Einer der häufigsten
Sätze, die man bei Interviewterminen mit Bands jedweder Couleur zu hören
bekommt, lautet: „In Gedanken sind wir schon bei der nächsten Platte“. Es
spricht für eine gesunde Kreativität, das zu sagen, wenn das aktuelle Album
noch nicht einmal in den Läden steht. Dennoch: Nur den wenigsten Bands gelingt
es, das Gesagte in die Tat umzusetzen. Denn wenn sie nach einer langen Tournee
zum ersten Mal nach Monaten wieder nach Hause kommen, müssen viele nicht nur
Wasser, Strom und Telefon neu anschließen lassen, welke Blumen auf den Müll
werfen und tote Haustiere beerdigen, sondern auch gleich erst einmal einen
Termin in der Entzugsklinik buchen. Trent Reznor von Nine Inch Nails kennt
dieses Szenario nur zu gut, dennoch steht nun, keine zwei Jahre nach „With
Teeth“, das neue Album „Year Zero“ in den Läden.
Der Grund dafür ist denkbar einfach. Reznor schaffte es
trotz der Tourneestrapazen, die sich Nine Inch Nails in den letzten 24 Monaten
zumuteten, auf genau die stimulierenden Substanzen zu verzichten, die ihn zuvor
lange Zeit durch die Hölle gehen ließen, und hatte deshalb plötzlich jede Menge
Zeit, sich auch unterwegs anderweitig zu beschäftigen. „Year Zero“ markiert nach
dem für viele Fans enttäuschenden Werk „With Teeth“ zudem Reznors Rückkehr zur
Arbeit in einem konzeptionellen Rahmen, eine Herangehensweise, die ihm Mitte
der 90er das Meisterwerk „The Downward Spiral“ ermöglichte und auch den bereits
in Planung befindlichen zweiten Teil der „Year Zero“-Saga angewendet werden
soll. „Mir gefällt das Format. Mir gefällt, dass es um ein Gesamtwerk geht,
dass du nicht nur in einer Drei-Minuten-Welt arbeitest, sondern eine ganze
Stunde zur Verfugung hast, in der Songs zwar für sich funktionieren, aber eine größere
Wirkung erzielen, wenn sie in Zusammenhang mit ihren ‚Brüdern und Schwestern‘
stehen“, erklärt der Nine-Inch-Nails-Vordenker trotz der vormittäglichen Interviewzeit
bestens gelaunt und gewohnt redselig bei unserem Treffen im Dorint-Hotel im
Herzen Münchens.
Auf jeden Fall hat „Year Zero“ mehr Substanz als der
Vorgänger „With Teeth“. Anders als das kaputte 1999er-Werk „The Fragile“, das Reznor
Jahre später neu für sich entdeckte und dessen Songs auf der letzten Tournee in
neuem Glanz erstrahlten, sieht er - wie viele seiner Anhänger auch - „With
Teeth“ rückblickend durchaus kritisch .„Als ich die Platte aufnahm, war ich
sehr vorsichtig. Ich war zuvor in einer Phase der Verletzlichkeit und
Demütigung gewesen und versuchte mit diesem Album, endlich nüchtern, wieder
einen Zeh ins Wasser zu halten. Damals hatte ich das Gefühl, recht wagemutig zu
sein, aber inzwischen ist mir klar geworden, dass ich kreativ auf Nummer sicher
ging. Die Platte hat gute Momente, aber auch sehr durchschnittliche. Außerdem
habe ich etwas gemacht, was ich vorher nie und nimmer getan hätte: Ich bat
Außenstehende um ihre Meinung — die Plattenfirma. mein Management und einige andere
Vertraute. Damit will ich nicht sagen, dass es grundsätzlich falsch ist, den
Rat anderer einzuholen, aber heute weiß ich, dass es einen Grund dafür gab,
warum ich es vorher nie getan hatte und auch jetzt nicht mehr mache. Damals war
es allerdings das Richtige. „With Teeth‘ ist mir nicht peinlich, aber mit dem
Herzen bin ich inzwischen ganz woanders.“
Im „Year Zero‘ nämlich, das als reine
Beschäftigungstherapie begann, doch dann sehr schnell ein Eigenleben
entwickelte. „Kurz nachdem wir uns das letzte Mal miteinander gesprochen haben,
begann meine Begeisterung für das Auf-Tour-Sein ziemlich rapide zu schwinden“,
erinnert sich Reznor fast auf den Tag genau zwei Jahre nach unserem letzten
Interview. „Nein, Begeisterung ist das falsche Wort. aber mit zunehmendem Alter
- und noch dazu völlig nüchtern - hatte das Unterwegssein nichts mehr von dem
Wahnsinn unserer früheren Tourneen. Jetzt ging es nur darum, die Shows zu
spielen, und ich begann was die Kreativität anbelangte – mich unterwegs sehr
schnell zu langweilen. Nicht bei den Konzerten an sich, aber das sind ja nur
zwei der 24 Stunden täglich. Und selbst die sind nicht sonderlich kreativ, es
geht lediglich um die Ausführung. Also versuchte ich herauszufinden, ob ich
endlich auch unterwegs Songs würde schreiben können, und siehe da. es klappte!
