Seit dem 12. Februar geistern Ausläufer des neuen NINE
INCH NAILS Album „Year Zero“ und dem dystopischen Konzept dahinter durch das
Internet. Durch eine Vielzahl von codierten Botschaften, die sich in Form von
hervorgehobenen Buchstaben auf Band T-Shirts oder als weißes Rauschen zusammen
mit neuen Songs auf verschiedenen USB-Sticks befanden, die vermeintlich auf
Toiletten während Konzerten der laufenden Tour der Band gefunden wurden, ist
der Vorhang für das fünfte NIN-Studio- Album gefallen. Nur knapp zwei Jahre
nach „With Teeth“ kommt Trent Reznor ungewöhnlich schnell mit neuen Songs plus
einer detaillierten Zukunftsvision im Stil von 1984 daher. Und wie seine Art
ist, gestaltet er den Zugang zu seiner Vorstellung von einer möglichen und
nicht so unwahrscheinlichen Zukunft nicht gerade leicht. Schnipsel für
Schnipsel tauchen ständig neue Hinweise im Internet auf und führen zu immer
neuen Seite die wiederum neue Details über den Zustand der Welt in fünfzehn
Jahren, dem Jahr „0000“, offenbaren. Was am Anfang wirkt wie eine gut
ausgeklügelte Marketing—Strategie, erweist sich beim genaueren Hinsehen doch
als schlüssiges Konzept und irgendwie auch als multimediales Gesamtkunstwerk,
von dem „Year Zero“ nur der erste Teil und der Ausgang nach wie vor unbekannt
ist.
Also zurück auf Anfang. Der erste Hinweis waren hervorgehobene
Buchstaben auf dem Rückenaufdruck eines T-Shirts, das zu Beginn der gerade
abgelaufenen Europa-Tour am Merchandise-Stand zu haben war. Die hervorgehobenen
Buchstaben zusammen ergaben den Satz „ i am trying to believe“ (iamtryingtobelieve)
welcher mit einem „.com“ versehen zu der ersten von einigen Webseiten führte,
auf denen man einen Einblick in die Zustände der Welt bekommt, wie sie laut
Trent Reznor in fünfzehn Jahren aussehen könnten. Inhalt dieser Seite ist die
Berichterstattung über eine Substanz, die Parepin heißt, halb Anti-Depressiva
und halb Anti-Biotikum ist und von der Regierung der Vereinigten Staaten ins
Trinkwasser der USA gemischt wird. Angeblich, um einer Gefahr durch
Bio-Terrorismus vorzubeugen, da Parepin die Bevölkerung resistent gegen solche
Anschläge machen soll. Jedoch wird durch die Beschreibung der Wirkung von
Parepin deutlich, dass dieses Argument nur vorgeschoben ist, und die Droge eher
dazu dient, die Bevölkerung ruhig zu stellen. Gefühle wie Trauer, Wut und
Unzufriedenheit, aber auch Freude, Verlangen und Glück werden eingedämmt und
die Menschen laufen in einer „Egal“-Stimmung umher, machen was ihnen gesagt
wird und stellen keine Fragen.
Stück für Stück tauchten weitere Seiten im Netz auf, die
ein immer deutlicheres Bild der politischen und gesellschaftlichen Situation im
Jahr „0000“ zeichnen. Die Regierung der USA ist keine gewählte, demokratisch
legitimierte Regierung, sondern autoritär. In alle Belange des Alltags wird
durch staatliche Institutionen eingegriffen. Persönliche Freiheit ist nur noch
eine Worthülse, und freie Entfaltung steht unter Strafe, solange sie nicht in
den vorgegebenen, engen Bahnen verläuft. Überwachung und Propaganda ist
Normalität und Polizei-Gewalt nicht fremd. Die Bevölkerung wird ständig in
Angst gehalten vor Terroristen und subversiven Kräften, und grundsätzlich
gilt.,, Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.“
Ausgangspunkt ist eine Reihe von islamistisch motivierten
Anschlägen auf die Oskar-Verleihung im Jahr 2009, die dann auf ganz L.A.
ausgeweitet wird, bei der Terroristen so genannte „ Dirty Bombs“ zünden (also
mit radioaktiven Material versetzte Bomben) und L.A. aufgrund dessen
letztendlich evakuiert werden muss. Die weiterhin herrschenden Konflikte im
Nahen Osten und wahrscheinlich die Vergeltung für die Anschläge in L.A. werden
mit einem Atom-Bomben Abwurf auf Teheran gelöst. Es herrscht eine aufgeheizte
religiöse Stimmung, die von der christlichen Rechten und der Regierung der USA
geschürt und geleitet wird, und die christliche Religion und die darin
enthaltenen Werte, die es zu schützen und durchzusetzen gilt, dienen als
Legitimation, um Gewalt auszuüben. Übernatürliche Erfahrungen durch das
erscheinen der „ Presence“ sind allgemein akzeptiert, und es ist
offensichtlich, dass Armageddon vor der Tür steht. So das Szenario grob
umrissen.
