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Jahr 2008

 

 

Visions

 

Juni 2008

 

Nine Inch Nails - Zurück zum Fan

 

  Text: Sascha Krüger

Fotos: Tamar Levine

 

 

Nine Inch Nails - Zurück zum Fan

Ein Album, das keines ist. Ein Topseller, der keiner mehr sein will. Und ein Opus, das zeigt, wie weit hinaus moderne Musik fahrenkann, ohne Avantgarde zu sein: Trent Reznor definiert Nine Inch Nails neu – mit dem Doppelalbum „Ghosts I – IV“, das vor allem eins sein soll: eine Einladung ans Publikum, mitzuwirken. Willkommen auf dem Abenteuerspielplatz der virtuellen Zukunft.

Text: Sascha Krüger

Fotos: Tamar Levine

Warum habe ich damals mit dem ganzen Kram begonnen? Ich wusste, ich will Teil dieser Szene sein. Ich wollte Musik machen, die für immer existiert und die so ehrlich mir selbst und meinen Sinnen gegenüber ist, wie sie nur sein kann. Und ja, ich wollte auch ein Stück weit die Welt verändern. Nun habe ich Gelegenheit dazu. Das Ergebnis dieser Chance ist ‚Ghosts‘. Ich freue ich mich darauf zu beobachten, was die Welt daraus macht.‘

- Trent Reznor im April 2008

Es ist so ernüchternd wie spannend: Die Musikbranche ist am Arsch. Wie ein monströser Vampir verbeißt sie sich in den Hälsen der letzten verbliebenen Geldkühe. Und während sie ohne jeden Halt über dem Abgrund zu schweben scheint und offenen Auges dem freien Fall begegnet, denken ein paar Visionäre weiter und versuchen, neue Wege zu gehen. Radiohead taten es mit „In Rainbows“, auch der grenzwandelnde HipHopper Saul Williams mit seinem Album „The Inevitable Rise And Liberation Of Niggi Tardust!“. Es wurde produziert von Trent Reznor, schon immer bekannt für futuristische Experimente jeder Couleur. Und so überzeugte er Williams, seine Platte lediglich als Download zu veröffentlichen. Kommerziell ging die Sache schief noch schiefer als beim mutmaßlichen Flop von „In Rainbows“: Bei der Wahl, ob man die Musik in solider Qualität für umsonst oder in brillanter Qualität für einen kleinen Unkostenbeitrag runterladen wolle, entschied sich die ernüchternde Mehrheit für den Gratisweg. Nach 100.000 kostenlosen Downloads machten Radiohead Schluss. Frisst da die Revolution ihre Kinder? Es scheint so.

Fragt man hingegen Trent Reznor - nach der Veröffentlichung des Remix-Albums zu „Year Zero“ am Ende seines Labeldeals mit Universal angekommen und nunmehr als Künstler vorsätzlich heimatlos -, so liegt die Schuld bei der grundsätzlichen Fehlschaltung moderner Konsumkultur. Er selber, dieser muskelgestählte, straffe Kerl, der zumindest in den letzten Jahren durch seine bloße Präsenz pure Sicherheit und künstlerische Zuversicht ausstrahlte, hadert durchaus mit dem Stein, den er ins Rollen gebracht hat: „Ohne Label dazustehen, ist ein seltsames Gefühl. Sprechen wir nicht über die offensichtlichen Vorzüge wie die Freiheit des Künstlers oder das Entrinnen aus einem Geschäftsmodell, das sich schon lange überlebt hat. Aber es gibt an dieser Situation auch eindeutig verunsichernde Faktoren. Denn es ist ein sehr komisches Gefühl, wenn plötzlich nichts mehr vor gegeben ist, wenn jede klare Richtung fehlt, in die man sich entwickeln kann. Damit meine ich nicht mal die Musik perse, sondern vor allem deine Position als Künstler und die Frage, wie man Musik veröffentlicht, so dass alle Beteiligten möglichst viel davon haben. Die ganzen neuen Vertriebsformen hängen stark vom gegenseitigen Respekt zwischen Künstler und Konsument ab - beachtet eine Seite das nicht, kann das Modell schnell fehllaufen. Mein Eindruck ist, dass vor ein paar Jahren die gesamte Idee popmusikalischer Vermarktung auf eine schiefe Bahn geraten ist. Heute gilt nur noch ‚gut = hohe Verkäufe‘ - eine Gleichung, die sich auch in vielen Köpfen der Konsumenten festgesetzt hat Und es ist wohl offensichtlich, dass ich dieser Einstellung konträr gegenüberstehe. Auch das ist wohl ein Grund, warum es ‚Ghosts I-IV gibt: Es soll der Beweis sein, dass auch abstrakte, in den Augen einer Plattenfirma unverkäufliche Musik ihre Zielgruppe finden und als Erfolg verbucht werden kann.“

