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Jahr 2007

 

 

Zillo

 

Mai 2007

 

 Kreativität muss keine

angsteinflössende Erfahrung sein

 

 Text: Carsten Wohlfeld

Fotos: Sandro Griesbach

 

 

Einer der häufigsten Sätze, die man bei Interviewterminen mit Bands jedweder Couleur zu hören bekommt, lautet: „In Gedanken sind wir schon bei der nächsten Platte“. Es spricht für eine gesunde Kreativität, das zu sagen, wenn das aktuelle Album noch nicht einmal in den Läden steht. Dennoch: Nur den wenigsten Bands gelingt es, das Gesagte in die Tat umzusetzen. Denn wenn sie nach einer langen Tournee zum ersten Mal nach Monaten wieder nach Hause kommen, müssen viele nicht nur Wasser, Strom und Telefon neu anschließen lassen, welke Blumen auf den Müll werfen und tote Haustiere beerdigen, sondern auch gleich erst einmal einen Termin in der Entzugsklinik buchen. Trent Reznor von Nine Inch Nails kennt dieses Szenario nur zu gut, dennoch steht nun, keine zwei Jahre nach „With Teeth“, das neue Album „Year Zero“ in den Läden.

Der Grund dafür ist denkbar einfach. Reznor schaffte es trotz der Tourneestrapazen, die sich Nine Inch Nails in den letzten 24 Monaten zumuteten, auf genau die stimulierenden Substanzen zu verzichten, die ihn zuvor lange Zeit durch die Hölle gehen ließen, und hatte deshalb plötzlich jede Menge Zeit, sich auch unterwegs anderweitig zu beschäftigen. „Year Zero“ markiert nach dem für viele Fans enttäuschenden Werk „With Teeth“ zudem Reznors Rückkehr zur Arbeit in einem konzeptionellen Rahmen, eine Herangehensweise, die ihm Mitte der 90er das Meisterwerk „The Downward Spiral“ ermöglichte und auch den bereits in Planung befindlichen zweiten Teil der „Year Zero“-Saga angewendet werden soll. „Mir gefällt das Format. Mir gefällt, dass es um ein Gesamtwerk geht, dass du nicht nur in einer Drei-Minuten-Welt arbeitest, sondern eine ganze Stunde zur Verfugung hast, in der Songs zwar für sich funktionieren, aber eine größere Wirkung erzielen, wenn sie in Zusammenhang mit ihren ‚Brüdern und Schwestern‘ stehen“, erklärt der Nine-Inch-Nails-Vordenker trotz der vormittäglichen Interviewzeit bestens gelaunt und gewohnt redselig bei unserem Treffen im Dorint-Hotel im Herzen Münchens.

Auf jeden Fall hat „Year Zero“ mehr Substanz als der Vorgänger „With Teeth“. Anders als das kaputte 1999er-Werk „The Fragile“, das Reznor Jahre später neu für sich entdeckte und dessen Songs auf der letzten Tournee in neuem Glanz erstrahlten, sieht er - wie viele seiner Anhänger auch - „With Teeth“ rückblickend durchaus kritisch .„Als ich die Platte aufnahm, war ich sehr vorsichtig. Ich war zuvor in einer Phase der Verletzlichkeit und Demütigung gewesen und versuchte mit diesem Album, endlich nüchtern, wieder einen Zeh ins Wasser zu halten. Damals hatte ich das Gefühl, recht wagemutig zu sein, aber inzwischen ist mir klar geworden, dass ich kreativ auf Nummer sicher ging. Die Platte hat gute Momente, aber auch sehr durchschnittliche. Außerdem habe ich etwas gemacht, was ich vorher nie und nimmer getan hätte: Ich bat Außenstehende um ihre Meinung — die Plattenfirma. mein Management und einige andere Vertraute. Damit will ich nicht sagen, dass es grundsätzlich falsch ist, den Rat anderer einzuholen, aber heute weiß ich, dass es einen Grund dafür gab, warum ich es vorher nie getan hatte und auch jetzt nicht mehr mache. Damals war es allerdings das Richtige. „With Teeth‘ ist mir nicht peinlich, aber mit dem Herzen bin ich inzwischen ganz woanders.“

