Livereview: London, Astoria, 31.03.2005
NINE INCH NAILS
Support: The Dresden Dolls
Man kann sie förmlich riechen, die Spannung, die sich rund
um das altehrwürdige Charing Cross Astoria, unweit der Shoppingmeile Qxford
Street im Herzen von Salm, breit macht. Nach weniger als einer Handvoll
Aufwärmkonzerten an der US-Westküste sollen Nine Inch Nails - vier Wochen vor
der Veröffentlichung von "With Teeth" - ihre Rückkehr auf europäische Bühnen
feiern! Und das keineswegs bei irgendeiner x-bliebigen Massenveranstaltung,
sondern mit zwei Konzerten in einem der schönsten Venues Londons. Weniger als
2000 Menschen finden im Astoria Platz - kein Wunder, dass die Tickets innerhalb
von Minuten ausverkauft waren und - angeblich - Karten für bis zu 600 britische
Pfund (also annähernd 1000 Euro) den Besitzer gewechselt haben sollen. Für einen
großen Abend ist also alles bereit!
Selbst die Vorband: einfach großartig. Am ersten Abend hatten
die zwei Goth-Punk-Cabaret-Verfechter Amanda Palmer und Brian Viglione Berichten
zufolge noch etwas zuviel Respekt vor der Aufgabe (und rund 1600 Fans, die
allesamt nur auf die Nails warteten), doch am zweiten Abend legen die Dolls
einen wahrlich meisterhaften Auftritt hin. Musikalisch minimalistisch
(bekanntlich brauchen Amanda und Brian live wie im Studio nicht mehr als ein
Klavier und ein Schlagzeug), dennoch in ihren Songs mit großen Gesten, reißt an
diesem Abend interessanterweise nicht die unglaublich gut ins Ohr gehende Single
"Coin-Operated Boy" das Publikum zu den größten Beifallsstürmen hin, sonder das
scheinbar doppelt so schnell wie auf der Platte gespielte "Girl Anachronism" als
letzte Nummer des leider nur rund 30-minütigen Sets. Nachdem die zwei auf ihren
Konzerten der letzten Monate alles von David Bowie bis Jacques Brel gecovert
haben, geht's auch in London trotz der Kürze der Zeit nicht ohne Coverversion,
und ob Black Sabbath "War Pigs" diesen Sommer bei ihrer Reunion-Tour genauso
überzeugend bringen werden, muss sich erst noch zeigen! Bewundernswert
jedenfalls die Ernsthaftigkeit und Nachdrücklichkeit, mit der das Duo aus Boston
seine düsteren Miniopern zelebriert - die Intensität von "Half Jack" zum
Beispiel ist an diesem Abend fast schon beängstigend. Aber als Supportact sucht
sich ein Mann wie Trent Reznor eben auch nicht irgendwen aus!
Eine halbe Stunde Umbaupause später ist es endlich so weit,
und noch bevor Reznor und die Seinen auf die Bühne stürmen, geht ein Raunen
durch die vorderen Reihen. Während das Intro vom Band schon läuft, wird nämlich
hektisch noch ein Keyboard in die Bühnenmitte gehievt. "Die ändern die Setlist!'
ruft ein Zuschauer und kann sich vor Begeisterung kaum beherrschen. Und richtig:
Nachdem am ersten Abend noch die neue Nummer "Love Is Not Enough" am Anfang
gestanden hat, geht es dieses Mal mit zwei alten Krachern aus "The Fragile"(
"The Frail" und "The Wretched") los - begleitet von einem Schwall bohrender
Licht-Speere, die ganz ausgezeichnet zu den Songs aus Reznors verquerem 1999er
Epos passen. Beim dritten Song ist er denn schon schweißgebadet und entfacht mit
seiner neuen Band - zu der mit Bassist Jeordie White und Gitarrist Aaron North
zumindest noch zwei Überlebende der ‚Fragility" -Tour gehören - bei "You Know
What You Are" ein lärmendes Inferno, bei dem auch dem Letzten im Rund des
Astoria klar wird, dass Nine Inch Nails mit ihrem neuen Album wieder zu aller
Form zurückgefunden haben. Zum Nachdenken jedoch lässt uns Reznor gar nicht viel
Zeit, denn mit "March Of The Pigs", "Piggy" und "Terrible Lie" geht es Schlag
auf Schlag weiter. Die neuen Songs a la "The Line Begins To Blur" oder das
unverschämt poppige "The Collector" fügen sich fast nahtlos in die alten Heuler
ein, und dass Reznor kaum ein Wort an das Publikum richtet, fällt auch kaum auf:
Wer dunkle Klassiker wie das durch ein Strobo-Gewitter wirkungsvoll in Szene
gesetzte "Closer" hat, muss nun wirklich nicht mehr viele Worte verlieren. Sogar
das selten gespielte "Reptile" wird am zweiten Abend ausgegraben!
Bevor die Band allerdings zum großen Finale ansetzt, stellt
Reznor noch unter Beweis, dass es ihm nicht nur um den Sound, sondern vor allem
auch um die Songs geht. "Even Deeper" ist ein großartiger Song, bei dem sich
Elektronik und Rock ganz ausgezeichnet ergänzen, und über "Hurt" muss man nicht
mehr viel sagen. Die Nummer war schon vor ihrer Adelung durch Johnny Cashs
ergreifende Version Reznors songtechnisches Meisterstück und sorgt nun erst
recht Gänsehautstimmung und atemlose Stille im "intimen" Astoria. Jede andere
Band hätte nach solch magischen Momenten vermutlich die Bühne verlassen, doch
Reznor legt nach: Mit der aktuellen Single "The Hand That Feeds", einem simplen,
aber gerade in der Live-Umgebung äußerst wirkungsvollen, weil eingängigen
Rocksong mit einem herausgebrüllten "Starfuckers" - natürlich - "Head Like A
Hole" ganz zum Schluss. Es gibt keine Zugabe. Doch nicht nur deshalb bewies
Reznor an diesem Abend, dass er etwas Besonderes ist: Trotz seiner Wortkargheit
präsentierte er sich in London als perfekter Frontman einer nach nur fünf
Konzerten erstaunlich gut eingespielten Band, der die in ihm brodelnden
Emotionen perfekt in düstere Töne umzusetzen wusste und damit nicht nur rund
zweitausend Londoner in seinen Bann schlug. Ein wahrlich glorreiches
Comeback!
Carsten Wohlfeld