Sein Wort in des Konsumenten Ohr. Immerhin, über 8oo.ooo Downloads - ein geschatzter Reingewinn von rund 1,8 Millionen US-Dollar - sind in den ersten drei Wochen für ein reines Instrumental-Doppelalbum mehr als ordentliche Zahlen. Denn fürwahr Abstrakt ist „Ghosts I-IV“ geraten. Es ist alles andere als ein klassisches Album es ist eher ein Werkzeug zum Austesten neuer Chancen. Zudem kann der Fan zwischen diversen Formaten wählen - vom Vierfach-Vinyl über das Deluxe-Boxset, vom klassischen bis zum Multispuren-Download, der dem User ermöglicht, Reznors Musik als Blaupause für eigene Remixe zu nutzen. Zurück zum Fan, zurück zur Basis, zurück zum möglichst direkten Austausch zwischen Künstler und Adressat also - das scheint die inhaltliche Maxime von „Ghosts“ zu sein. Bleibt die Frage: Was war zuerst da - die Musik selbst oder die Vermarktungsidee dahinter? „Den Einfall hatte ich vergangenen Herbst. Ich fühlte mich wie gefangen zwischen zwei großen Projekten. Also setzte ich mich in mein Studio, griff mir ein Instrument und begann zu spielen. Dabei stellte ich fest, dass mir - sobald ich aufhöre, bewusst über Musik nachzudenken - unmittelbar diese neuen Sounds aus den Fingern flossen. Das machte mir Spaß, und so kam ich zur Idee, ein Album aufzunehmen, bei dem ich den Aspekt des Regisseurs einmal komplett ausblende. Die Musik sollte sich vielmehr aus sich selbst her aus entwickeln.“

Kein einfaches Unterfangen für einen, der noch im Rahmen der Interviews zu „With Teeth“ erklärte, dass Musikmachen ohne festgelegte Regeln und vorsätzliche Limitierungen kaum möglich sei. „Ich brauche diese Limitierung, denn erst aus ihr er wächst eine neue Form.“ So ging es auch jetzt nicht völlig ohne festgelegte Parameter. Die Vorgabe, die Reznor und sein Langzeit-Studiopartner Atticus Ross machten, hieß: zehn Wochen Arbeit, keinen Tag länger. Was immer bis dahin fertig wäre, wie auch immer es klingen möge: Das sei das Album. „Sehr schnell zeichnete sich ab, dass das, was da entstand, anders ausfallen würde als das, was man dieser Tage ein Album nennt. Und vor allem, dass kein herkömmliches Label mit dieser Form von Platte etwas anfangen könnte. Dennoch fühlte es sich richtig an. Also machten wir weiter und endeten bei 36 Instrumentaltracks, die auf uns wirkten wie die Soundtracks zu unseren Tagträumen.“ Zwar folgten schon die instrumentalen Zwischenstücke auf „The Fragile“ vor fast zehn Jahren diesem Gedanken. Doch nicht in einer so ungezwungenen Form wie jetzt: „Es war eine wahnsinnig angenehme Erfahrung, Musik zu machen ohne die ganzen üblichen Ebenen. Keine Spur Kopfzerbrechen über die Aussage, die Stärke des Inhalts oder die ewige Frage der Plattenfirma, ob das neue Material denn wohl auf irgendeine Weise den popmusikalischen Zeitgeist treffen würde. Es war alles in einem natürlichen Fluss, ein Sound kam zum nächsten. Ich war dabei nur das Medium, das die Elemente zusammenbringt; wie ein Impressionist, der seine Gefühle, Zusammenhänge und Bilder rein intuitiv in eine andere Zustandsform überträgt, um sich selbst davon überraschen zu lassen, was dabei am Ende herauskommt.“

