Nine Inch Nails
Berlin, Columbiahalle
Die Zukunft des Rock’N’Roll ist
multimedial:
Beschallt von einem
THX-Dolby-Surround-System fliegen die Fans mittels ihrer von den EEG-Impulsen
des Frontmanns auf der virtuellen Bühne getriggerten 3-D-Brillen durch die
assoziativen Schluchten der Songs. Das alles gib es bei Nine Inch Nails nicht,
und am Ende des Konzertes reibt man sich verwundert die Augen und fragt: Warum
zum Teufel ist die ganze, zum Brechen gefüllte Comlumbiahalle dennoch knapp
zwei Stunden hypnotisiert mitgeflogen? Wo Trent Reznor, Mister Nine Inch Nails,
sowieso dafür bekannt ist, sich lieber – wie zuletzt für die Produktion des
Doppelalbums „The Fragile“ – fünf Jahre lang im Studio einzuschließen, als sich
der Schlangengrubensituation „Konzert“ zu stellen. Doch Reznor scheint gerade
wegen der jahrelangen Klausur nach der Live-Entladung zu lechzen. Kaum ein
anderer Rock-Entwurf am Ende des Jahrhunderts könnte ihm einen dafür
geeigneteren Laufsteg bieten, als die aktuelle Outline seiner Band Nine Inch
Nails: Industrial-Rock, der seinen Druck auf der Bühne mehr von drei
Stromgitarren denn von allzu viel Elektronikschnickschnack bezieht, Post-Punk,
der auch im 7/8tel Takt nicht holpert, nackte, griffige Songs, deren Studioarrangementschalen
schamlos abgepellt werden – und mitten drin Trent Reznors musikgewordener
Parforce-Ritt durch die dunklen Abgründe seiner verworrenen Seele. Nine Inch
Nails, angetreten in der Besetzung, die auch „The Fragile“ einspieltem, bringen
live dennoch nur wenige der neuen Songs:; Einzig Kracher wie „Starfucker“ fügen
sich nahtlos in das Klassiker-Set mit Titeln der Vorgängeralben „Pretty Hate
Machine“ und „The Downward Spiral“ ein. Die zarteren „Fragile“-Pflänzchen erblühen
in dem dafür reservierten Biotop im Konzert-Mittelteil: EinGaze-Vorhang senkt
sich vor der Bühne, auf den – Zugeständnis an die multimediahungrige Zeit –
allerlei verquere Formwandlervideos projiziert werden. Reznor, nur sporadisch
beleuchtet, dirigiert hinter dem Vorhang seine zum Ambientorchester mutierte
Band. Danach reißt er das Ruder wieder herum und versucht die Verbindung beider
Welten: Brachiale werden mit zarten Klängen dynamisch konzerkariert, die
Grooves aus dem Rhythmusbaukasten bleiben auch dann packend und direkt, wenn
sie aus dem BeBop stammen, die Kompositionen vergessen bei aller Komplexität
nie, dass es sich im Grunde um Popmusik dreht – und über alle kreist die in
ihrer Seelentiefe ständig um Echtheit und wahrhaftige Authenzität ringende
Stimme Reznors. Das Jahrzehnt geht, aber Nine Inch Nails haben wenigstens eine
leise Ahnung, wohin
(pvs)
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