Trotz des offensichtlich fiktiven Charakters dieser
Zukunftsvision sind Parallelen zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen
Zuständen in der westlichen Welt im Allgemeinen und der USA im Besonderen
schwer von der Hand zu weisen. Und so düster diese Beschreibung der Zukunft
auch gemalt sein mag, so unwahrscheinlich klingt es nicht. Man muss nur mal die
Nachrichten anmachen, zuhören und weiter denken. So ähnlich begann auch die
Idee zu „Year Zero“:
„Als ich mich
hinsetzte und meine größten Zukunftsängste auflistete, habe ich gemerkt, dass
etwas Neues auf dieser Liste aufgetaucht ist, und zwar viel weiter oben als
andere Sachen, die wohl auf dieser Liste vor fünf oder zehn Jahren gestanden
hätten. Es war irgendwie immer mein Problem, dass ich mich selbst bekämpft
habe, und das war eine strikt innere Angelegenheit und auch die Grundlage zu
diesem ‘lch-alleine-gegen-die-Welt‘-Zustand und dem Gefühl, nirgendwo richtig
hinzugehören. Was jetzt aber an dessen Stelle getreten wat ist eine reale
Zukunftsangst. Als US-Bürger habe ich mich natürlich mit der Frage
auseinandergesetzt, wo das alles hinführen soll. Wie konnte so ein Typ ins
Präsidentenamt gewählt werden? Ich bin auch beschämt durch das Verhalten, das
unser Land gegenüber der Welt an den Tag legt. Die Missachtung der Ökologie,
der Menschen auf der Welt, menschlichen Lebens im Allgemeinen und dazu unsere
arroganten Haltung, die ausdrückt: ‘Es läuft so, wie wir es wollen, oder es
läuft gar nicht!‘ Einfach dieser Zustand von Wahnsinn, auf den wir zusteuern.
Das ständige Verringern von persönlichen Freiheiten und das Installieren einer
Propaganda- Maschinerie. Ich meine, erst hieß das Ziel Irak. Die hatten zwar
nichts mit 9/11 zu tun, aber ‚die holen wir uns ‘ Und auf einmal heißt das Ziel
Iran. Es ist einfach offensichtlich, dass es keine gesunde Zukunft ist, auf die
wir zusteuern, wenn das so weitergeht.“
Mit diesen Worten beschreibt NIN-Mastermind Trent Reznor
im Interview mit dem SLAM die Motivation für das neue Album und das
multimediale Konstrukt dazu. Nachdem er bisher hauptsächlich den Kampf mit
seinen inneren Dämonen vertont hat, scheint es, als sei nun die Zeit gekommen,
den Fokus von innen nach außen zu verlegen. Das hat wahrscheinlich auch viel
damit zu tun, dass er 2001 endlich seine Suchterkrankungen in den Griff
gekriegt hat und auf „With Teeth“ mit dieser abschließen konnte. Außerdem hat
ihm das Arbeiten an der letzten Platte wirklich gut getan und sein
Selbstbewusst sein als Künstler gestärkt:
„Mein Gehirn war
eine ganze Zeit lang ausgeschaltet. Aber 2001 bin ich clean geworden und
genesen. Mein erster Vorstoß zurück in die Musik nach dieser Zeit war,, With
Teeth“, und auf einmal waren die Schalter umgelegt. Gleich nach der
Veröffentlichung gingen wir auf Tout und ich habe versucht, mir die
Möglichkeiten zu schaffen, während der Tour an neuer Musik zu arbeiten. Ich
habe das vorher nie hinbekommen, weil ich entweder abgelenkt oder
wahrscheinlich zugedröhnt war Außerdem ist es mittlerweile möglich, dass ich
meinen Laptop so einrichte, dass ich damit arbeiten kann, wie ich es gewohnt
bin, und er nicht mehr nur eine beschissene Version meines Studios ist. Diesmal
konnte ich alles umsetzen wie ich es wollte, egal, ob ich im Hotelzimmer wat
hinten im Bus gesessen oder auf den Soundcheck gewartet habe. So hat es auch
Spaß gemacht, an einem Beat zu basteln oder irgendwas zu konstruieren.“
Und eben auf Tour begann auch die Arbeit an „Year Zero“.
