Für Geraune aller Art ist das
Internet ein geradezu prädestinierter Ort: Überall wird vermutet, gemeint und
gesucht, jeder weiß was, keiner weiß alles, die Suche nach der heißesten
Information wird zum Wettlauf gegen Zeit und Konkurrenz. Musikblogs
funktionieren nach dieser Maßgabe, Verschwörungstheorien und Gerüchteküchen
ebenso, und mit etwas Witz und Willen lässt sich via Internet eine hübsche
mediale Bugwelle auffahren, deren Urahnen Kettenbrief und Schneeballsystem
heißen.
Trent Reznor weiß das. Der Mann,
der Nine Inch Nails ist, weiß, dass er kein Fall für Mainstreammedien und
Videokanäle ist, und er weiß auch, wie er sein Publikum erreicht.
So kündigte Reznor im Dezember
des vergangenen Jahres, zünftig kryptisch, ein in höchstem Maße konzeptionelles
Album an und streute dann bei ersten Auftritten auf der Iberischen Halbinsel
Memory-Sticks mit ersten Songs — zumeist auf Herrentoiletten. Weiterer Anschub
für Reznors ebenso durch dachte wie durchplante Kampagne ergab sich durch ein
typographisches Spiel auf dem Tour-T-Shirt, das einen Hinweis auf eine
mysteriöse Homepage gab.
Die Nine-Ilnch-Nails-Fans waren
angefixt: In den folgenden Wochen wurden mittels Schwarmintelligenz diverse
obskure Homepages entdeckt, die Bruchteile von Reznors Gesamtgeschichte zu
»Year Zero« offen leg ten. Reznor selbst unterfütterte dies mit sporadischen
Einträgen in seinem Blog und in einer kleinen Enzyklopädie nach Beispiel der
Wikipedia. Die Fans waren ebenso euphorisiert wie beschäftigt, einer paranoiden
Science-Fiction-Geschichte aus dem Jahr 2022 zu folgen, einem in der
Zwischenzeit stattgefundenen Krieg gegen den Iran und einer amerikanischen
Regierung, die der Bevölkerung Drogen über das Trinkwasser verabreicht. Die Foren
füllten sich, die Aufmerksamkeitskurve stieg rasant, die Medientrommel machte
zudem gehörig Lärm.
Reznor hatte eine eigene, kleine,
virtuelle Realität geschaffen: Geteilt wurden Informationen und Halbwissen. Und
natürlich wurden auch die Stücke, die bei den Konzerten aufgetaucht waren, im
Internet gestreut.
Bis genau hier scheint der Blick
hinter das Geschehen rund um »Year Zero« wie das Kapitel zu
Viralmarketingstrategien aus dem BWL-Lehrbuch. Unter den kommunikativen
Glücksversprechen des Netzes nimmt das Viralmarketing eine Sonderrolle ein: Als
persuasives Perpetuum mobile, das, einmal er folgreich in Fahrt gebracht,
seinen Schwung und seine Durchschlagskraft aus sich selbst heraus generiert.
Und weil die Zielgruppe ebenso euphorisch wie authentisch kommuniziert,
verspricht Viralmarketing Effizienz und Effektivität gleichermaßen. In seinem
Marketingklassiker »The Tipping Point« zeigt der US-amerikanische Journalist
und Virologe Malcolm Gladwell, dass sich Informationen und Begehrlichkeiten
verbreiten wie Viren: schnell, schrittweise, quadrierend und vor allem über
hochkommunikative Netzwerker — wie eben die NIN-Fans in den Foren und Blogs.
Dass Reznor seine Musik verschenkt, ist dabei nicht fahrlässig, sondern sinnvoll.
Im Marketing spricht man dabei vom Prinzip des »Follow the free«, das zentraler
Bestandteil jeder Vermarktung im Internet geworden ist: Eine Dienstleistung
oder ein Produkt wird verschenkt, um Interesse zu wecken oder um beispielsweise
eine Software an potentielle Nutzer zu bringen. Erst später wird für weitere
Dienste oder weitere Daten gleicher Art Geld verlangt. Apple etwa verschenkt
aus dieser Kalkulation iTunes, weil die Gewinne aus dem Daten- verkauf kommen.
Und kleine Labels verschenken oftmals einen MP3-Download, um ein Album zu
bewerben.
Lernt man Viralmarketing kennen,
zu bedienen und zu schätzen, so offenbart sich sein großes Potenzial. Dumm nur,
dass man sich so gleichzeitig jeder echten und ernst zu nehmenden Kontrolle
entledigt, schlimmstenfalls den Zweck und Zauber verspielt, wenn man ebendiese
Kontrolle erzwingen will — was im Falle der »Year Zero«-Kampagne geschah.
Denn während sich die Idee von
Trent Reznor und der Marketingagentur »42 Entertainment« an US-amerikanischen
Gepflogenheiten orientierte — in den
Vereinigten Staaten wird in vielen Fällen die Veröffentlichung eines MP3 via
Weblog toleriert — ‚ reagierte Universal Deutschland auf Grundlage hiesigen
Urheberrechts und offenbar ohne Absprache mit der eigenen Marketingabteilung.
Die dramaturgisch penibel
entwickelte internationale Kampagne fiel hierzulande in sich zusammen, und aus
ihrer Asche entstieg ein veritabler Kommunikationsgau, in dessen Folge selbst
höfliche Anfragen nach einem klärenden Gespräch mit der Rechtsabteilung von
Universal abgelehnt wurden. So entwickelte sich auch das Viralmarketing selbst
zum Bumerang. Innerhalb kürzester Zeit musste sich Universal einmal mehr mit
dem Vorwurf des »bösen Majors« auseinander setzen, zeigte allerdings
schließlich ein Einsehen: Nachdem nicht mehr »Year Zero« und Vorfreude, sondern
Verärgerung und Hohn durch die Blogs gegangen waren, verstand man bei Universal
— spät, aber immerhin —‚ was man angerichtet hatte. Statt den Blogger, der
Musik von den gefundenen MP3-Sticks weitergereicht hatte und sich freiwillig
zum Boten der Werbung für »Year Zero« gemacht hatte, wie zuvor per Abmahnung
angedroht zu verklagen, wurden alle juristischen Einlassungen zurückgezogen und
der Blogger zu einem NIN-Konzert und einem Zusammen treffen mit Trent Reznor
eingeladen.
|