Also baute ich meinen Laptop-Computer zu einem ziemlich coolen Tonstudio-Setup
um, das kaum Beschränkungen aufwies und eine ziemlich elegante Form des
Songwritings ermöglichte - die Software macht auf dem Gebiet ja
Riesenfortschritte. Ich begann also herumzutüfteln. und damit begann Phaselieder
meiner Platten: Manchmal mit Hilfe und manchmal einfach blind stocherte ich im
Nebel, bis sich ein Weg auftat, der mir richtig erschien. Die Lunte wurde
gezündet. Das passierte während der Tour und war sehr inspirierend. Auf
musikalisch sehr improvisatorische Weise gelang es mir, Rhythmen und Loops aus
anderen Loops zu stricken. Das war einfach eine coole Sache, über die ich eher
zufällig gestolpert bin. Das wurde zur Blaupause für meine Arbeit an einer
Menge Musik, und ehe ich mich versah, freute ich mich auf die freie Zeit
backstage, im Bus oder in Hotelzimmern. Am Ende der Tournee hatte ich dann eine
große Anzahl musikalischer Ideen gesammelt. Letzten August kam ich nach Hause,
körperlich etwas müde, aber geistig voll da in dem festen Glauben, an der
Schwelle zu etwas Großem zu stehen.“
Ein wichtiger Wendepunkt in der Entstehungsgeschichte von „Year
Zero“ war ohne Frage Reznors Entscheidung, dem Album genau den konzeptionellen
Überbau zu verpassen den viele bei „With Teeth“ schmerzlich vermisst hatten.
„Ich überlegte, wovon diese Platte handeln sollte“, erinnert er sich. „Genauer
gesagt, ich wusste, wovon sie handeln sollte, aber ich war mir nicht sicher,
wie ich es präsentieren sollte. Was ich im Kopf hatte war eine herausfordernde
Platte, die den Stand der Dinge im heutigen Amerika kommentierten sollte. Ich
wollte, als amerikanischer Bürger meine Wut und meine Besorgnis ausdrucken über
die Richtung, die unser Land eingeschlagen hat. Was ich auf keinen Fall machen
wollte, war, über die derzeitige Regierung zu sprechen und Namen zu nennen. Das
war mir zu polarisierend, davon wollte ich mich fernhalten. Nicht aus Angst vor
möglichen Konsequenzen - es schien mir allein künstlerisch nicht der richtige
Weg zu sein. So kam ich auf die Idee, fiktive Geschichten aus der Zukunft zu
erzählen. Ich schrieb ein sehr ausführliches Szenario, eine Synopse, nieder, wie
die Zukunft aussehen könnte, wenn die heutige Politik fortgeführt wird, und
dass uns das zu einem echten Wendepunkt für die Menschheit bringen könnte. Ich
nahm mir zwei Wochen, um das alles aufzuschreiben. Anschließend begab ich mich
in meinem Kopf in diese Zeit, lebte dort praktisch. Dann begann ich, Songs zu
schreiben, die ich mit den musikalischen Ideen zusammenbringen konnte, die ich
zuvor angesammelt hatte. Ich schrieb aus verschiedenen Blick winkeln, aus der
Perspektive von Menschen, die in dieser fiktiven Welt leben. Die Teile
zusammenzusetzen ging unglaublich schnell.“