Ausgestattet mit allem Spielzeug, das ein Perfektionist wie Trent Reznor zu
brauchen scheint. Und ohne Drogen gab es keine Ablenkung auf Tour und auch
nichts Besseres zu tun, als sich gleich wieder an neuen Dingen auszuprobieren.
Dabei war es gar nicht die Absicht, sich an die Arbeit für ein neues Album zu
machen. Die Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten an sich, war das
eigentliche Ziel. Aber manchmal ist die Inspiration eben schneller als die
Planung:
„Wenn ich ein neues
Album angehe, funktioniert das normalerweise so, dass ich einen unbestimmten
Zeitraum — das kann eine Woche sein oder auch Monate- damit verbringe, dass ich
einfach rumprobiere, um herauszufinden, was mich gerade inspiriert. Zum
Beispiel, als ich mit „Downward Spiral“ angefangen habe, dachte ich, dass es
ein Gitarren-Album wird, also habe ich mit meiner Gitarre und echtem Schlagzeug
angefangen und einfach losgelegt. Aber dann habe ich neue Sampler bekommen, und
die waren viel besser als die, die ich bis dahin hatte. Also habe ich sie
ausprobiert und gemerkt, was damit möglich war; und das hat mir gefallen — und
auf einmal dachte ich „Scheiß auf Gitarren, wen interessieren Gitarren?“ und
die Platte ist komplett anders geworden, als ich es mir am Anfang vorgestellt
habe. Bei dieser Platte wusste ich nicht einmal, dass ich eine Platte mache,
ich wollte nur Zeit totschlagen. Und mit Möglichkeiten, die ich durch meinen
Laptop hatte, war ich in der Lage, Sounds zu erschaffen, die ziemlich
Rhythmus-orientiert und im Grunde Collagen aus Loops sind. Und ich habe einen
Weg gefunden, diese Loops und Sounds nicht sezieren zu müssen und sie dann wie
in einem Labor wieder neu zusammensetzen, sondern sie praktisch während des
Spielens mit einbauen zu können. Damit ist es mir gelungen, Beats so zu
erschaffen, wie ich bisher nicht konnte und es auch vorher noch nicht gehört
habe. Darauf habe ich mich dann konzentriert. Als dann letzten Sommer die Tour
zu Ende ging, hatte ich eine große Sammlung von Bruchstücken, die potentielle
Songs abgaben. Dazu hatte ich eine Idee davon, in welche Richtung die Platte
textlich gehen sollte. Als ich dann versuchte, die einzelnen Teile und Ideen
zueinander in Beziehung zu setzen, merkte ich, dass sie sich sehr gut ergänzen.
Der Fokus bei „ Year Zero“ ist klar der Rhythmus. Auf jeden Fall mehr als auf
„Fragile“ und mit Sicherheit auch mehr als bei,, With Teeth “, das ja ein sehr
an den Rock angelehntes Album ist. Das hat mich diesmal gar nicht gereizt. Ich
hatte aus der „With Teeth “-Phase noch Songs übrig, von denen ich gedacht habe,
dass ich sie nutzen müsste, aber ich habe sie dann gar nicht angerührt. Mit den
neuen Sachen zu arbeiten, war einfach viel aufregender.“
Und der Rhythmus ist auf „Year Zero“ wirklich bestimmend.
