TRENT REZNOR spricht - wie ein Wasserfall. Über Süchte und
Sehnsüchte, Therapien und Rückfälle, kreative Ursprünge und falsche
Einschätzungen des eigenen Ich und über seinen 40. Geburtstag und die Angst, ein
neuer Mick Jagger zu werden.
VISIONS: Wir wollen aus der nächsten Dreiviertelstunde keine
therapeutische Sitzung machen, aber je mehr man sich mit der Entstehung und
Herkunft des neuen Albums beschäftigt, umso mehr findet man heraus, dass man
über radikale Veränderungen sprechen muss.
Trent Reznor: Das scheint der Fall zu sein, ja.
VISIONS: Nun: Was sollte die Welt erfahren über den
wiedergeborenen Trent Reznor?
Reznor: ‚Wiedergeboren' ist mir ein zu beladenes Wort, es hat
diesen christlichen Glanz.
VISIONS: Wie wäre es dann mit ‚neuerfunden'?
Reznor: Das ist okay. Als diese Interview-Tour begann, habe
ich bereits überlegt, wie ich mit der aktuellen Situation umgehen soll. Ich muss
über mich sprechen, um das Album zu erklären, aber gleichzeitig stellt sich mir
die Frage: Wie viel von deinem Leben willst du in Interviews weggeben?
VISIONS: Angst vor dem öffentlichen Seelenstriptease?
Reznor: Vor allem will ich verhindern, dass ich mein eigenes
Leben als Marketing-Tool missbrauche und die letzten Jahre in ein paar
Schlagworte verpacke. Und doch: Wenn man darüber nachdenkt, worum es auf der
Platte geht, warum ich jetzt hier sitze - so ziemlich jeder Aspekt meines Lebens
wird auf dem Album reflektiert. Wäre ich nicht willens, etwas von mir zu
erzählen, müsste ich mir die ganze Zeit Lügen ausdenken, denn mein Leben und
dieses Album sind sehr eng mit einander verwoben.
VISIONS: Mehr als die Alben davor?
Reznor: Mehr als alle zuvor, ja. Mir ist sehr vieles über
mich klar geworden in der jüngsten Zeit; nicht nur mein aktuelles Leben
betreffend, sondern auch die Vergangenheit. Ich kann jetzt erklären, warum jedes
Album so klang, wie es klang, warum vieles so ätzend lange gedauert hat.
VISIONS: Wo muss man ansetzen, um "With Teeth" zu
verstehen?
Reznor: Wahrscheinlich bei der Zeit der "Downword
Spiral"-Tour. Ich war ein Abhängiger der darauf wartete auszubrechen. Ich wusste
damals nichts über Abhängigkeit. Ich dachte, ein echter Alkoholiker liegt mit
der Nase auf dem Tresen und trinkt seinen letzten Whisky Sekunden vorm Exitus.
Und ich glaubte, all das hat nichts mit mir zu tun. Es dauerte eine verdammt
lange Zeit und unzählige schreckliche Situationen, in denen schon das schlichte
Überleben problematisch schien, um zu erkennen, dass ich aufhören sollte, mich
selber zu belügen. All das ging vor rund zehn Jahren los. Als wir 1997 nach
einer zweieinhalbjährigen Tour aus dem Bus stiegen, blickten wir auf eine
aufregende Zeit. Die ganzen Eindrücke, das öffentliche Interesse - Nine Inch
Nails waren von einer bekannten zu einer verdammt bekannten Band geworden. Und
der Süchtige in mir fand den perfekten Nährboden, um sich breit zu machen. Diese
ganze Hysterie hatte etwas Überwältigendes, und meine Art, damit umzugehen, war,
schlicht und einfach: Selbstmedikation.
VISIONS: Wie nennst du deine Krankheit?
