Düsseldorf, Stahlwerk
(26.11.99)
"Trent Reznor schwitzt so schön sexy", habe ich mir von einer
Vertreterin des weiblichen Geschlechts verraten lassen. Und überhaupt habe "der
Zerbrechliche" (so ja auch der Titel seines fast zweistündigen, neuen
Monumentalwerks) eine Ausstrahlung, die sich angenehm von den Machos der
Härtefraktion absetzt. So, so…
Fakt ist, dass das schwarzgekleidete Szenenpublikum zu einem
Drittel aus jungen Frauen besteht und die herausfordernde Optik einiger
Clubgänger (inklusive der in Lack und Leder gewandeten Gruftboys) schon beim
Eintritt ins Stahlwerk signalisiert, wer heut auf den Bühnebrettern stehen und
von vornehmlich echten Düsterfans abgefeiert werden wird. Die MTV-Generation ist
zu Hause geblieben: Das atmosphärische und anspruchsvolle Doppelalbum ist wohl
zu sperrig.
Doch die Krux in der Düsseldorfer Industriehalle: Der lange
Schlauch gewährt nur der Hälfte des Publikums einen vernünftigen Blick auf die
Bühne. Ob Reznor schwitzt oder sich total unsexy in der Nase popelt: Die meisten
dürften das kaum mitbekommen, inklusive des Rezensenten, dem heut mal nicht nach
Crowdsurfing zumute ist (ausnahmsweise ml nicht, is' klar… - Red.).
Konzentrieren wir uns also auf das, was man aus 25 Metern Entfernung noch so
wahrnehmen kann. Beim ersten Titel ´Somewhat Damaged' kickt Reznor seinen
Gitarristen erst mal in den Fotograben. Der Klampfer verschwindet (laut unserem
Fotografen Axel Jusseit) daraufhin wütend im Backstagebereich, um vom
Tourmanager anschließend wieder auf die Bühne geschoben zu werden. Ist "The
Fragile" der Draht durchgebrannt? Ansonsten ist von der (gespielten)
Aggressivität früherer Zeiten (von Herrn Manson ja mittlerweile haarklein
kopiert) wenig zu sehen. NINE INCH NAILS kehren stattdessen gekonnt die
musikalische Seite raus. Der Sound ist für die Hallenverhältnisse recht gut und
kommt außerordentlich dynamisch rüber, nicht wie bei vielen EBM-Bands, die mit
zuviel Tapes und Samples herummachen und deren Live-Songs sich kaum von den
Albumversionen unterscheiden. Es sind die ruhigen Zwischentöne, die, von einer
kunstvoll arrangierten Lichtshow eingerahmt (nicht opulent, aber sehr ideereich
wird die Farbpalette nach und nach abgearbeitet), den Unterschied zu den
früheren Brachial-Gigs ausmachen. Als Showhöhepunkt wird in der Mitte des Sets
eine halb durchsichtige (!) Leinwand zwischen Band und Publikum
heruntergelassen, auf die man sowohl Unterwasser- (´La Mer') als auch
Mikroskop-Aufnahmen projiziert. Die Band, von Scheinwerfern stimmungsvoll in
Szene gesetzt, tut dahinter das ihre dazu, um das Publikum rund 20 Minuten auf
einen legalen Trip mitzunehmen.
Quelle: http://www.diepresse.com/Artikel.aspx?channel=k&ressort=ku&id=488790
Konzert:"Wie wenn ein Fremder deine Freundin
küsst"
VON SAMIR H. KÖCK (Die Presse)
16.06.2005
Nine Inch Nails begeisterten in Wien mit
entrückter Hingabe an harte Sounds. Trent Reznor im Gespräch.
Die ersten Fans lagerten um 11 Uhr vormittags vor der Arena,
die här testen noch mit dem Rucksack vom Nova-Rock-Festival. Und wenn Nine Inch
Nails rufen, dann eilen die Freunde herber Klänge nicht nur von weit herbei,
sondern machen sich auch schön. Ins milde Mondlicht dieses Open-Airs wurden
kunstvoll zerrissene Strümpfe, blank polierte Armeestiefel und jede Menge
Tätowierungen ausgetragen. Trent Reznor, leicht paranoider Angst-Apologet und
Metal-Erneuerer, hatte nach Jahren krisenbedingter Absenz zu einem geselligen
Abend gerufen, der - dezibelbedingt - neben Ohrenschmalz auch neue Gedanken zu
seinem Lieblingsthema "Furcht" versprach, wie er sie auf dem Album "(With
Teeth)" vorträgt. Der Vierzigjährige, seit einiger Zeit von allen Giften
befreit, empfing die "Presse" zu einer speziellen Audienz. Neben sich am Sofa
hatte er seine neue Freundin platziert, die ruhig miterleben sollte, wie es so
ist, wenn man tiefschürfend auf Fragen antworten soll wie die: "Leiden Sie an
postnataler Depression, wenn sie ein Album fertig gestellt haben?" Die Schöne
langweilte sich demonstrativ.
Reznor ist ein anderer geworden. Auf der letzten Tour
bedrohlich aufgeschwemmt, präsentiert er sich körperlich extrem fit. Auch sein
Geist ist anders: "Mein neuer Lebensstil hat so ziemlich alles für mich
verändert. Ich habe realisiert, dass viele meiner Ansichten total beschissen
waren, dass ich gefangen war in einem Käfig unreifer Gedanken, die ich wie
besessen variierte. Früher war ich einfach beschränkt, heute sehe ich, dass es
gilt, das Leben mehrdimensional zu leben. Wenn ich früher Jazz hörte, bellte ich
sofort: ,Was für ein Stück Scheiße!' Heute weiß ich, dass Jazz auch etwas Gutes
sein kann. Und was meine Musik anlangt, so habe ich mich früher viel zu oft
selbst zensuriert. Heute habe ich den Mut zu experimentieren."