Aber das wird nicht etwa durch fette Bässe oder vertrackte Drum-Loops gemacht,
sondern eher durch sorgfältiges Schichten und Loopen vielfältigster Sounds, die
dem Album eine eigenartige organische Stimmung geben. Fast so, als würde es in
den verschiedensten Varianten atmen. Diese Stimmung belebt auf eine subtile Art
die Beklommenheit der Texte, ohne sie dramatisch zu unterstreichen, was laut
Reznor auch so gewollt war:
„Die Idee dahinter;
Rhythmus als solchen auf „Year Zero“ zu einem so vordergründigen Bestandteil zu
machen, war auch, die Message ein bisschen genießbarer werden zu lassen. Ich
spiele mit der Tatsache, dass alles im Radio ein Club-Song ist. Alles ist okay
und alle sind im Club und so weiter Und ich wollte einfach diese subversiven
Ideen in etwas verstecken, zu dem man mit dem Kopf wackeln kann. Sozusagen die
Verbindung von etwas Verführerischem, Verlockendem und dieser tieferen, dunklen
und auch hässlichen Message Letztendlich bleibt es Unterhaltung, und wenn ich
für ein paar Sekunden lang meine Reden schwinge, dann mit der Hoffnung, dass
eine Handvoll Leute verstehen, worum es geht, ein paar Ideen durchdenken und
hoffentlich besser darauf achten, was eigentlich passiert.“
Soweit, wie Herr Reznor hier geht, und die Musik als
verführerisch und verlockend zu beschreiben, würde ich mich zwar nicht
vorwagen, und die von ihm beschriebene Club-Atmosphäre stelle ich mir im Klang
ebenfalls anders vor doch nichtsdestotrotz werden gewisse strukturelle
Parallelen mit Songs erkennbar, die im Radio hoch und runter laufen. Denn
ähnlich wie momentan sehr erfolgreiche, an den Hip-Hop angelehnte
Mainstream-Produktionen (die üblichen Verdächtigen wie Gwen Stefanie oder
Justin Timberlake), tragen die verwendeten Sounds nicht wirklich zur
Melodieführung bei, sondern überlassen diesen Raum der Stimme. Was auch der
inhaltlichen Ebene nicht schadet. Also könnte der Plan durchaus aufgehen, auch
wenn oder gerade weil Trent Reznor sich nicht entblödet, zu jodeln. Musikalisch
gehen NINE INCH NAILS damit in eine neue Richtung, die zwar keinen Bruch zu
ihrem vorherigen Schaffen darstellt, aber dennoch beweist, dass sie nichts von
ihrem Drang eingebüßt haben, neue klangliche Ideen auszuloten. Und alle, die
„With Teeth“ im NINE INCH NAILS-Kontext nicht wirklich überzeugend fanden, können
beruhigt sein: „Year Zero“ macht wieder deutlich, wieso Trent Reznor als
Ausnahme-Künstler gehandelt wird. Über die textliche Subversivität kann ich mir
an dieser Stelle kein Urteil erlauben, da ich dazu die Texte noch nicht gut
genug kenne, denn so sehr er das Internet als Verbreitungsmedium für seine
Ideen schätzt, so wenig will er, dass das Album vor der eigentlichen
Veröffentlichung dort landet. Deshalb gab es eine Vorab-Kopie auch nur direkt
im Plattenfirmen-Büro zu hören. Aber die Texte werden schon deutlich genug
ausgefallen sein. Was dennoch auffiel und dann auch im Interview bestätigt
wurde, war dass sich die Texte im Gegensatz zum Großteil der Internet-Seiten
nicht mit der Darstellung der äußeren gesellschaftlichen und politischen
Zustände auseinandersetzen, sondern eher die persönlichen Standpunkte und
Gefühlswelten von verschiedenen Personen innerhalb dieses Systems beleuchten
und widerspiegeln. Interessant ist, wer dabei wie zu Wort kommt.
Neben Leuten, die das totalitäre System durchschauen und
die Unterdrückung unerträglich finden, bis hin zum fanatisch-religiösen und
obrigkeitshörigen Christen, der nur darauf wartet, dass Armargeddon über die
Welt hereinbricht und Gott endlich wieder Ordnung schafft, geht die textliche
Spannweite.
