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Jahr 2007

 

 

Spex

 

Mai/Juni 2007

 

 Nine Inch Nails

Schwarmintelligenz, Paranoid

 

 Text: Daniel Erk

 

 

 

Für Geraune aller Art ist das Internet ein geradezu prädestinierter Ort: Überall wird vermutet, gemeint und gesucht, jeder weiß was, keiner weiß alles, die Suche nach der heißesten Information wird zum Wettlauf gegen Zeit und Konkurrenz. Musikblogs funktionieren nach dieser Maßgabe, Verschwörungstheorien und Gerüchteküchen ebenso, und mit etwas Witz und Willen lässt sich via Internet eine hübsche mediale Bugwelle auffahren, deren Urahnen Kettenbrief und Schneeballsystem heißen.

Trent Reznor weiß das. Der Mann, der Nine Inch Nails ist, weiß, dass er kein Fall für Mainstreammedien und Videokanäle ist, und er weiß auch, wie er sein Publikum erreicht.

So kündigte Reznor im Dezember des vergangenen Jahres, zünftig kryptisch, ein in höchstem Maße konzeptionelles Album an und streute dann bei ersten Auftritten auf der Iberischen Halbinsel Memory-Sticks mit ersten Songs — zumeist auf Herrentoiletten. Weiterer Anschub für Reznors ebenso durch dachte wie durchplante Kampagne ergab sich durch ein typographisches Spiel auf dem Tour-T-Shirt, das einen Hinweis auf eine mysteriöse Homepage gab.

Die Nine-Ilnch-Nails-Fans waren angefixt: In den folgenden Wochen wurden mittels Schwarmintelligenz diverse obskure Homepages entdeckt, die Bruchteile von Reznors Gesamtgeschichte zu »Year Zero« offen leg ten. Reznor selbst unterfütterte dies mit sporadischen Einträgen in seinem Blog und in einer kleinen Enzyklopädie nach Beispiel der Wikipedia. Die Fans waren ebenso euphorisiert wie beschäftigt, einer paranoiden Science-Fiction-Geschichte aus dem Jahr 2022 zu folgen, einem in der Zwischenzeit stattgefundenen Krieg gegen den Iran und einer amerikanischen Regierung, die der Bevölkerung Drogen über das Trinkwasser verabreicht. Die Foren füllten sich, die Aufmerksamkeitskurve stieg rasant, die Medientrommel machte zudem gehörig Lärm.

Reznor hatte eine eigene, kleine, virtuelle Realität geschaffen: Geteilt wurden Informationen und Halbwissen. Und natürlich wurden auch die Stücke, die bei den Konzerten aufgetaucht waren, im Internet gestreut.

Bis genau hier scheint der Blick hinter das Geschehen rund um »Year Zero« wie das Kapitel zu Viralmarketingstrategien aus dem BWL-Lehrbuch. Unter den kommunikativen Glücksversprechen des Netzes nimmt das Viralmarketing eine Sonderrolle ein: Als persuasives Perpetuum mobile, das, einmal er folgreich in Fahrt gebracht, seinen Schwung und seine Durchschlagskraft aus sich selbst heraus generiert. Und weil die Zielgruppe ebenso euphorisch wie authentisch kommuniziert, verspricht Viralmarketing Effizienz und Effektivität gleichermaßen. In seinem Marketingklassiker »The Tipping Point« zeigt der US-amerikanische Journalist und Virologe Malcolm Gladwell, dass sich Informationen und Begehrlichkeiten verbreiten wie Viren: schnell, schrittweise, quadrierend und vor allem über hochkommunikative Netzwerker — wie eben die NIN-Fans in den Foren und Blogs. Dass Reznor seine Musik verschenkt, ist dabei nicht fahrlässig, sondern sinnvoll. Im Marketing spricht man dabei vom Prinzip des »Follow the free«, das zentraler Bestandteil jeder Vermarktung im Internet geworden ist: Eine Dienstleistung oder ein Produkt wird verschenkt, um Interesse zu wecken oder um beispielsweise eine Software an potentielle Nutzer zu bringen. Erst später wird für weitere Dienste oder weitere Daten gleicher Art Geld verlangt. Apple etwa verschenkt aus dieser Kalkulation iTunes, weil die Gewinne aus dem Daten- verkauf kommen. Und kleine Labels verschenken oftmals einen MP3-Download, um ein Album zu bewerben.

Lernt man Viralmarketing kennen, zu bedienen und zu schätzen, so offenbart sich sein großes Potenzial. Dumm nur, dass man sich so gleichzeitig jeder echten und ernst zu nehmenden Kontrolle entledigt, schlimmstenfalls den Zweck und Zauber verspielt, wenn man ebendiese Kontrolle erzwingen will — was im Falle der »Year Zero«-Kampagne geschah.

Denn während sich die Idee von Trent Reznor und der Marketingagentur »42 Entertainment« an US-amerikanischen Gepflogenheiten orientierte  — in den Vereinigten Staaten wird in vielen Fällen die Veröffentlichung eines MP3 via Weblog toleriert — ‚ reagierte Universal Deutschland auf Grundlage hiesigen Urheberrechts und offenbar ohne Absprache mit der eigenen Marketingabteilung.

Die dramaturgisch penibel entwickelte internationale Kampagne fiel hierzulande in sich zusammen, und aus ihrer Asche entstieg ein veritabler Kommunikationsgau, in dessen Folge selbst höfliche Anfragen nach einem klärenden Gespräch mit der Rechtsabteilung von Universal abgelehnt wurden. So entwickelte sich auch das Viralmarketing selbst zum Bumerang. Innerhalb kürzester Zeit musste sich Universal einmal mehr mit dem Vorwurf des »bösen Majors« auseinander setzen, zeigte allerdings schließlich ein Einsehen: Nachdem nicht mehr »Year Zero« und Vorfreude, sondern Verärgerung und Hohn durch die Blogs gegangen waren, verstand man bei Universal — spät, aber immerhin —‚ was man angerichtet hatte. Statt den Blogger, der Musik von den gefundenen MP3-Sticks weitergereicht hatte und sich freiwillig zum Boten der Werbung für »Year Zero« gemacht hatte, wie zuvor per Abmahnung angedroht zu verklagen, wurden alle juristischen Einlassungen zurückgezogen und der Blogger zu einem NIN-Konzert und einem Zusammen treffen mit Trent Reznor eingeladen.

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