Nine Inch Nails - Zurück zum Fan
Ein Album, das keines ist. Ein Topseller, der keiner mehr sein will.
Und ein Opus, das zeigt, wie weit hinaus moderne Musik fahrenkann, ohne
Avantgarde zu sein: Trent Reznor definiert Nine Inch Nails neu – mit dem
Doppelalbum „Ghosts I – IV“, das vor allem eins sein soll: eine Einladung ans
Publikum, mitzuwirken. Willkommen auf dem Abenteuerspielplatz der virtuellen
Zukunft.
Text: Sascha Krüger
Fotos: Tamar Levine
Warum habe ich damals mit dem
ganzen Kram begonnen? Ich wusste, ich will Teil dieser Szene sein. Ich wollte
Musik machen, die für immer existiert und die so ehrlich mir selbst und meinen
Sinnen gegenüber ist, wie sie nur sein kann. Und ja, ich wollte auch ein Stück
weit die Welt verändern. Nun habe ich Gelegenheit dazu. Das Ergebnis dieser
Chance ist ‚Ghosts‘. Ich freue ich mich darauf zu beobachten, was die Welt
daraus macht.‘
- Trent Reznor im April 2008
Es ist so ernüchternd wie
spannend: Die Musikbranche ist am Arsch. Wie ein monströser Vampir verbeißt sie
sich in den Hälsen der letzten verbliebenen Geldkühe. Und während sie ohne
jeden Halt über dem Abgrund zu schweben scheint und offenen Auges dem freien
Fall begegnet, denken ein paar Visionäre weiter und versuchen, neue Wege zu
gehen. Radiohead taten es mit „In Rainbows“, auch der grenzwandelnde HipHopper
Saul Williams mit seinem Album „The Inevitable Rise And Liberation Of Niggi
Tardust!“. Es wurde produziert von Trent Reznor, schon immer bekannt für futuristische
Experimente jeder Couleur. Und so überzeugte er Williams, seine Platte lediglich
als Download zu veröffentlichen. Kommerziell ging die Sache schief noch
schiefer als beim mutmaßlichen Flop von „In Rainbows“: Bei der Wahl, ob man die
Musik in solider Qualität für umsonst oder in brillanter Qualität für einen
kleinen Unkostenbeitrag runterladen wolle, entschied sich die ernüchternde
Mehrheit für den Gratisweg. Nach 100.000 kostenlosen Downloads machten
Radiohead Schluss. Frisst da die Revolution ihre Kinder? Es scheint so.
Fragt man hingegen Trent Reznor -
nach der Veröffentlichung des Remix-Albums zu „Year Zero“ am Ende seines
Labeldeals mit Universal angekommen und nunmehr als Künstler vorsätzlich
heimatlos -, so liegt die Schuld bei der grundsätzlichen Fehlschaltung moderner
Konsumkultur. Er selber, dieser muskelgestählte, straffe Kerl, der zumindest in
den letzten Jahren durch seine bloße Präsenz pure Sicherheit und künstlerische
Zuversicht ausstrahlte, hadert durchaus mit dem Stein, den er ins Rollen
gebracht hat: „Ohne Label dazustehen, ist ein seltsames Gefühl. Sprechen wir
nicht über die offensichtlichen Vorzüge wie die Freiheit des Künstlers oder das
Entrinnen aus einem Geschäftsmodell, das sich schon lange überlebt hat. Aber es
gibt an dieser Situation auch eindeutig verunsichernde Faktoren. Denn es ist
ein sehr komisches Gefühl, wenn plötzlich nichts mehr vor gegeben ist, wenn jede
klare Richtung fehlt, in die man sich entwickeln kann. Damit meine ich nicht
mal die Musik perse, sondern vor allem deine Position als Künstler und die
Frage, wie man Musik veröffentlicht, so dass alle Beteiligten möglichst viel
davon haben. Die ganzen neuen Vertriebsformen hängen stark vom gegenseitigen
Respekt zwischen Künstler und Konsument ab - beachtet eine Seite das nicht,
kann das Modell schnell fehllaufen. Mein Eindruck ist, dass vor ein paar Jahren
die gesamte Idee popmusikalischer Vermarktung auf eine schiefe Bahn geraten
ist. Heute gilt nur noch ‚gut = hohe Verkäufe‘ - eine Gleichung, die sich auch
in vielen Köpfen der Konsumenten festgesetzt hat Und es ist wohl
offensichtlich, dass ich dieser Einstellung konträr gegenüberstehe. Auch das
ist wohl ein Grund, warum es ‚Ghosts I-IV gibt: Es soll der Beweis sein, dass
auch abstrakte, in den Augen einer Plattenfirma unverkäufliche Musik ihre Zielgruppe
finden und als Erfolg verbucht werden kann.“
Sein Wort in des Konsumenten Ohr.
