solche Bands früher unterstützt und aufgebaut hätten, gibt es nicht mehr. Heute will jeder einfach sofortigen Erfolg. Leute werden zu Stars, weil sie auf MTV süß aussehen, mit anderen süßen Leuten ausgehen und sich mit denen vor angesagten Restaurants fotografieren lassen. Scheiß auf diesen ganzen Celebrity-Mist! Hat dieser jemand eine Platte gemacht, die irgendjemanden interessiert? Nein! Hat er eine Platte gemacht, an die sich in fünf oder gar in zwei Jahren noch jemand erinnern wird? Nein! Es ist einfach Pop-Fluff, der durch Marketing als etwas von Bedeutung dargestellt wird.

Ich habe nichts gegen Justin Timberlake persönlich, ich kenne ihn nicht, aber war er nicht der Typ mit den Schamharren auf dem Kopf, der vor fünf Jahren bei N‘SYNC gesungen hat, zusammen mit ein paar anderen Gestalten, denen man gerne mal in den Arsch getreten hätte? Und jetzt? Jetzt ist er schwarz und der Retter des Pop. Wie ist das passiert? Dieser Typ hat nichts Interessantes zu erzählen. Er mag ein guter Mensch sein, aber er hat nichts zu sagen. Er ist kein Künstler; er ist ein Produkt und soll sich gut verkaufen. Und ich bin mir sicher; er verkauft sich gut. Aber das hat für mich nichts mit Rock zu tun oder mit Kunst. Ich will etwas, das ehrlich ist, Ecken und Kanten hat und wobei man das Gefühl hat, es kommt aus dem Herzen von jemandem. Heutzutage wird uns doch gesagt, was wir mögen sollen. Vor ein paar Jahren wurden wir gezwungen, die STROKES zu mögen, und vor einer Weile traten FRANZ FERDINAND an, um die Welt zu retten. Und wo sind sie jetzt? Sie haben eine schlechte zweite Platte gemacht und auf einmal wurde es offensichtlich, dass sie wohl doch nicht so gut sind. Vielleicht waren sie ja nie wirklich gut und es wurde uns nur eingeredet, dass wir sie mögen müssen, um cool zu sein. Aber es ist immer Raum für echte und bedeutende Kunst, und die wird von echten Leuten gemacht. Sie ist spürbar und wird nicht von Plattenfirmen gestaltet und uns dann so weit in den Arsch gesteckt, bis sie uns zum Hals raushängt.

ARCADE FIRE ist ein gutes Beispiel für eine Band, die wie aus dem Nichts kam und eine wichtige und gute Band ist. Die sind nach oben gekommen, weil die Leute sie mögen, und nicht, weil da ein süßer Typ mitspielt, sie ein lustiges Video hatten oder weil sie der NME zum nächsten großen Ding gemacht hat, zwei Wochen, bevor ihr Demo aufgenommen wurde.“

Natürlich ist es immer schwierig mit der Kunst und dem Spagat zwischen dem Anspruch darauf, ein neues oder geschärftes Bewusstsein zu schaffen für politische und gesellschaftliche Missstände, und der dennoch irgendwie vordergründigen Funktion, zu unterhalten. Und gerade, wenn etwas so Ambitioniertes wie eben „Year Zero“ daherkommt, das versucht, auf mehrere Ebenen verteilt ein komplexes, zusammengehöriges Gesamtkunstwerk zu bilden. Aber bisher ist es wirklich schlüssig und clever inszeniert, in dem es sich nur Stück für Stück offenbart und damit die Leute hungrig macht auf das, was noch kommt. Dadurch werden sie dazu angehalten, sich mit den Inhalten auseinanderzusetzen - anstatt das Werk in seiner Gesamtheit auf die Öffentlichkeit loszulassen und damit jeden durch seine Komplexität und dem schieren Volumen an Information zu erschlagen. Auch die Art der Präsentation ist wirklich beeindruckend, mit der Verteilung der äußeren Ebene auf das Internet und der inneren auf die Musik. Beide Medien werden dabei wirklich ausgereizt und setzen damit die jeweilige Ebene perfekt in Szene. Und durch das sich Beziehen der beiden Ebenen aufeinander wird eine wirklich erlebbare Einheit geschaffen. Aber wie schon erwähnt, funktioniert das Konzept auch als Marketingstrategie wunderbar, weil es eben die Aufmerksamkeit zieht und ein inhaltliches Konstrukt schafft, dass das Album als zentralen Kern hat und es damit fast unverzichtbar ist, sich „Year Zero“ nicht zuzulegen, wenn man einmal drinsteckt. Trent Reznor aber weist den Ansatz, dass es sich um eine Marketingstrategie handelt, deutlich von sich:

„Der Begriff „Marketing“ ist schon ziemlich ein frustrierender im Moment für mich. Was für jeden gerade erlebbar wird, IST,, Year Zero“. Es ist kein Versuch, jemanden dazu zu kriegen, sich die Platte zu kaufen, es IST Teil des Ganzen ... und wir fangen gerade erst an. Ich hoffe, ihr genießt es.“

Und es scheint, als würden neben Internet und Musik noch mehr Ebenen aufgemacht, die das Gesamtwerk „Year Zero“ komplettieren sollen. Laut einer Meldung im Kerrang!-Magazin befindet sich Reznor mittlerweile in Verhandlungen, um einen Film zu verwirklichen, der im „Year Zero-Kontext spielen soll, und das nächste Album wird wohl die nächste Stufe in der Entwicklung des Konzeptes spielen. Ist bereits für nächstes Jahr angekündigt. Bleibt nur zu hoffen, dass sich der NIN-Kopf in den ganzen Projekten nicht verzettelt und damit am Ende sein eigenes karikiert (siehe MATRIX). Aber was bisher an die Oberfläche gekommen ist, ist ein gut durchdachtes und großartig präsentiertes Konzept, um eine wirklich starke neue NINE INCH NAILS-Platte einerseits, die die Leute, die „With Teeth“ nicht sonderlich gelungen fanden, mit Sicherheit versöhnen wird, und andererseits ein Ausblick auf ein Gesamtkunstwerk, dass ohne Frage das ambitionierteste ist, das Trent Reznor bisher angegangen ist. Es bleibt definitiv spannend, zu verfolgen, wie es sich in seiner Gesamtheit entfalten wird.

www.nin.com

Norbert Specht

 

Extra Kasten: Internet 1

Es ist natürlich absolut nicht möglich, das Konzept von „Year Zero“, so wie es sich im Internet präsentiert, hier auch nur annähernd gleichwertig darzustellen. Deshalb sei an dieser Stelle auf folgende Wikipedia-Seite verwiesen:

http://en. wi kipedia. org/wiki/Year_Zero_(album)

Diese Seite sammelt alle Informationen zu „Year Zero“, mit einer vollständigen Link-Liste zu allen dazugehörigen Internet-Seiten, Audio-Clips und Angaben zur Entstehung sowie den Aufnahmen bzw. der Besetzung bei den Aufnahmen. Diese Seite wird ständig aktualisiert und ist damit sehr zu empfehlen als Startpunkt, um in die Welt in fünfzehn Jahren, wie sie sich TRENT REZNOR vorstellt, einzutauchen.

Außerdem zu empfehlen ist: www.yearzero.de

Dort gibt es eine Einführung in Deutsch in das Zukunftsszenario. Und als Tipp: Die Texte auf den zu „Year Zero“ gestalteten Seiten sind oft schwer zu lesen, weil die Schrift verzerrt ist, aber wenn man die Schrift markiert, wird die Verzerrung der Texte aufgehoben. Das geht aber leider nicht bei allen Seiten.

Extra Kasten: Internet 2

Dank der Video-Portale wie „Youtube“ ist eine Vielzahl an Interview-Mitschnitten mit Trent Reznor im Netz verfügbar und deckt die gesamte Spanne seiner Karriere ab. Die meisten dieser Mitschnitte sind wirklich informativ und zum Teil auch sehr unterhaltsam. Auf jeden Fall kann die Person Trent Reznor auf diesem Weg für jeden besser erschlossen werden, und auch der Zugang, den er zu NINE INCH NAILS hat, und seiner Einstellung zu Kunst im Allgemeinen wird deutlich. Besonders empfehlenswert ist ein Clip, der Reznor 1985 zeigt, als er Mitglied bei den EXOTIC BIRDS war, einer wavigen Band aus Cleveland, die im regionalen Fernsehen vorgestellt wurde. Einfach „trent reznor interview“ in die Suchleiste bei „Youtube“ eingeben.

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