Im „Year Zero‘ nämlich, das als reine Beschäftigungstherapie begann, doch dann sehr schnell ein Eigenleben entwickelte. „Kurz nachdem wir uns das letzte Mal miteinander gesprochen haben, begann meine Begeisterung für das Auf-Tour-Sein ziemlich rapide zu schwinden“, erinnert sich Reznor fast auf den Tag genau zwei Jahre nach unserem letzten Interview. „Nein, Begeisterung ist das falsche Wort. aber mit zunehmendem Alter - und noch dazu völlig nüchtern - hatte das Unterwegssein nichts mehr von dem Wahnsinn unserer früheren Tourneen. Jetzt ging es nur darum, die Shows zu spielen, und ich begann was die Kreativität anbelangte – mich unterwegs sehr schnell zu langweilen. Nicht bei den Konzerten an sich, aber das sind ja nur zwei der 24 Stunden täglich. Und selbst die sind nicht sonderlich kreativ, es geht lediglich um die Ausführung. Also versuchte ich herauszufinden, ob ich endlich auch unterwegs Songs würde schreiben können, und siehe da. es klappte! Also baute ich meinen Laptop-Computer zu einem ziemlich coolen Tonstudio-Setup um, das kaum Beschränkungen aufwies und eine ziemlich elegante Form des Songwritings ermöglichte - die Software macht auf dem Gebiet ja Riesenfortschritte. Ich begann also herumzutüfteln. und damit begann Phaselieder meiner Platten: Manchmal mit Hilfe und manchmal einfach blind stocherte ich im Nebel, bis sich ein Weg auftat, der mir richtig erschien. Die Lunte wurde gezündet. Das passierte während der Tour und war sehr inspirierend. Auf musikalisch sehr improvisatorische Weise gelang es mir, Rhythmen und Loops aus anderen Loops zu stricken. Das war einfach eine coole Sache, über die ich eher zufällig gestolpert bin. Das wurde zur Blaupause für meine Arbeit an einer Menge Musik, und ehe ich mich versah, freute ich mich auf die freie Zeit backstage, im Bus oder in Hotelzimmern. Am Ende der Tournee hatte ich dann eine große Anzahl musikalischer Ideen gesammelt. Letzten August kam ich nach Hause, körperlich etwas müde, aber geistig voll da in dem festen Glauben, an der Schwelle zu etwas Großem zu stehen.“

Ein wichtiger Wendepunkt in der Entstehungsgeschichte von „Year Zero“ war ohne Frage Reznors Entscheidung, dem Album genau den konzeptionellen Überbau zu verpassen den viele bei „With Teeth“ schmerzlich vermisst hatten. „Ich überlegte, wovon diese Platte handeln sollte“, erinnert er sich. „Genauer gesagt, ich wusste, wovon sie handeln sollte, aber ich war mir nicht sicher, wie ich es präsentieren sollte. Was ich im Kopf hatte war eine herausfordernde Platte, die den Stand der Dinge im heutigen Amerika kommentierten sollte. Ich wollte, als amerikanischer Bürger meine Wut und meine Besorgnis ausdrucken über die Richtung, die unser Land eingeschlagen hat. Was ich auf keinen Fall machen wollte, war, über die derzeitige Regierung zu sprechen und Namen zu nennen. Das war mir zu polarisierend, davon wollte ich mich fernhalten. Nicht aus Angst vor möglichen Konsequenzen - es schien mir allein künstlerisch nicht der richtige Weg zu sein. So kam ich auf die Idee, fiktive Geschichten aus der Zukunft zu erzählen. Ich schrieb ein sehr ausführliches Szenario, eine Synopse, nieder, wie die Zukunft aussehen könnte, wenn die heutige Politik fortgeführt wird, und dass uns das zu einem echten Wendepunkt für die Menschheit bringen könnte. Ich nahm mir zwei Wochen, um das alles aufzuschreiben. Anschließend begab ich mich in meinem Kopf in diese Zeit, lebte dort praktisch. Dann begann ich, Songs zu schreiben, die ich mit den musikalischen Ideen zusammenbringen konnte, die ich zuvor angesammelt hatte. Ich schrieb aus verschiedenen Blick winkeln, aus der Perspektive von Menschen, die in dieser fiktiven Welt leben. Die Teile zusammenzusetzen ging unglaublich schnell.“