Begleitet wird das neue Album von einer aufwändigen
Online-Kampagne die allerdings kein Werbefeldzug im üblichen Sinne ist sondern
eher einer multimedialen Schnitzeljagd gleichkommt, auf der Reznor und die
Seinen immer wieder versteckte Hinweise auf verschiedenste Weise - seien es
Buchstabenkombinationen auf Tour-Merchandise, kryptische Weblinks oder
versteckte Telefonnachrichten - ausstreuen, die Andeutungen auf den tieferen
Sinn der Texte von „Year Zer“ machen und die konzeptionelle Rahmenhandlung
transparenter machen sollen. „Ich fragte mich, wie ich dem Hörer die Welt, in
der die Platte spielt, würde erklären können. Die Geschichte ist ja nicht
narrativ, es gibt keinen Anfang und kein Ende, es werden nur Schlaglichter präsentiert. Wenn
ich dir mein Essay zeigen würde hätte vieles mehr Sinn und ich bin überzeugt
davon dass die Hör-Erfahrung reicher wäre. Die Frage war nun wie ich dieses
Essay veröffentlichen sollte. Es hatte natürlich ein Buch werden können oder
vielleicht ein Film. Aber nach meinen Erlebnissen mit Plattenfirmen und den
geistigen Tieffliegern, die dort zumeist herumlaufen, konnte ich mir gut
ausmalen, wie es bei einer Filmproduktion aussehen würde, bei der es um noch
mehr Geld geht. Dann dachte ich an eine Website oder Liner Notes aber nichts
von alledem schien mir das richtige Medium zu sein, das Essay zu verbreiten.
Irgendwann fiel mir ein, wie sehr mir die Marketingkampagne für den Film „A.I.“
gefallen hatte. Die hatte ich damals verfolgt ohne vollends einzutauchen aber
die ganze Idee dahinter fand ich sehr cool. Ich recherchierte ein wenig, fand
die Leute die dahinter steckten und traf mich mit ihnen. Ich sagte ihnen dass
es mir nicht da rum ging auf diese Weise die Verkäufe des Albums anzuheizen
sondern darum, mein Material auf eine Art und Weise zu veröffentlichen, es
hinaus in die Welt zu senden die für die Menschen eine echte Erfahrung sein würde.“
Im Stile eines ARG (Alternate Reality Garne) ließ Reznor
die Online Schnitzeljagd inszenieren, wenngleich es ihm wichtig war das Ganze
nicht nur als Spiel zu sehen schließlich sind zwar die Geschichten auf „Year
Zero“ fiktiv, nicht aber die Inhalte, die ihnen zugrunde liegen. „Die Idee, die
ich damit verband, war, dass die Menschen, die sich damit beschäftigen, nicht
nur die einzelnen Teile zusammensetzen, sondern auch über die angesprochene
Thematik diskutieren und sich der Parallelen bewusst werden, die es zwischen
den fiktiven Geschichten aus der Zukunft und unserer heutigen Realität gibt.
Jeder Aspekt, den ich in den Songs anspreche, ist, auf die eine oder andere
Art, heute schon existent. Alles, was passiert, geschieht auch schon heute,
wenn auch teils in abgeschwächter Form. Ich möchte kein Moralapostel sein, aber
für mich als Mensch schien es mir das Richtige zu sein, dieses Album zu machen.
