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Musikexpress Jahrbuch 1995

 

Juni 2005

 

Fürst der Finsternis

(Review der Deutschlandtour)

 

Autor: Mike Köhler

 

 

Magie zum Mitsingen - Nine Inch Nails machen Nägel mit Köpfen

 Die ältliche Betreuerin der Plattenfirma klammert sich mit versteinertem Gesicht an ihr Handtäschchen. Es scheint ihr letzter Halt zu sein an diesem Abend. Kein Wunder. Immerhin treiben Trent Reznor und seine Nine Inch Nails in der Frankfurter Music Hall ihr Unwesen. Mit der Wucht eines Kinnhakens brechen sich ihre "Terrible Lies" durch dichte Nebelschwaden eine Bahn an den Kopf des Zuhörers. Dantes Inferno im Vorhof zur Hölle. Ein Ort, ganz nach dem Geschmack des anwesenden Publikums. Zu einem Gutteil tätowiert und teilweise in Nase und Nabel mit Ringen bestückt, delektiert sich die zahlende Zuhörerschaft bei völlig abgedrehtem Stage Diving an Reznors schneidend scharfem Sado-Maso-Trip. Derweil rammt der Trend-Trent, ausstaffiert mit dunklen Netzstrümpfen, Hotpants und grellrotem Lippenstift, seinen Mikrofonständer in die umstehenden Lautsprecher. Spaß muss sein, koste es was es wollen. Zu den 15.000 Mark, die Nine Inch Nails bei ihren ersten Konzerten auf deutschem Boden für grob dahingeschlachtetes Equipment verbraucht haben, kommen an diesem Abend noch ein paar Scheine hinzu.

Doch was soll's. Reznor, hinter der Bühne ein eher stiller, unscheinbarer Typ, der einzig durch sein blauschwarz eingefärbtes, kinnlanges Spaghetti-Haar auffällt, kann sich derlei Eskapaden inzwischen leisten. Erst recht nach seinem lehmverschmierten Auftritt bei der 94er Neuauflage des legendären Woodstock-Festivals, bei dem er zum Abräumer schlechthin avacierte. Reznors aberwitze Mixtur aus musikalischer Synthetik, verzerrten Gitarren und düsteren Texten trifft den Geschmack der Generation X. Bester Beweis: Mittlerweile macht der aus Cleveland stammende Multi-Instrumentalist, der seine Platten grundsätzlich allein einspielt, in den USA Millionenumsätze. Für die 92er E.P. "Broken" gab's gar einen Grammy. Dennoch: Bis heute umgibt Reznor die Aura des Unheimlichen. So steht beispielsweise "The Downward Spiral", das aktuelle Album von Nine Inch Nails, auf makabre Weise mit dem dunklen Mythos um die Killerkommune von Charles Manson in Verbindung. Die Geräuschcollagen "March Of The Pigs" und "Piggy" beziehen sich unzweifelhaft auf das Wort "Pig", das Mansons Bande im Sommer 1969 mit dem Blut der von ihnen ermordeten Schauspielerin und Polanski-Ehefrau Sharon Tate auf die Wände des 10050 Cielo Drive in Beverly Hills schmierten - jener Adresse, die 25 Jahre später zu Reznors Studio "Le Pig" mutieren sollte.

 Kein Wunder also, dass sich der Fürst der Rock'n'Roll-Finsternis auch auf der Bühne satanisch gebärdet. Rabiat stößt er seine beiden Gitarristen in die aufgewühlte Menge. Mit Schürfwunden an Armen und Beinen werden sie vom Ordnungspersonal in Sicherheit gebracht. Doch der Blitzkrieg zwischen Mensch und Maschine dauert an. Inmitten restlos zertrümmerter Instrumente rast ein völlig durchnässter Reznor - die Wasserflaschen dienen nur in Ausnahmefällen als Durstlöscher - im Adrenalinrausch über die Bühne. Fast so, als gelte es, sich für Oliver Stones umstrittenen Streifen "Natural Born Killers" als neue Idealbesetzung zu empfehlen. Ein Film, an dem Reznor via Soundtrack ohnehin beteiligt war - Sympathy For The Devil? Oder doch nur eine wohlkalkulierte Show für hartgesottene Konzertgänger?

 Auf das Publikum jedenfalls übt das scheinbar Böse einen beinahe unerklärlichen Reiz aus. Man will ihm nahe sein, dem Mann mit dem Charme eines Rasiermessers. Und so verteilt die Dame von der Plattenfirma, mit neuem Mut gesegnet, an einige auserwählte Konzertbesucher Backstagepässe. Nach der Materialschlacht auf der Bühne deutsch-amerikanischer Kulturaustausch hinter den Kulissen. Bevor es soweit ist, setzen Reznor und seine malträtierten Musiker zu einem letzten Song an. Die vierte, durch das Publikum schwer erkämpfte Zugabe besteht aus der Nine Inch Nails-Hymne "Head Like A Hole" vom ersten Album der Band. Eine Nummer, die fast alle Konzertbesucher kennen. Dunkle Magie zum Mitsingen.

 Mike Köhler

 Fakten

 Zuschauer: 5.000 Besucher bei fünf Konzerten

Ticket: 35 DM

Catering: keine Vorlieben oder ausgefallene Wünsch; ganz normale Kost

Besonderheit: Depeche Modes Dave Gahan beschreibt Trent Reznor mit den Worten: "auf Tour wirkt er immer wie ein deprimierender Fucker"

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