Reznor: Innere Leere. Es war ein äußerst seltsames Gefühl,
das ich mit mir herumtrug. Der Frust, die ausgeschüttete Energie, das viele
Geld, das eine Rolle spielte, die Aufmerksamkeit, die ich bekam - all das führte
zu einem Punkt, an dem ich dachte, diese Aspekte substituieren zu müssen, sie
auf andere Weise auszuleben. Der Tourbus stoppte nach zweieinhalb komplett
durchgedrehten Jahren, ich stieg aus und ging direkt mit Marilyn Manson ins
Studio - was vom Gefühl her das Gleiche ist, wie auf Tour zu sein, nur dass man
nicht so viel rumfährt (lacht). Es war die sprichwörtliche Hölle, aber wir
leisteten trotzdem gute Arbeit. Als das dann vorüber war, dachte ich, ich breche
auseinander.
VISIONS: Was war dein Lieblingsmedikament?
Reznor: Kokain war toll. Alles, was an mir falsch lief, wurde
innerhalb von zehn Minuten repariert. Nur schnell eine Line ziehen, und alle
Probleme sind Lichtjahre entfernt. Ein super Heilmittel. In Sekunden mutierst du
vom Autisten zu einem weltgewandten Socializer, ich war super happy und locker
drauf, ich freute mich über jede Form von Beschäftigung und Unterhaltung.
VISIONS: Ein Trugschluss.
Reznor: Natürlich. Ich begann an "The Fragile" zu arbeiten
und bekam meinen Kram einfach nicht auf die Reihe. Ich gab auf und checkte im
Rehabilitationszentrum ein, ohne irgendjemand Bescheid zu sagen - bis auf meinen
Manager, der mir durch diese beschissene Zeit half. Ich hatte ja keine Ahnung,
worauf ich mich da einließ. Ich dachte: Rehab? Schön! Ein paar Rückenmassagen,
im Lotussitz Entspannungsmusik hören, ein bisschen Füße kneten, zwischendurch
Shoppen.. Ich blieb einen Monat, und gegen Ende begann vieles von dem, was ich
dort erfuhr, Sinn zu machen. Es fühlt sich einfach gut an, etwas an sich zu
ändern, man hat den Eindruck, was Gutes für sich zu tun. Du ziehst dir eine
Menge aus der Kameradschaft zu den anderen komischen Typen, die dort rumhängen
auf der Suche nach dem Ich. Als ich rauskam, war ich sicher: So weit wird es nie
wieder kommen.
VISIONS: Und so fandest du dich in New Orleans wieder als
erneuerter Mensch?
Reznor: Das dachte ich, ja. Bis ich begann, die neu erlernten
Regeln ein wenig auszudehnen. Ich dachte, dass ich anders, stärker bin als diese
Typen, die auf ihren Fischkuttern sitzen und aus Langeweile anfangen zu trinken.
Ich ging also ins Studio, arbeitete mir den Arsch ab, und dabei entstand "The
Fragile".
VISIONS: In der Rückschau meintest du, dass diese Phase die
härteste war. Das überrascht, weil du doch eigentlich über den Berg und wieder
clean warst.
Reznor: Nun ja, clean meint in dem Zusammen hang: Ich war
nicht kontinuierlich am Saufen. Allerdings war es mir damals noch nicht
gelungen, Schnaps und Drogen durch etwas Sinnvolles zu ersetzen. Ich fühlte mich
schlecht, leer, unausgeglichen. Ich war mitten in der Übergangsphase von einem
Typen, der alles besser weiß und smarter ist als der Rest der Welt, hin zu einem
Punkt der Selbstdiagnose und Erkenntnis, dass ich niemals wieder einen Drink
haben kann, wenn ich nicht rückfällig werden will. So vieles, was ich geworden
war, war erst durch diesen Lebensstil definiert worden. Und so war ich sehr
schnell wieder an dem Punkt, wo ich auf wachte und mich als erstes fragte: Wo
ist der Drink? Ich habe mich selbst bei vollem Bewusst sein beschissen. Es ist
immer wieder dasselbe, die Krankheit zieht sich nur ein anderes hübsches Kleid
an, um dich zu täuschen. Das ist sachlich nicht zu erklären. Zumal es gegen
alles geht, über das ich mich immer definieren und was ich gern für mich in
Anspruch nehmen wollte: Rationalität, Intelligenz, Aufgewecktheit, Spritzigkeit.
Es war ein Kreislauf der Selbstverleugnung.