Ich wollte die Inhalte als Entertainment verpackt präsentieren. Dabei wende ich
immer wieder den gleichen Filter an: Ich frage mich, ob mich das selbst
interessieren würde. Und ich kann sagen, ja, ich hätte Spaß daran, von der
unfassbaren Detailvielfalt des Ganzen überrascht zu werden, ich hätte meine
Freude daran, zu entdecken, wie Teile zusammenpassen, die mehr sind als nur ein
simples Puzzle. Gerade der Aspekt, dass das Ganze wie ein aufwändiges Puzzle
funktioniert, gefällt mir sehr. Wenn wir einen neuen Hinweis veröffentlichen,
gibt es nichts Spannenderes, als in einem IRC-Chat oder einem Bulletin Board in
Echtzeit mitzuverfolgen wie die Leute versuchen den Hinweis zu finden und dann
zu entschlüsseln Noch schöner ist nur die folgende Woche, wenn sie die
Gelegenheit haben, über die neuen Inhalte nachzudenken und zu diskutieren.“
Mit der Web-Schnitzeljagd hat Reznor die Möglichkeit, die
ihm wichtigen Themen viel plastischer darzustellen, als ihm das mit einem
simplen Songtext möglich wäre, wie er anhand eines Beispiels zu verdeutlichen
versucht. ,,Ich will nicht nur sagen: ‚Jemand glaubt, dass es in einer
Gesellschaft, in der seine Stimme nichts zählt, der Staat Einfluss auf die
Medien nimmt, alles nur noch Propaganda ist und die Regierung sogar in
Verbindung mit der Tötung unliebsamer Staatsbürger steht, ein legitimes und
wirksames Mittel ist sich des Terrorismus zu bedienen und zum Beispiel die
Familie eines Senators in die Luft zu sprengen, um Aufmerksamkeit zu erlangen‘,
sondern wir haben nun eine Website mit Texten und Audioclips von jemandem
eingerichtet, der diesen Weg tatsächlich eingeschlagen hat. Das ist in meinen
Augen viel bedrohlicher. Nach und nach wird auf diese Weise der Inhalt meines
gesamten Essays veröffentlicht. Das Spannendste ist, wenn ein Haufen Leute sich
mit dem gleichen Hinweis beschäftigt. Manchmal finden sie Verbindungen innerhalb
kürzester Zeit, von denen ich gedacht hätte, dass nie jemand dahinter kommt.
Manchmal ist es allerdings auch so, dass jemand gleich zu Beginn den Nagel auf
den Kopf trifft, aber niemand zuhört und die Debatte in eine völlig andere
Richtung abdriftet, bis sie dann eine Woche später wieder auf den richtigen
Pfad zurückkehrt.“
So textlastig das Album sein mag — auch musikalisch wird
einiges geboten. „Year Zero“ ist trotz der für Reznors Verhältnisse relativ
kurzen Produktionsphase alles andere als ein schwer verdaulicher Schnellschuss.
Interessant vor allem die gerade für ein Konzeptalbum recht ungewöhnliche
Reihenfolge der Tracks. Das Album beginnt energiegeladen und verhältnismäßig
eingängig („The Beginning Of The End“), wird mit den HipHop-inspirierten Tracks
in der Mitte - „Violent Heart“ und „The Warning“ - ziemlich wild und endet mit
drei vergleichsweise sanften Stücken, von denen besonders „In This Twilight“
als Höhepunkt in Erinnerung bleibt. „Obwohl die einzelnen Songs nur
Schlaglichter sind, gibt es eine grobe chronologische Abfolge. Am Anfang stehen
Chaos und Wut, dann folgt Konfusion und am Ende stehen Resignation und das
Akzeptieren der Umstände“, erklärt Reznor. „Für mich hat die Platte eine ganz
eigene Identität. Sie erfüllt einen Zweck, und die Leichtigkeit, mit der sie
entstand, sehe ich als Zeichen dafür, das Richtige getan zu haben. Ich hatte
das Gefühl, es hätte auf einer unterbewussten Ebene einen Masterplan gegeben.
Anders kann ich es mir nicht erklären, dass die einzelnen Teile sich so perfekt
zusammenfügten. Jetzt ist es Zeit, den zweiten Teil des Albums anzugehen. Ich
bin im Moment körperlich zwar ziemlich angeschlagen, aber das macht nur das
Auf-Tour-Sein. Das Wichtigste ist, dass ich jetzt weiß, dass Kreativität nicht
solch eine angsteinflößende Erfahrung sein muss, wie ich früher immer gedacht
habe!“
Carsten
Wohlfeld
Fotos ©
Sandro Griesbach, www.darkmoments.de
www.nin.com
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