Nicht weniger überraschend: Der überzeugte Studioeremit Reznor findet nunmehr Gefallen an Kooperationen. Alle 36 Tracks entstanden im kreativen Clinch mit Atticus Ross. „Meistens lieferte ich die Klangquelle und die dem Track zugrunde liegende harmonische Idee, und Atticus transformierte sie dann in das, was auch immer er daraus machen wollte und was ihm sein Kopfkino zur jeweiligen Idee erzählte.“ Hinzu kamen gute Freunde wie NIN Gitarrist Alessandro Cortini, King-Crimson-Sänger Adrian Belew und Dresden-Dolls-Gitarrist Brian Viglione, die ein paar Dinge ergänzten. Ja, sogar Reznors ultimatives Hoheitsgebiet - den Mix und die Produktion - gab er aus der Hand und in den Verantwortungsbereich des alten Bandkumpels Alan Moulder. So entstand ein Werk „ohne jeden Druck, ohne Vorgabe und Ziel“, ein Vehikel zum Austesten der Möglichkeiten, eine Grundlage für immer neue Ideen - ob sie nun den Vertrieb, Image, Kommunikation mit Fans oder die Kunst selbst betreffen. Offenbar ein Spiel ohne Grenzen: Unlängst wurde auch noch das virtuelle „Ghosts Film Festival“ ins Leben gerufen - gemeinsam mit Google und You Tube fahndet Reznor auf die Art nach talentierten Nachwuchsfilmern, die seine Klang gewordenen Tagträume zurück ins Visuelle transformieren. Auf YouTube sagt er dazu: „Ich freue mich darauf, endlose Stunden vor dem Computer zu verbringen, um mir eure Ideen und Visuals anzuschauen. Und ich freue mich darauf schwer beeindruckt zu sein - denn das ist, was ich von meinen Fans erwarte.“

Blitzmeldung

Gerade noch rechtzeitig vor Drucklegung erreichten uns die News, dass Nine Inch Nails über die URL http://theslip.nin.com ein weiteres neues Album verschenken. Wir haben „The Slip“ Song für Song probe gehört:

01. 999,999 Sphärisches Elektro-Intro.

02. 1,000,000 Geradezu klassischer NIN-Rocksong mit Hitpotential.

03. Letting You Ein stolperndes Schlagzeug läutet eine straighte, verzerrte Nummer ein. Zwischendurch klingt Trent wie ein quiekendes Schwein.

04. Discipline Melancholische Pianosounds und ein tanzbarer Drumbeat sorgen für einen weitern Hit.

05. Echoplex Recht monoton dahintrippelnder Track mit zurückhaltendem, meist flüstern dem Trent.

06. Head Down Verzerrte Beats und Gitarren grätschen schräg rein.

07. Lights In The Sky Trent solo am Piano - wohl eine Art Intro für das folgende Stück.

08. Corona Radiata Mit fast acht Minuten der längste Track der Platte. Fast lautloser Ambient-Trip, der sich erst am Ende synthetisch aufbäumt — und wieder abebbt.

09. The Four Of Us Are Dying Weiter geht die instrumentale Reise durch Ambientlandschaften. Diesmal mit elektronischem Metronom.

10. Demon Seed Wieder ein Song mit Form und den typischen NIN-Zutaten.

 

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