VISIONS: Wie kam es zu dem erneuten schleichenden
Abstieg?
Reznor: Nun, "The Fragile" war fertig und stieg auf Platz
eins in den Charts. Ich hatte nach dieser langen Phase des Entzugs eine ganze
Weile ohne Drogen und Alkohol durchgehalten und dachte, ich sei kuriert. Und ich
dachte: Na, wenn du schon wieder sauber bist, kannst du dir zur Belohnung mal
einen Drink gönnen. Es war nur einer, und er schmeckte so verdammt hervorragend.
Ich überprüfte mich in den nächsten Tagen, ging mit Freunden aus, trank nur
Wasser, und dachte: Du hast es geschafft. Wenn du willst, kannst du einen Drink
haben, aber du musst nicht. Also gönnte ich mir an eine Woche später mal zwei
Drinks. Immer noch alles cool, ich fühlte mich gut, keine Probleme. Wieder eine
Woche später ging ich aus und dachte: Na, einmal kannst du es doch auch mal
krachen lassen. Ich hatte etwa 30 Drinks an dem Abend. Exakt zu dieser Zeit
begann die einjährige "Fragile"Tour.
VISIONS: Ups.
Reznor: Genau. Die Idee, die Sucht kontrollieren zu können,
war schlicht falsch. Als die Tour startete, war ich bereits wieder auf meiner
täglichen Alkoholration. Den ersten Drink hatte ich schon vor dem Frühstück,
weil ich mich sonst mies fühlte. Eine halbe Stunde vor jeder Show bekam ich
Panikattacken und musste mich übergeben, was ich dann mit noch mehr Alkohol und
Drogen bekämpfte. In den lichten Momenten sagte ich mir immer wieder: Hör auf,
hör verdammt noch mal auf! Was aber mitten auf Tour absolut unmöglich ist. Ich
wollte abbrechen, wusste aber, dass mich das ein paar Millionen Dollar kosten
würde. Als die Tour vorbei war, war auch der letzte Rest Selbstachtung
verschwunden. Alles war weg, alles. Ich hasste mich selbst von ganz tief unten.
Ich schaute in den Spiegel, betrachtete die lädierten Zähne, die graue Hautfarbe
und hatte nicht die winzigste Erklärung, warum ich in diese Katastrophe geraten
war. Es folgte eine intensive Phase des Selbstmitleids.
VISIONS: Was wohl sehr typisch ist für dieses Stadium.
Reznor: Der gesamte Verlauf war typisch. Die Tour war also
vorüber, ich kam wieder in New Orleans an und hatte absolut keinen Plan außer
dem, einfach rumzuliegen und weiter zu leben. Ich fühlte mich wie in einem David
Cronenberg Film.
VISIONS: Gab es einen konkreten Anlass, deine Situation zu
überdenken?
Reznor: Ja, Rodney.
VISIONS: Dein Studio-Good Guy, das Mädchen für alles...
Reznor: Eine Seele von Mensch, einer der hervorragendsten
Charaktere, die ich je kennen lernen durfte. Ein echtes Produkt der Projects
(das farbige Armen-Ghetto von New Orleans - Anm. d. Verf). Ich vertraute diesem
Typen mehr als jedem anderen; er passte auf Haus und Hunde auf, wenn ich
unterwegs war, er kümmerte sich um mich, wenn ich daheim war. Es war ein
gegenseitiges Geben und Nehmen: Er half mir in meiner psychischen
Desorientierung, ich half ihm aus seinem Project-Elend. Doch dann wurde er
umgebracht.
VISIONS: Wie erfuhrst du davon?