Begleitet wird das neue Album von einer aufwändigen Online-Kampagne die allerdings kein Werbefeldzug im üblichen Sinne ist sondern eher einer multimedialen Schnitzeljagd gleichkommt, auf der Reznor und die Seinen immer wieder versteckte Hinweise auf verschiedenste Weise - seien es Buchstabenkombinationen auf Tour-Merchandise, kryptische Weblinks oder versteckte Telefonnachrichten - ausstreuen, die Andeutungen auf den tieferen Sinn der Texte von „Year Zer“ machen und die konzeptionelle Rahmenhandlung transparenter machen sollen. „Ich fragte mich, wie ich dem Hörer die Welt, in der die Platte spielt, würde erklären können. Die Geschichte ist ja nicht narrativ, es gibt keinen Anfang und kein Ende, es werden nur Schlaglichter präsentiert. Wenn ich dir mein Essay zeigen würde hätte vieles mehr Sinn und ich bin überzeugt davon dass die Hör-Erfahrung reicher wäre. Die Frage war nun wie ich dieses Essay veröffentlichen sollte. Es hatte natürlich ein Buch werden können oder vielleicht ein Film. Aber nach meinen Erlebnissen mit Plattenfirmen und den geistigen Tieffliegern, die dort zumeist herumlaufen, konnte ich mir gut ausmalen, wie es bei einer Filmproduktion aussehen würde, bei der es um noch mehr Geld geht. Dann dachte ich an eine Website oder Liner Notes aber nichts von alledem schien mir das richtige Medium zu sein, das Essay zu verbreiten. Irgendwann fiel mir ein, wie sehr mir die Marketingkampagne für den Film „A.I.“ gefallen hatte. Die hatte ich damals verfolgt ohne vollends einzutauchen aber die ganze Idee dahinter fand ich sehr cool. Ich recherchierte ein wenig, fand die Leute die dahinter steckten und traf mich mit ihnen. Ich sagte ihnen dass es mir nicht da rum ging auf diese Weise die Verkäufe des Albums anzuheizen sondern darum, mein Material auf eine Art und Weise zu veröffentlichen, es hinaus in die Welt zu senden die für die Menschen eine echte Erfahrung sein würde.“

Im Stile eines ARG (Alternate Reality Garne) ließ Reznor die Online Schnitzeljagd inszenieren, wenngleich es ihm wichtig war das Ganze nicht nur als Spiel zu sehen schließlich sind zwar die Geschichten auf „Year Zero“ fiktiv, nicht aber die Inhalte, die ihnen zugrunde liegen. „Die Idee, die ich damit verband, war, dass die Menschen, die sich damit beschäftigen, nicht nur die einzelnen Teile zusammensetzen, sondern auch über die angesprochene Thematik diskutieren und sich der Parallelen bewusst werden, die es zwischen den fiktiven Geschichten aus der Zukunft und unserer heutigen Realität gibt. Jeder Aspekt, den ich in den Songs anspreche, ist, auf die eine oder andere Art, heute schon existent. Alles, was passiert, geschieht auch schon heute, wenn auch teils in abgeschwächter Form. Ich möchte kein Moralapostel sein, aber für mich als Mensch schien es mir das Richtige zu sein, dieses Album zu machen. Ich wollte die Inhalte als Entertainment verpackt präsentieren. Dabei wende ich immer wieder den gleichen Filter an: Ich frage mich, ob mich das selbst interessieren würde. Und ich kann sagen, ja, ich hätte Spaß daran, von der unfassbaren Detailvielfalt des Ganzen überrascht zu werden, ich hätte meine Freude daran, zu entdecken, wie Teile zusammenpassen, die mehr sind als nur ein simples Puzzle. Gerade der Aspekt, dass das Ganze wie ein aufwändiges Puzzle funktioniert, gefällt mir sehr. Wenn wir einen neuen Hinweis veröffentlichen, gibt es nichts Spannenderes, als in einem IRC-Chat oder einem Bulletin Board in Echtzeit mitzuverfolgen wie die Leute versuchen den Hinweis zu finden und dann zu entschlüsseln Noch schöner ist nur die folgende Woche, wenn sie die Gelegenheit haben, über die neuen Inhalte nachzudenken und zu diskutieren.“