Was mir zudem aufgefallen ist, als ich begann, mich mit
der Dystopie um das Jahr „0000“ zu beschäftigten, war, wie das Thema Widerstand
behandelt wird. In den meisten Szenarios dieser Art gibt es ja meist nur
jemanden, der durch persönliche Erfahrungen und/oder Erlebnisse durch die
Maschen des Systems fällt und auf einmal das System von außen beobachten kann,
aber mit seiner Beobachtung und dem daraus resultierenden Wissen erstmal
alleine dasteht und dann mit der Situation irgendwie umgehen muss. Vielleicht
gibt es noch eine nahe stehende Person, mit der das Wissen und das Erleben der
eigenen Situation geteilt werden kann, aber das war es dann auch oft schon. Nur
wie organisiert sich Widerstand in so einem totalitären System, und welche Wege
werden genutzt, oder besser: sind legitim, um das System zu zerschlagen, die
Masse wachzurütteln und die Regierung zu stürzen? Genau diese Fragen werden
auch innerhalb der Präsentation von „Year Zero“ aufgeworfen, und wieder lässt
Reznor die unterschiedlichsten Menschen zu Wort kommen, um ihre jeweilige
Standpunkte deutlich zu machen. Der Kern der fiktiven, virtuell geführten
Diskussion ist, ob Widerstand gewalttätig gegen Menschen sein darf und sich die
Widerständler damit auf die gleiche Stufe stellen, wie die Regierung, gegen die
sie vorgehen, oder ob sie genau das eigentlich tun müssen, um eine Chance zu
haben, etwas zu verändern, weil sonst ihre Taten nicht laut genug sprechen
würden, um überhaupt gehört werden zu können. Die vorgebrachten Argumente sind
zwar nicht neu, aber das Auseinandersetzen mit Widerstand und der Art und
Weise, in der Widerstand geleistet werden soll, ist trotzdem ein wichtiges
Element des Gesamtkunstwerks „Year Zero“ und eine gute Grundlage für weitere
Diskussionen. Gerade, weil es eben keine wirklich abstrakten und undenkbaren
gesellschaftlichen Zustände sind, die diesen Widerstand nötig machen. Die Kunst
an sich kommt innerhalb dieses Diskurses auch nicht zu kurz.
Die Fähigkeit von Kunst, Fragen aufzuwerfen, aber auch die
Möglichkeit, durch das Nachaußen strahlen von Kunst Menschen das lähmende
Gefühl von Machtlosigkeit zu nehmen, das einhergeht mit dem in totalitären
Systemen geschaffenen Gefühl von der Isolation des Individuums und der damit
fehlenden Plattform, sich zu artikulieren und damit Gleichgesinnte zu finden,
wird thematisiert. Eine gute Gelegenheit, zu fragen, wie Herr Reznor sich in so
einem System verhalten würde:
„Okay um den
fiktiven Part wegzulassen: Lass uns annehmen, ich bin ich, so alt wie ich jetzt
bin, 15 Jahre in der Zukunft in diesem Szenario. Wenn ich merke, dass meine
Stimme nicht mehr zählt, ich mundtot gemacht werde und keine Möglichkeit mehr
habe, mich auszudrücken, weil Kunst über wacht wird, bewilligt werden muss und
zensiert wird, und wenn das Land, das auf Freiheit begründet wurde, nicht mehr
frei ist, sondern von Leuten regiert wird, die diktieren, was passiert, würde
ich trotzdem einen Weg finden, weiter zu machen. Wenn ich damit das Gesetz
breche, breche ich eben das Gesetz. Aber ich würde weiter machen, und meine
Musik würde politischer werden, und ich glaube, es wäre meine Pflicht, das zu
tun.“
Aber vielleicht braucht man die Frage gar nicht unbedingt
im Konjunktiv zu stellen. Angesichts der Richtung, die die politische und
gesellschaftliche Situation gerade nimmt, kann man „Year Zero“ in seiner
Komplexität und seinen Parallelen zu reell existierenden, politischen und
gesellschaftlichen Gegebenheiten schon jetzt als Akt des Widerstandes
verstehen. Natürlich vor dem Hintergrund, dass Kunst die Aufmerksamkeit der
Menschen auf bestimmte Tatsachen lenken und nicht direkt Regierungen stürzen
will.
„Es war ein ziemliches Risiko, in diese Richtung zu gehen,
denn es ist eine ziemliche Veränderung zu dem, was ich vorher gemacht habe, und
könnte sich auch als Fehler für NINE INCH NAILS herausstellen. Aber an dem
Punkt, an dem ich jetzt mit meinem Leben bin, hat es sich für mich als das
moralisch Richtige angefühlt. Das moralisch Richtige für mich als Künstler Und
es hat sich ehrlich angefühlt, weil ich diese Ängste wirklich habe. Und wenn
ich moralisch richtig sage, meine ich ... (stockt) Ich denke, ein wichtiger
Aspekt oder gar der wichtigste Punkt, damit so etwas (das vorgestellte
Zukunftsszenario; Anm. d. Verf.) nicht passiert, ist, dass mehr Menschen darauf
achten, was gerade passiert. Ich sage nicht, wer gewählt werden soll und wer
nicht. Niemand will belehrt werden, und ich möchte kein Prediger sein. Aber ich
denke, dass viele der Details der Geschichte, die jetzt im Netz publik werden
und von Leuten gefunden werden - z.B. Aufnahmen, die erschrecken, oder
Web-Sites, die zeigen, dass diese Sachen wirklich passieren -‚ sich in der
Realität bereits entwickeln, und es gibt nur ein paar Details, die wirklich
nach Science-Fiction aussehen.