Reznor: Seine Mutter rief an und weinte. Ich schaltete den
lokalen News-Sender an, sah die Einsatzwagen und Notärzte, eine abgedeckte
Leiche, seinen Truck mit Einschusslöchern im Fenster... Man hatte ihm und seinem
Cousin direkt ins Gesicht geschossen. Ein weiterer dieser sinnlosen,
unerklärlichen Momente, die sich aus Armut, falschen Freunden und üblen
Verpflichtungen ergeben. In dieser sehr drastischen und unwirklichen Situation
wusste ich instinktiv: Das ist der Tiefpunkt. Ich bin noch nicht mal zu seiner
Beerdigung erschienen. Ich hätte das nicht ausgehalten. Doch irgendwie wusste
ich, dass ich etwas an mir ändern muss - wenn schon nicht für mich, dann für
ihn, um dem plötzlichen und endgültigen Verschwinden dieser Person irgendeinen
Sinn zu geben. Ansonsten wäre ich ihm in ein paar Monaten gefolgt.
VISIONS: Wie bist du das angegangen?
Reznor: Ich verbrachte zunächst eine hochgradig unangenehme
Woche in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt und wurde mit heftigen
Psychopharmaka ruhig gestellt - eine Erfahrung, die ich beim besten Willen nicht
empfehlen kann. Es ist schwer, sich selbst überzeugend zu finden, wenn man
dermaßen lethargisch und gleichgültig gespritzt wird, dass man sich selbst im
Bett bepisst. Doch wenn du dermaßen an die Substanz deiner eigenen Existenz
gehst, findest du Menschlichkeit. Nach dieser ersten Phase der
Entgiftung...
VISIONS: ...ging es dir sicher nicht besser.
Reznor: Nein, aber von dort ging ich direkt in ein Heim für
betreutes Wohnen und nahm für einen Zeitraum von sechs Wochen täglich an
mehreren Einzel- und Gruppen-Therapien teil. Vieles war nicht neu: Ich kannte
die ganzen Gespräche und Erkenntnisse bereits. Und doch war es dieses Mal
anders, denn ich bewies bis zum Schatten des letzten Zweifels, dass ich es
wollte. Das ist das Niederträchtige an der Suchtkrankheit: Du kannst dir hundert
Fragen zu deinem Suchtverhalten stellen und 99 davon mit ja' beantworten - und
doch wird dich das eine ‚Nein' wieder in den Strudel ziehen. Dieses Mal wollte
ich zu allem Ja sagen, ohne Kompromisse. Das Happy End dieser Geschichte: Ich
war dermaßen krank und ich war es so satt, mich in diesem Zustand zu befinden,
dass ich bereit war zu sagen: Okay, was immer man mir erzählt, das ich tun soll,
ich tu es.
VISIONS: Und was geschah?
Reznor: Innerhalb kürzester Zeit passierten eine Menge
überwältigender Dinge. Die profansten alltäglichen Situationen stellten sich in
einem neuen, aufwärtsstrebenden Licht dar. Das klingt nach einem schrecklichen
Klischee, aber ganz plötzlich schien alles mehr oder weniger okay zu sein,
zumindest konnte ich damit umgehen. Am Ende ist das Geheimnis ganz einfach: Mir
gelang es, diese Person in mir ziehen zu lassen, die die falschen Sehnsüchte in
sich trug und von der ich dachte, sie sei ich. Seitdem ist wirklich alles gut
gelaufen, ich fühle mich wohl in meiner Haut.
VISIONS: Auch unter Druck und in Stresssituationen?
Reznor: Ja, absolut, denn auf die kommt es an. Gerade in den
letzten Monaten hatte ich einige solcher Situationen zu bewältigen. Nimm nur das
kürzlich wieder begonnene Live-Spielen, eine enorme Drucksituation: die
Panikattacken, das Schlechtfühlen, das Übergeben - alles weg.
VISIONS: Was ist die wichtigste Erkenntnis, die du bei all
den Sitzungen gelernt hast?
Reznor: Dass ich mich seit dem Moment meines ersten
Plattenvertrags viel zu wenig um die Bedürfnisse und Sehnsüchte meines innersten
Wesens gekümmert habe. Das ging so weit, dass ich sogar mehrfach in meinem Leben
vergessen habe, warum ich Musik so sehr liebe. Musik war ein Aspekt meiner
Karriere geworden, sie war belegt mit Druck, Erwartungen, Ansprüchen,
Konkurrenzgedanken - eigenen und fremden. Ein Riesenhaufen Scheiße, der nichts
damit zu tun hat, warum ich all das vor fast 20 Jahren begonnen habe. Doch dann
stellte ich mir die entscheidende Frage: Bist du wieder bereit für die Musik?
