Magie zum Mitsingen - Nine Inch Nails machen
Nägel mit Köpfen
Die ältliche Betreuerin der Plattenfirma klammert sich mit
versteinertem Gesicht an ihr Handtäschchen. Es scheint ihr letzter Halt zu sein
an diesem Abend. Kein Wunder. Immerhin treiben Trent Reznor und seine Nine Inch
Nails in der Frankfurter Music Hall ihr Unwesen. Mit der Wucht eines Kinnhakens
brechen sich ihre "Terrible Lies" durch dichte Nebelschwaden eine Bahn an den
Kopf des Zuhörers. Dantes Inferno im Vorhof zur Hölle. Ein Ort, ganz nach dem
Geschmack des anwesenden Publikums. Zu einem Gutteil tätowiert und teilweise in
Nase und Nabel mit Ringen bestückt, delektiert sich die zahlende Zuhörerschaft
bei völlig abgedrehtem Stage Diving an Reznors schneidend scharfem
Sado-Maso-Trip. Derweil rammt der Trend-Trent, ausstaffiert mit dunklen
Netzstrümpfen, Hotpants und grellrotem Lippenstift, seinen Mikrofonständer in
die umstehenden Lautsprecher. Spaß muss sein, koste es was es wollen. Zu den
15.000 Mark, die Nine Inch Nails bei ihren ersten Konzerten auf deutschem Boden
für grob dahingeschlachtetes Equipment verbraucht haben, kommen an diesem Abend
noch ein paar Scheine hinzu.
Doch was soll's. Reznor, hinter der Bühne ein eher stiller,
unscheinbarer Typ, der einzig durch sein blauschwarz eingefärbtes, kinnlanges
Spaghetti-Haar auffällt, kann sich derlei Eskapaden inzwischen leisten. Erst
recht nach seinem lehmverschmierten Auftritt bei der 94er Neuauflage des
legendären Woodstock-Festivals, bei dem er zum Abräumer schlechthin avacierte.
Reznors aberwitze Mixtur aus musikalischer Synthetik, verzerrten Gitarren und
düsteren Texten trifft den Geschmack der Generation X. Bester Beweis:
Mittlerweile macht der aus Cleveland stammende Multi-Instrumentalist, der seine
Platten grundsätzlich allein einspielt, in den USA Millionenumsätze. Für die
92er E.P. "Broken" gab's gar einen Grammy. Dennoch: Bis heute umgibt Reznor die
Aura des Unheimlichen. So steht beispielsweise "The Downward Spiral", das
aktuelle Album von Nine Inch Nails, auf makabre Weise mit dem dunklen Mythos um
die Killerkommune von Charles Manson in Verbindung. Die Geräuschcollagen "March
Of The Pigs" und "Piggy" beziehen sich unzweifelhaft auf das Wort "Pig", das
Mansons Bande im Sommer 1969 mit dem Blut der von ihnen ermordeten
Schauspielerin und Polanski-Ehefrau Sharon Tate auf die Wände des 10050 Cielo
Drive in Beverly Hills schmierten - jener Adresse, die 25 Jahre später zu
Reznors Studio "Le Pig" mutieren sollte.
Kein Wunder also, dass sich der Fürst der
Rock'n'Roll-Finsternis auch auf der Bühne satanisch gebärdet. Rabiat stößt er
seine beiden Gitarristen in die aufgewühlte Menge. Mit Schürfwunden an Armen und
Beinen werden sie vom Ordnungspersonal in Sicherheit gebracht. Doch der
Blitzkrieg zwischen Mensch und Maschine dauert an. Inmitten restlos
zertrümmerter Instrumente rast ein völlig durchnässter Reznor - die
Wasserflaschen dienen nur in Ausnahmefällen als Durstlöscher - im
Adrenalinrausch über die Bühne. Fast so, als gelte es, sich für Oliver Stones
umstrittenen Streifen "Natural Born Killers" als neue Idealbesetzung zu
empfehlen. Ein Film, an dem Reznor via Soundtrack ohnehin beteiligt war -
Sympathy For The Devil? Oder doch nur eine wohlkalkulierte Show für
hartgesottene Konzertgänger?
Auf das Publikum jedenfalls übt das scheinbar Böse einen
beinahe unerklärlichen Reiz aus. Man will ihm nahe sein, dem Mann mit dem Charme
eines Rasiermessers. Und so verteilt die Dame von der Plattenfirma, mit neuem
Mut gesegnet, an einige auserwählte Konzertbesucher Backstagepässe. Nach der
Materialschlacht auf der Bühne deutsch-amerikanischer Kulturaustausch hinter den
Kulissen. Bevor es soweit ist, setzen Reznor und seine malträtierten Musiker zu
einem letzten Song an. Die vierte, durch das Publikum schwer erkämpfte Zugabe
besteht aus der Nine Inch Nails-Hymne "Head Like A Hole" vom ersten Album der
Band. Eine Nummer, die fast alle Konzertbesucher kennen. Dunkle Magie zum
Mitsingen.
Mike Köhler
Fakten
Zuschauer: 5.000 Besucher bei fünf Konzerten
Ticket: 35 DM
Catering: keine Vorlieben oder ausgefallene Wünsch; ganz
normale Kost
Besonderheit: Depeche Modes Dave Gahan beschreibt Trent
Reznor mit den Worten: "auf Tour wirkt er immer wie ein deprimierender Fucker"