Als Amerikanet aber sicherlich auch in der westlichen Welt
außerhalb Amerikas, wird man darauf abgerichtet, sich mit den Gegebenheiten
nicht wirklich auseinanderzusetzen, sondern zu tun, was einem gesagt wird. Wenn
die Regierung sagt, dass man am Flughafen die Schuhe ausziehen soll, weil man
ja sonst durch eine Schuhbombe in die Luft gesprengt werden kann, zieht man
halt seine Schuhe aus. Oder wenn man aufgefordert wird, die eigenen Truppen zu
unterstützen, wenn die ausrücken, um irgendein Land zu besetzen ... - mit der
Argumentation, dadurch für mehr Sicherheit zu sorgen: „Du willst doch in
Sicherheit leben?“; „Klar will ich“; „Dann unterstütze deine Armee!“ Besonders
aber: „Stimmt für mich, denn wenn ihr nicht für mich stimmt, dann stimmt ihr
für die Terroristen, und die Terroristen hassen die Freiheit!“ Das ist eine
meiner Lieblingszitate: „Die Terroristen hassen Freiheit!“ Was für ein absurdes
Argument...“
Gerade die Frage nach der gesellschaftlichen Rolle und die
angesprochene moralische Verpflichtung des Künstlers an sich scheint Trent
Reznor sehr am Herzen zu liegen. Das wird zu nicht zuletzt dadurch deutlich,
dass er nicht müde wird, aktuelle Musiktrends zu kritisieren. Auch der
Strukturen hinter den Trends ist er sich mehr als bewusst, und einmal darauf
angesprochen, fällt es ihm schwer, sich zu zügeln:
„Für mich sieht es so aus ... und das ist etwas, mit dem
ich Probleme habe - aber ich sage dir was: Ich bin jetzt 41, ich habe keine
Ahnung, wie ich so alt geworden bin. Ich bin halt eines Tages aufgewacht und
war älter; als ich dachte, dass ich wäre. (lacht) Es ist schwer für mich,
objektiv zu sein, wenn es um mich geht, denn ich stecke nun mal in mir drin,
und wenn ich nach draußen sehe, bin ich mir bewusst, dass mein Blick auf das
Außen verzerrt ist. Aber verglichen mit den Neunzigern, in denen ich bekannt
geworden bin, hat sich an der Rolle eines Rockmusikers eine Menge verändert.
Wenn Budweiser 1990 gefragt hätte, ob sie einen Song für ihre Werbung verwenden
dürfen, hätte niemand darüber nachgedacht. Es war ein Tabu, und wenn es
trotzdem jemand gemacht hätte, wäre er einfach nur ausgelacht worden. 1999 sah
die Sache ganz anders aus; wenn da Budweiser gekommen wäre; kein Problem.
Besser noch, man hätte gefragt, ob sie nicht noch die Tour sponsern wollen oder
ob man in ihrem Werbe-Spot auftreten darf oder ob sie das Musik-Video bezahlen,
dafür würde im Video nur Budweiser getrunken. Irgendwann war das okay Die SONIC
YOUTHS dieser Welt sind still geworden, und die MOBYS dieser Welt wurden
akzeptiert. Das alles hängt damit zusammen, und ich versuche, das kurz zu
halten, denn ich könnte noch stundenlang weitermachen, dass Plattenfirmen nicht
mehr nur Plattenfirmen sind. Die kleinen, unabhängigen Labels wurden von großen
Plattenfirmen gekauft, und die gehören mittlerweile Konzernen, die von
Aktionären geleitet werden. Daraus resultiert, dass die Mitarbeiter in diesen
Plattenfirmen nur noch Bands unter Vertrag nehmen, mit denen wirklich Geld
verdient werden kann. Das bedeutet, dass BRITNEY SPEARS wichtiger wird als NINE
INCH NAILS, weil sie im laufenden Quartal mehr Geld eingebracht hat. Das führt
dazu, dass Bands sich immer weniger von einander unterscheiden. Irgendwie hat
sich auch die Wertung verschoben. Es interessiert nicht mehr; ob du eine gute
Platte gemacht hast, sondern nur ob sie sich gut verkauft. Eine Platte, die
sich gut verkauft, ist in so einem Wertsystem eine gute Platte, selbst wenn sie
Scheiße klingt. Und wenn eine Band eine interessante Platte raus bringt, die
sich aber nicht so gut verkauft, werden sie dafür bestraft. Die Labels, die solche
Bands früher unterstützt und aufgebaut hätten, gibt es nicht mehr. Heute will
jeder einfach sofortigen Erfolg. Leute werden zu Stars, weil sie auf MTV süß
aussehen, mit anderen süßen Leuten ausgehen und sich mit denen vor angesagten
Restaurants fotografieren lassen. Scheiß auf diesen ganzen Celebrity-Mist! Hat
dieser jemand eine Platte gemacht, die irgendjemanden interessiert? Nein! Hat
er eine Platte gemacht, an die sich in fünf oder gar in zwei Jahren noch jemand
erinnern wird? Nein! Es ist einfach Pop-Fluff, der durch Marketing als etwas
von Bedeutung dargestellt wird.