Immerhin, über 8oo.ooo Downloads - ein geschatzter Reingewinn von rund 1,8
Millionen US-Dollar - sind in den ersten drei Wochen für ein reines
Instrumental-Doppelalbum mehr als ordentliche Zahlen. Denn fürwahr Abstrakt ist
„Ghosts I-IV“ geraten. Es ist alles andere als ein klassisches Album es ist
eher ein Werkzeug zum Austesten neuer Chancen. Zudem kann der Fan zwischen
diversen Formaten wählen - vom Vierfach-Vinyl über das Deluxe-Boxset, vom
klassischen bis zum Multispuren-Download, der dem User ermöglicht, Reznors
Musik als Blaupause für eigene Remixe zu nutzen. Zurück zum Fan, zurück zur
Basis, zurück zum möglichst direkten Austausch zwischen Künstler und Adressat also
- das scheint die inhaltliche Maxime von „Ghosts“ zu sein. Bleibt die Frage: Was
war zuerst da - die Musik selbst oder die Vermarktungsidee dahinter? „Den Einfall
hatte ich vergangenen Herbst. Ich fühlte mich wie gefangen zwischen zwei großen
Projekten. Also setzte ich mich in mein Studio, griff mir ein Instrument und
begann zu spielen. Dabei stellte ich fest, dass mir - sobald ich aufhöre,
bewusst über Musik nachzudenken - unmittelbar diese neuen Sounds aus den
Fingern flossen. Das machte mir Spaß, und so kam ich zur Idee, ein Album
aufzunehmen, bei dem ich den Aspekt des Regisseurs einmal komplett ausblende.
Die Musik sollte sich vielmehr aus sich selbst her aus entwickeln.“
Kein einfaches Unterfangen für
einen, der noch im Rahmen der Interviews zu „With Teeth“ erklärte, dass
Musikmachen ohne festgelegte Regeln und vorsätzliche Limitierungen kaum möglich
sei. „Ich brauche diese Limitierung, denn erst aus ihr er wächst eine neue
Form.“ So ging es auch jetzt nicht völlig ohne festgelegte Parameter. Die Vorgabe,
die Reznor und sein Langzeit-Studiopartner Atticus Ross machten, hieß: zehn
Wochen Arbeit, keinen Tag länger. Was immer bis dahin fertig wäre, wie auch
immer es klingen möge: Das sei das Album. „Sehr schnell zeichnete sich ab, dass
das, was da entstand, anders ausfallen würde als das, was man dieser Tage ein
Album nennt. Und vor allem, dass kein herkömmliches Label mit dieser Form von
Platte etwas anfangen könnte. Dennoch fühlte es sich richtig an. Also machten
wir weiter und endeten bei 36 Instrumentaltracks, die auf uns wirkten wie die
Soundtracks zu unseren Tagträumen.“ Zwar folgten schon die instrumentalen
Zwischenstücke auf „The Fragile“ vor fast zehn Jahren diesem Gedanken. Doch
nicht in einer so ungezwungenen Form wie jetzt: „Es war eine wahnsinnig
angenehme Erfahrung, Musik zu machen ohne die ganzen üblichen Ebenen. Keine
Spur Kopfzerbrechen über die Aussage, die Stärke des Inhalts oder die ewige
Frage der Plattenfirma, ob das neue Material denn wohl auf irgendeine Weise den
popmusikalischen Zeitgeist treffen würde. Es war alles in einem natürlichen
Fluss, ein Sound kam zum nächsten. Ich war dabei nur das Medium, das die
Elemente zusammenbringt; wie ein Impressionist, der seine Gefühle,