Hast du etwas zu sagen?
VISIONS: Und die Antwort?
Reznor: Ich habe lange nach ihr gesucht - mehr als zwei
Jahre. Ich habe mir erst einmal Zeit gegönnt, mich an mein neues Ich zu
gewöhnen, mich wieder mit intelligenten Dingen auseinander zu setzen. Zu Beginn
des letzten Jahres habe ich mich dann wieder ins Studio gesetzt. Und dann kamen
die Ideen. Und damit auch die Antworten.
VISIONS: Was war anders unter künstlerischen Aspekten?
Reznor: Interessanterweise gar nicht so viel, wie man
vermuten würde. Ich fand heraus, dass der Rausch mir wohl für vieles diente,
aber sicher nicht für eine bessere Inspiration oder mehr Kreativität. Denn die
Arbeitsweise, die Ideen, die mir kamen, das Vorankommen, alles fühlte sich
ähnlich, nur eben viel direkter an. Die Drogen hatten mir über all die Jahre nur
geholfen, mich selber nicht so scheiße zu fühlen und meine Persönlichkeit aus
dem Minus-Bereich wenigstens auf ein Null-Level zu heben. Und plötzlich war ich
ohne all das im positiven Bereich. Das ist wohl der größte Unterschied. Es war
ein großartiges Gefühl, clean zu werden, sich endlich wie ein Erwachsener zu
benehmen, anstelle eines desorientierten Idioten, der einfach nicht kapieren
will, was so geht.
VISIONS: Gibt es auch etwas Gutes an dieser langen Zeit des
Absturzes?
Reznor: Es mag abgeschmackt klingen, aber als ich in all den
Sitzungen die Geschichten der anderen hörte, die verheiratet waren und Familien
hatten, war ich froh. Diese Leute haben nicht nur viele Jahre damit zugebracht,
sich selber zugrunde zu richten, sie haben auch noch andere Leben zerstört,
manchmal sogar ihre Kinder. In diesen Momenten dachte ich: Ich bin 37 und ich
habe mich immer dafür bedauert, dass ich keine Frau, keine Familie habe, dass
ich immer alles mit mir alleine ausmachen muss. Doch am Ende war es pures Glück,
dass ich all das noch nicht habe. Denn nun muss ich mich nicht schlecht dafür
fühlen, das Leben eines anderen Menschen zerstört zu haben.
VISIONS: Eine Beziehung, die fast 20 Jahre hielt, endete, als
du gesund wurdest: die zu deinem Manager John Malm Jr. Gibt es da einen
Zusammenhang?
Reznor: Natürlich. Seitdem ich clean bin, haben wir uns kaum
gesehen. Er war über fast zwei Jahrzehnte meine engste Bezugsperson, enger als
meine Familie. Doch offenbar geht nicht nur der Abhängige durch eine
Transformation, sondern auch sein Umfeld. Ich möchte zwar nicht behaupten, dass
irgendjemand im Umfeld eines Süchtigen traurig darüber ist, wenn derjenige clean
wird. Aber ich glaube doch, dass dominante Persönlichkeiten ein Problem damit
haben, wenn jemand, den sie als eine charakterliche Schleimblase kennen,
plötzlich ein Gehirn, eine Meinung und eine Präsenz hat. Dieser Typ stand an
meiner Seite in ungezählten üblen Situationen, er war mein bester Freund. Und
dann plötzlich ändere ich mich, und die Freundschaft fühlt sich schal an, weil
er nicht das Gute und Richtige in meiner Veränderung sehen kann. Was nur wie der
beweist, wie sehr dich die Drogen, der Alkohol, dieser ganze Rauschzustand
verändern: Du hältst eine Beziehung für die wichtigste deines Lebens, doch dann
sich in Luft auflöst, sobald sie mit der Realität konfrontiert wird.
VISIONS: Wie sah die Realität aus?
