Nine Inch Nails
Beside In Time
Interscope/Universal
Keiner leidet so schön wie Trent Reznor. Der Hohepriester des
Industrial-Rock nutzt den zweistündigen Konzert-Mitschnitt zur schonungslosen
Selbsttherapie - und verblüfft mit bizepsgeschwängerter Optik.
Denn, liebe Damen, der bleiche
Mann mit den pechschwarzen Haaren, der euch seit Jahren von wildem,
animalischem Sex träumen lässt (,‚I wanna fuck you like an animal“), erinnert
heute eher an Henry Rahms mit Kajalstift: ein Muskelprotz mit Stiernacken und
Millimeterhaarschnitt, der sich als rockistische Rampensau versteht und zwei
Stunden lang gezielten therapeutischen Kehr aus betreibt. Denn ganz gleich, ob
er sich in „Terrible Lie“ ausweint, in „March Of The Pigs“ rumschreit, in
„Burn“ mit seiner Gitarre schmust oder in „Hurt“ selbstversunken am Piano klimpert
- der Superstar der 90er thematisiert immer nur sich selbst: seine Gefühle,
Ängste, Zweifel und Neurosen, die er mal in sphärisch-morbide Klanggemälde, mal
in wütende Punk-Traktate kleidet und dabei einen schonungslosen Exorzismus vor
großem Publikum zelebriert. Denn die beiden Konzerte, die Ende März 2006 in
Oklahoma City und El Paso mitgeschnitten wurden, fanden nicht etwa in Clubs
statt, sondern in riesigen Mehrzweck-Arenen mit über 10.000 Zuschauern. Ein
Indiz dafür, wie populär NIN trotz deutlich sinkender Verkaufszahlen immer noch
sind. Zu Recht: Auf der Bühne sind die 1-Mann-Band und ihre austauschbaren
Helfer in der Form ihres Lebens. Das beginnt bei exquisiten Musikern wie
Jeordie White (Bass), Josh Freese (Drums), Aaron North (Gitarre) und Alessandro
Cortini (Keyboards) und reicht von einem fetten Sound bis zu einer
minimalistischen Show, die ohne großes technisches Brimborium auskommt und
trotzdem absolut stimmungsvoll anmutet. Eben mit kraftvollen Rot-, Grün- und
Blautönen sowie effektvollen Plasmabild-Projektionen. Zu dem besteht die
Setliste nicht nur aus Stücken von WITH TEETH, sondern erweist sich als
repräsentativer Karriere-Querschnitt mit Klassikern wie „Closer“, „Gave Up“,
„Eraser“, „Wish“ und „Hurt“. Höhepunkte sind „Burn“ aus dem Soundtrack von NATURAL
BORN KILLERS und eine großartige Version von „Head Like A Hole“, mit der die
Show nach über zwei Stunden in Chaos und Feedback samt Stroboskop-Gewitter
endet. Trent Reznor has left the building - nur um in den Extras für drei
Live-Tracks und zwei Videos zurückzukehren. Opulent, plättend, kongenial. Ein
schöner Schmerz.
4 ½ Sterne
Marcel Anders
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