Mit der Web-Schnitzeljagd hat Reznor die Möglichkeit, die ihm wichtigen Themen viel plastischer darzustellen, als ihm das mit einem simplen Songtext möglich wäre, wie er anhand eines Beispiels zu verdeutlichen versucht. ,,Ich will nicht nur sagen: ‚Jemand glaubt, dass es in einer Gesellschaft, in der seine Stimme nichts zählt, der Staat Einfluss auf die Medien nimmt, alles nur noch Propaganda ist und die Regierung sogar in Verbindung mit der Tötung unliebsamer Staatsbürger steht, ein legitimes und wirksames Mittel ist sich des Terrorismus zu bedienen und zum Beispiel die Familie eines Senators in die Luft zu sprengen, um Aufmerksamkeit zu erlangen‘, sondern wir haben nun eine Website mit Texten und Audioclips von jemandem eingerichtet, der diesen Weg tatsächlich eingeschlagen hat. Das ist in meinen Augen viel bedrohlicher. Nach und nach wird auf diese Weise der Inhalt meines gesamten Essays veröffentlicht. Das Spannendste ist, wenn ein Haufen Leute sich mit dem gleichen Hinweis beschäftigt. Manchmal finden sie Verbindungen innerhalb kürzester Zeit, von denen ich gedacht hätte, dass nie jemand dahinter kommt. Manchmal ist es allerdings auch so, dass jemand gleich zu Beginn den Nagel auf den Kopf trifft, aber niemand zuhört und die Debatte in eine völlig andere Richtung abdriftet, bis sie dann eine Woche später wieder auf den richtigen Pfad zurückkehrt.“

So textlastig das Album sein mag — auch musikalisch wird einiges geboten. „Year Zero“ ist trotz der für Reznors Verhältnisse relativ kurzen Produktionsphase alles andere als ein schwer verdaulicher Schnellschuss. Interessant vor allem die gerade für ein Konzeptalbum recht ungewöhnliche Reihenfolge der Tracks. Das Album beginnt energiegeladen und verhältnismäßig eingängig („The Beginning Of The End“), wird mit den HipHop-inspirierten Tracks in der Mitte - „Violent Heart“ und „The Warning“ - ziemlich wild und endet mit drei vergleichsweise sanften Stücken, von denen besonders „In This Twilight“ als Höhepunkt in Erinnerung bleibt. „Obwohl die einzelnen Songs nur Schlaglichter sind, gibt es eine grobe chronologische Abfolge. Am Anfang stehen Chaos und Wut, dann folgt Konfusion und am Ende stehen Resignation und das Akzeptieren der Umstände“, erklärt Reznor. „Für mich hat die Platte eine ganz eigene Identität. Sie erfüllt einen Zweck, und die Leichtigkeit, mit der sie entstand, sehe ich als Zeichen dafür, das Richtige getan zu haben. Ich hatte das Gefühl, es hätte auf einer unterbewussten Ebene einen Masterplan gegeben. Anders kann ich es mir nicht erklären, dass die einzelnen Teile sich so perfekt zusammenfügten. Jetzt ist es Zeit, den zweiten Teil des Albums anzugehen. Ich bin im Moment körperlich zwar ziemlich angeschlagen, aber das macht nur das Auf-Tour-Sein. Das Wichtigste ist, dass ich jetzt weiß, dass Kreativität nicht solch eine angsteinflößende Erfahrung sein muss, wie ich früher immer gedacht habe!“

Carsten Wohlfeld

Fotos © Sandro Griesbach, www.darkmoments.de

www.nin.com

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