Reznor: Als ich mich erstmals wirklich für meine
geschäftlichen Belange interessierte, entstand das große Fragezeichen, wo
eigentlich das ganze Geld hin ist. Es gab nie einen Plan für die Zukunft, es gab
keine Strategie, stattdessen viele dubiose Geschäftsverwicklungen. Damit begann
die Entzweiung. ‚Nothing' wurde geschlossen, die Verträge annulliert, er wollte
nicht, dass ich New Orleans verlasse. So schmerzhaft das war, muss ich sagen,
dass ich glücklich bin, dass ich all diese überfälligen Entscheidungen endlich
getroffen habe.
VISIONS: Zurück zu "With Teeth': Das Album klingt perfekt
nach Nine Inch Nails und doch ziemlich anders - reduzierter, viel poppiger, von
den Sounds her fokussierter und allgemein deutlich pointierter. Wie liefen die
Aufnahmen im Vergleich zu "The Fragile'?
Reznor: Nun, was zunächst ähnlich war, war die Angst, dass
mir nichts einfällt. Ich saß vor diesem weißen Blatt Papier, das sich nicht
füllen wollte. Aber ich hielt das diesmal aus. Ich ließ mir Zeit. Irgendwann
habe ich mich gezwungen. Wäre gar nichts gekommen, wäre das sicher eine große
Enttäuschung gewesen, aber ich war über den Punkt hinaus, wo ich mich deswegen
aus dem Fenster gestürzt hätte. Also ging ich in L.A. ins Studio und stellte
mein Songwriting komplett auf den Kopf: Ich begann mit den Worten. Und so kam es
zusammen. Ich hatte Worte, setzte mich ans Piano, fand eine Melodie. Kein
Sound-Design, keine Improvisation, kein zielloses Rumfummeln.
VISIONS: Und so entstand das, was du selber als "13 starke
Songs" bezeichnest, die Freunde mit einander sind, aber jeder für sich
stehen?
Reznor: Ja. Denn es ging wirklich um den einzelnen Song als
solchen. Seit meinem Debüt waren die Prozesse Songwriting, Arrangement und
Produktion immer ein und dasselbe. Diesmal habe ich das vorsätzlich voneinander
getrennt. Und ich wollte Demos machen - also Sachen, die ich halbfertig mache,
weglege, und zu denen ich später zurückkomme, um sie richtig aufzunehmen, wenn
sie sich als stark genug erweisen. Nicht wie auf den Alben davor, als ich
versuchte, um einen coolen Sound herum einen Song zu kreieren. Und es
funktionierte. Es ist ein anderes Nine Inch Nails-Outfit als zuvor, aber es ist
dennoch vollkommen Nine Inch Nials. Und: Ich fühlte mich mit dem Entstandenen
sicherer und zufriedener als je zuvor. Ein guter Zustand.
VISIONS: Was bedeutet Sicherheit für dich in diesem
Zusammenhang?
Reznor: Ich denke, mir ist jetzt erst klar geworden, wieviel
Angst mich regiert hat. Immer. "Th Fraile" hätte ich ehrlicherweise "Die Fear"
nennen sollen. Ich war in einem durchgehenden Stadium absoluter Panik. Selbst
bei "Downward Spiral" - dem ich immer behauptet habe, dass es in meinem Kopf
als Konzept bereits fix und fertig war - habe ich ständig darüber nachgedacht,
was die Leute darüber denken werden. Als ich an "With Teeth" gearbeitet habe,
habe ich bemerkt, dass sich die für mich verstöhrendste und zugleich kreativ
gesehen chancenreichste Musik in Songs findet, die für den Außenstehenden
konventionell klingen werden: ‚All TEe Love In Die World", "Right Where lt
Belongs", "Love Is Not Enough", doch vor allem "The Hand That Feeds": Denn sie
wirken catchy, zugänglich und offensichtlich. Sie klingen nicht vorsätzlich
tough, sie sind das Gegenteil von achtminütigen Kunst-Epen, sie sind keine
Tool-Songs, die niemand außer den Künstlern selbst versteht. Daran ist ja nichts
Falsches, ich habe so etwas auch schon gemacht. Aber als ich an dieser Musik
arbeitete, an diesen standardisierten Song-Strukturen mit simplen Riffs, stellte
ich fest: Verdammt, du magst das ja!