Ich habe nichts gegen Justin Timberlake persönlich, ich
kenne ihn nicht, aber war er nicht der Typ mit den Schamharren auf dem Kopf,
der vor fünf Jahren bei N‘SYNC gesungen hat, zusammen mit ein paar anderen
Gestalten, denen man gerne mal in den Arsch getreten hätte? Und jetzt? Jetzt
ist er schwarz und der Retter des Pop. Wie ist das passiert? Dieser Typ hat
nichts Interessantes zu erzählen. Er mag ein guter Mensch sein, aber er hat nichts
zu sagen. Er ist kein Künstler; er ist ein Produkt und soll sich gut verkaufen.
Und ich bin mir sicher; er verkauft sich gut. Aber das hat für mich nichts mit
Rock zu tun oder mit Kunst. Ich will etwas, das ehrlich ist, Ecken und Kanten
hat und wobei man das Gefühl hat, es kommt aus dem Herzen von jemandem.
Heutzutage wird uns doch gesagt, was wir mögen sollen. Vor ein paar Jahren
wurden wir gezwungen, die STROKES zu mögen, und vor einer Weile traten FRANZ
FERDINAND an, um die Welt zu retten. Und wo sind sie jetzt? Sie haben eine
schlechte zweite Platte gemacht und auf einmal wurde es offensichtlich, dass
sie wohl doch nicht so gut sind. Vielleicht waren sie ja nie wirklich gut und
es wurde uns nur eingeredet, dass wir sie mögen müssen, um cool zu sein. Aber
es ist immer Raum für echte und bedeutende Kunst, und die wird von echten
Leuten gemacht. Sie ist spürbar und wird nicht von Plattenfirmen gestaltet und
uns dann so weit in den Arsch gesteckt, bis sie uns zum Hals raushängt.
ARCADE FIRE ist ein gutes Beispiel für eine Band, die wie
aus dem Nichts kam und eine wichtige und gute Band ist. Die sind nach oben
gekommen, weil die Leute sie mögen, und nicht, weil da ein süßer Typ mitspielt,
sie ein lustiges Video hatten oder weil sie der NME zum nächsten großen Ding
gemacht hat, zwei Wochen, bevor ihr Demo aufgenommen wurde.“
Natürlich ist es immer schwierig mit der Kunst und dem
Spagat zwischen dem Anspruch darauf, ein neues oder geschärftes Bewusstsein zu
schaffen für politische und gesellschaftliche Missstände, und der dennoch
irgendwie vordergründigen Funktion, zu unterhalten. Und gerade, wenn etwas so
Ambitioniertes wie eben „Year Zero“ daherkommt, das versucht, auf mehrere
Ebenen verteilt ein komplexes, zusammengehöriges Gesamtkunstwerk zu bilden.