Fürwahr, das neue, vielschichtige Album geriet extrem gut.
Vor allem für jene, die gerade einsteigen ins Nine-Inch-Nails-Universum, wo
Phobien die Fixsterne sind und Ängste die Sonnenwinde. Jenen, die bereits seit
Ende der 80er Jahre - dem Debüt "Pretty Hate Machine" - dabei sind, mögen ihre
Zweifel haben. Reznor ist sich aber seiner neuen Pfade sicher. Ein wenig bitter
bemerkt er, dass ihm "beim neuen Album die Meinung anderer so egal war wie noch
nie. Früher war ich immer sehr bemüht zu erfahren, wie andere meine Arbeit
beurteilen, wollte immer alle zufrieden stellen. Jetzt bin ich endlich so weit,
vor allem mich happy zu machen. Wenn ich weiß, dass ich mein Bestes gegeben
habe, dann muss das auch gut genug für den Rest der Welt sein!"
Bei der Auswahl der Songs an diesem Abend war er weniger
rigide. Das Geknüppel startet eindrucksvoll mit "Pinion" und einem Medley aus
"The Frail" und "The Wretched", alte Hämmer, die in bewährter Weise etwaig
aufkommende Subtilitäten erbarmungslos plätteten. In Dreiviertelhosen und
Trägerleiberl wütete Reznor sehr sportlich. Zwei Kräfte waren dazu abgestellt,
die in kalkulierter Entrücktheit herumgeworfenen Mikrofonständer betulich neu
aufzustellen. Die Menge war in Sekundenbruchteilen Reznors willige Beute,
begrüßte euphorisch den "ersten Tag der letzten Tage", wie einst ahnungsvoll und
todessehnsüchtig in "Wish" formuliert wurde, als Reznor noch ganz in sich
eingesponnen war. Es folgten das rüde "March of Pigs", das balladeske "Something
I Can Never Have" mit einem Lieblingsthema Reznors: das verstümmelte, nicht
entwicklungsfähige Ich. Ein Topos, der auch auf dem famosen "All the Love in the
World" bemüht wurde, dem Opener des neuen Albums, den er leider nicht zu Gehör
brachte. Er zeigt schließlich auf überraschende Weise die neue Verletzlichkeit,
den Mut zur Innenschau: "Ich hatte immer das Gefühl, zu kurz gekommen, zu naiv
in dieses Leben gestartet zu sein."
Live konzentrierte sich die Goth-Metal-Legende klugerweise
auf jene Bretter, die er seit Dezennien prügelt: "Burn", "Starfuckers Inc." und
zum Schluss das wüste "Head Like a Hole". Mitten drin, die sublimeren neuen
Stücke wie "Line Begins to Blur", "Home" und "You Know What You Are?" Als
einziges neues Stück erinnerte "The Hand That Feeds" an den Furor ferner Tage.
Eines der Highlights war "Hurt", solo am Keyboard dargebracht. Diese berückend
schöne Ballade wurde ja zu einer Art Epitaph Johnny Cashs, was Reznor erst
verdauen musste: "Als ich Cashs Version zum ersten Mal hörte, dachte ich,
irgendetwas stimmt da nicht. Es war ein Gefühl, wie wenn ein Fremder deine
Freundin küsst. Schließlich war ,Hurt' doch mein Lied. Irgendetwas sträubte sich
in mir. Erst als ich das Cash-Video sah, haute es mich um. Da erkannte ich die
Kraft der Musik, die aus etwas kleinem Privaten, etwas Universelles machen kann.
Heute finde ich es o. k., dass sich Cash den Song derart zu eigen gemacht hat,
weil ich weiß, dass jeder in dieser Welt mit dem anderen verbunden ist."
Danach wird der Gig selbstverständlich wieder eine Spur
härter. Songs wie ´Wish' von der "Broken"-EP wechseln sich mit Hits von "The
Downward Spiral" und neuen Brechern wie ´Starfuckers, Inc.' Ab. Reznor singt
überraschend gut, seine Begleitband wirkt eingespielt. Unter normalen Umständen
sicher eines der Konzerthighlights des Jahres, aber man muß einfach feststellen,
dass das Stahlwerk für Konzerte dieser Größenordnung nicht geeignet ist. Reznor
kickt jedoch auf jeden Fall ass (siehe oben)!
Im Vorprogramm geben sich ATARI TEENAGE RIOT mit ihrer
Lärmorgie zwar alle Mühe, doch sind zu viele Tapes im spiel, als dass man die
Show länger als eine Viertelstunde aushält. Und die Berliner Anarchos müssen
ihre CDs für sage und schreibe 50 Mark verkaufen. Eine Auflage des
Headliner-Merchandiser, der als billigstes (!) Baumwoll-Utensil eingelaufene
Girlie-Shirts mit winzigem NIN-Aufdruck für genau diesen Preis feilbietet
(normale Shirts: 70 Mark). So geil hat Reznor dann aber wohl nicht geschwitzt,
der Stand bleibt nach dem Konzert eher leer. Oder hat es einfach nur kaum jemand
gesehen?
Holger Stratmann