VISIONS: Nun gibt es Stimmen, die dir deswegen Vorwürfe
machen. Deine Anhänger haben Angst, dich an den Mainstream zu verlieren.
Reznor: Für mich war der zentrale Punkt beim Musikmachen
immer: Versuche mit allem, was dir zur Verfügung steht, die ehrlichste,
persönlichste Musik zu machen, die dir möglich ist. Skizziere dem Hörer über
deine Musik, wer du bist, wie du dich in der jeweiligen Situation fühlst. Ich
glaube einfach daran, dass das der ein zige Weg ist, über die Kunst deine
Wahrheit zu erzählen, eine Wahrheit, die Sinn und Integrität besitzt. Ich kann
auf alles zurückblicken und ehrlich sagen, dass ich das immer getan habe. Aber
Pakt ist nun mal, dass ich heute nicht mehr viel mit dem Typen zu tun habe, der
die Alben davor gemacht hat. Das bedeutet nicht, dass ich nur noch über
Glückseligkeit, Teddybären und Sonnenschein singen muss. Aber es war eben sehr
interessant festzustellen, dass ich die Fähigkeit habe, mit Klarheit im Studio
Elemente und Ideen zu bearbeiten, die ich zuvor niemals zu meiner Vorstellung
von Kunst gezählt hätte.
VISIONS: Der ‚Dark Prince' war also Selbstbetrug?
Reznor: Zumindest kann man sagen, dass die Depressionen, die
ich über mein gesamtes Leben hatte, kein elementarer Teil meiner Persönlichkeit
sind. Sie waren manchmal inspirierend, sie haben mich auf kuriose Ideen
gebracht, aber sie waren nichts, was zwingend zu mir gehört. Der Flirt mit der
Dunkelheit macht noch immer Spaß, und auch jetzt noch fühle ich Wut,
Niedergeschlagenheit, Traurigkeit. Aber inzwischen macht es mir eben auch Spaß,
einfach auszuprobieren, was entsteht, wenn ich glücklich und ausgeglichen bin.
Es ist nun mal nichts Romantisches daran, sich in einem derart schwarzen Loch zu
befinden, dass du tagelang nicht mehr aufstehen kannst. Das ist nicht sexy,
überhaupt nicht. Alles, was ich also tun kann, ist, ehrlich zu mir selbst zu
sein. Was andere von dem Ergebnis halten, muss mir egal sein. Ich bin nicht
bereit, wie der an einen Ort zurückzukehren, an dem ich nicht mehr existiere,
nur damit pathologische Goth-Fans und andere Freaks zufrieden sind. Das hielte
ich für die deutlich größere Sünde. Die letzten zehn Jahre waren Sünde genug,
wenn ich überlege, wie ich mit mir umgegangen bin. Ich erinnere mich gut daran,
wie ich 28 war. Jetzt bin ich 39. Doch wo ist die Zeit dazwischen?
VISIONS: Wenn wir schon beim Alter sind: Wie fühlst du dich
angesichts deines anstehenden Geburtstags? Hast du Angst davor, 40 zu werden?
Reznor: Eine Sache, die du in der Therapie lernst, ist, dass
dein erlebtes Alter in dem Moment stoppt, in dem du ernsthaft abhängig wirst. So
gesehen fühle ich mich wie 28. (lacht) Nein, im Ernst: Was soll ich machen?
Natürlich habe ich keine Lust, 40 zu werden. Aber alles, was ich tun kann, ist:
ehrlich mir selbst gegenüber sein. Wenn ich zum ersten Mal einen Kommentar höre,
wie man ihn immer wieder über Mick Jagger hört - "Für sein Alter sieht er aber
echt noch gut aus" - dann ist es Zeit, meine Rolle zu über denken und vielleicht
nur noch akustische Konzerte mit Bestuhlung zu spielen. Im Moment fühle ich mich
aber extrem vital. Es gibt keine Unsicherheit oder Angst, einer Tour nicht
gewachsen zu sein. Wir werden sehen, wie es läuft.
Sascha Krüger