Aber bisher ist es wirklich schlüssig und clever inszeniert, in dem es sich nur
Stück für Stück offenbart und damit die Leute hungrig macht auf das, was noch
kommt. Dadurch werden sie dazu angehalten, sich mit den Inhalten
auseinanderzusetzen - anstatt das Werk in seiner Gesamtheit auf die
Öffentlichkeit loszulassen und damit jeden durch seine Komplexität und dem
schieren Volumen an Information zu erschlagen. Auch die Art der Präsentation
ist wirklich beeindruckend, mit der Verteilung der äußeren Ebene auf das Internet
und der inneren auf die Musik. Beide Medien werden dabei wirklich ausgereizt
und setzen damit die jeweilige Ebene perfekt in Szene. Und durch das sich
Beziehen der beiden Ebenen aufeinander wird eine wirklich erlebbare Einheit
geschaffen. Aber wie schon erwähnt, funktioniert das Konzept auch als
Marketingstrategie wunderbar, weil es eben die Aufmerksamkeit zieht und ein
inhaltliches Konstrukt schafft, dass das Album als zentralen Kern hat und es
damit fast unverzichtbar ist, sich „Year Zero“ nicht zuzulegen, wenn man einmal
drinsteckt. Trent Reznor aber weist den Ansatz, dass es sich um eine
Marketingstrategie handelt, deutlich von sich:
„Der Begriff „Marketing“ ist schon ziemlich ein
frustrierender im Moment für mich. Was für jeden gerade erlebbar wird, IST,,
Year Zero“. Es ist kein Versuch, jemanden dazu zu kriegen, sich die Platte zu kaufen,
es IST Teil des Ganzen ... und wir fangen gerade erst an. Ich hoffe, ihr
genießt es.“
Und es scheint, als würden neben Internet und Musik noch
mehr Ebenen aufgemacht, die das Gesamtwerk „Year Zero“ komplettieren sollen.
Laut einer Meldung im Kerrang!-Magazin befindet sich Reznor mittlerweile in
Verhandlungen, um einen Film zu verwirklichen, der im „Year Zero-Kontext
spielen soll, und das nächste Album wird wohl die nächste Stufe in der
Entwicklung des Konzeptes spielen. Ist bereits für nächstes Jahr angekündigt.
Bleibt nur zu hoffen, dass sich der NIN-Kopf in den ganzen Projekten nicht
verzettelt und damit am Ende sein eigenes karikiert (siehe MATRIX). Aber was
bisher an die Oberfläche gekommen ist, ist ein gut durchdachtes und großartig
präsentiertes Konzept, um eine wirklich starke neue NINE INCH NAILS-Platte
einerseits, die die Leute, die „With Teeth“ nicht sonderlich gelungen fanden,
mit Sicherheit versöhnen wird, und andererseits ein Ausblick auf ein Gesamtkunstwerk,
dass ohne Frage das ambitionierteste ist, das Trent Reznor bisher angegangen
ist. Es bleibt definitiv spannend, zu verfolgen, wie es sich in seiner
Gesamtheit entfalten wird.
www.nin.com
Norbert
Specht
Extra
Kasten: Internet 1
Es ist natürlich absolut nicht möglich, das Konzept von
„Year Zero“, so wie es sich im Internet präsentiert, hier auch nur annähernd
gleichwertig darzustellen. Deshalb sei an dieser Stelle auf folgende
Wikipedia-Seite verwiesen:
http://en. wi
kipedia. org/wiki/Year_Zero_(album)
Diese Seite sammelt alle Informationen zu „Year Zero“, mit
einer vollständigen Link-Liste zu allen dazugehörigen Internet-Seiten,
Audio-Clips und Angaben zur Entstehung sowie den Aufnahmen bzw. der Besetzung
bei den Aufnahmen. Diese Seite wird ständig aktualisiert und ist damit sehr zu
empfehlen als Startpunkt, um in die Welt in fünfzehn Jahren, wie sie sich TRENT
REZNOR vorstellt, einzutauchen.
Außerdem zu empfehlen ist: www.yearzero.de
Dort gibt es eine Einführung in Deutsch in das
Zukunftsszenario. Und als Tipp: Die Texte auf den zu „Year Zero“ gestalteten
Seiten sind oft schwer zu lesen, weil die Schrift verzerrt ist, aber wenn man
die Schrift markiert, wird die Verzerrung der Texte aufgehoben. Das geht aber
leider nicht bei allen Seiten.
Extra
Kasten: Internet 2
Dank der Video-Portale wie „Youtube“ ist eine Vielzahl an Interview-Mitschnitten
mit Trent Reznor im Netz verfügbar und deckt die gesamte Spanne seiner Karriere
ab. Die meisten dieser Mitschnitte sind wirklich informativ und zum Teil auch
sehr unterhaltsam. Auf jeden Fall kann die Person Trent Reznor auf diesem Weg
für jeden besser erschlossen werden, und auch der Zugang, den er zu NINE INCH NAILS
hat, und seiner Einstellung zu Kunst im Allgemeinen wird deutlich. Besonders
empfehlenswert ist ein Clip, der Reznor 1985 zeigt, als er Mitglied bei den
EXOTIC BIRDS war, einer wavigen Band aus Cleveland, die im regionalen Fernsehen
vorgestellt wurde. Einfach „trent reznor interview“ in die Suchleiste bei
„Youtube“ eingeben.
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