Zusammenhänge und Bilder rein intuitiv in eine andere Zustandsform überträgt,
um sich selbst davon überraschen zu lassen, was dabei am Ende herauskommt.“
Nicht weniger überraschend: Der
überzeugte Studioeremit Reznor findet nunmehr Gefallen an Kooperationen. Alle
36 Tracks entstanden im kreativen Clinch mit Atticus Ross. „Meistens lieferte
ich die Klangquelle und die dem Track zugrunde liegende harmonische Idee, und
Atticus transformierte sie dann in das, was auch immer er daraus machen wollte
und was ihm sein Kopfkino zur jeweiligen Idee erzählte.“ Hinzu kamen gute
Freunde wie NIN Gitarrist Alessandro Cortini, King-Crimson-Sänger Adrian Belew
und Dresden-Dolls-Gitarrist Brian Viglione, die ein paar Dinge ergänzten. Ja,
sogar Reznors ultimatives Hoheitsgebiet - den Mix und die Produktion - gab er
aus der Hand und in den Verantwortungsbereich des alten Bandkumpels Alan
Moulder. So entstand ein Werk „ohne jeden Druck, ohne Vorgabe und Ziel“, ein
Vehikel zum Austesten der Möglichkeiten, eine Grundlage für immer neue Ideen -
ob sie nun den Vertrieb, Image, Kommunikation mit Fans oder die Kunst selbst
betreffen. Offenbar ein Spiel ohne Grenzen: Unlängst wurde auch noch das
virtuelle „Ghosts Film Festival“ ins Leben gerufen - gemeinsam mit Google und
You Tube fahndet Reznor auf die Art nach talentierten Nachwuchsfilmern, die
seine Klang gewordenen Tagträume zurück ins Visuelle transformieren. Auf
YouTube sagt er dazu: „Ich freue mich darauf, endlose Stunden vor dem Computer
zu verbringen, um mir eure Ideen und Visuals anzuschauen. Und ich freue mich
darauf schwer beeindruckt zu sein - denn das ist, was ich von meinen Fans
erwarte.“
Blitzmeldung
Gerade noch rechtzeitig vor
Drucklegung erreichten uns die News, dass Nine Inch Nails über die URL
http://theslip.nin.com ein weiteres neues Album verschenken. Wir haben „The
Slip“ Song für Song probe gehört:
01. 999,999 Sphärisches Elektro-Intro.
02. 1,000,000 Geradezu klassischer NIN-Rocksong mit Hitpotential.
03. Letting You Ein stolperndes Schlagzeug läutet eine straighte,
verzerrte Nummer ein. Zwischendurch klingt Trent wie ein quiekendes Schwein.
04. Discipline Melancholische Pianosounds und ein tanzbarer Drumbeat
sorgen für einen weitern Hit.
05. Echoplex Recht monoton dahintrippelnder Track mit zurückhaltendem,
meist flüstern dem Trent.
06. Head Down Verzerrte Beats und Gitarren grätschen schräg rein.
07. Lights In The Sky Trent solo am Piano - wohl eine Art Intro für das
folgende Stück.
08. Corona Radiata Mit fast acht Minuten der längste Track der Platte.
Fast lautloser Ambient-Trip, der sich erst am Ende synthetisch aufbäumt — und
wieder abebbt.
09. The Four Of Us Are Dying Weiter geht die instrumentale Reise durch Ambientlandschaften.
Diesmal mit elektronischem Metronom.
10. Demon Seed Wieder ein Song mit Form und den typischen NIN-Zutaten.
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